Eine Nachtwanderung. Die Konfirmanden sind in Grüppchen losgezogen, zehn Minuten Abstand, der Weg ist markiert. Eine Gruppe hat die Orientierung verloren. Keine Teamer mehr, die aus den Büschen brechen, um sie zu erschrecken. Nirgends ein Stoffstreifen. Keine Lichtung, keine Hütte in Sicht. Ein Mädchen beginnt zu weinen. Sie ist umgeknickt, ihr Fußgelenk schmerzt. Die anderen nehmen sie in die Mitte, untergehakt gehen sie weiter. Eine fängt an zu singen. Die anderen stimmen ein. Bless the Lord, my soul. Hundertmal gesungen abends in der Jugendherberge. And bless Gods holy name. Bless the Lord, my soul, who leads you into life.
Eine andere Nacht. Zwei Männer im Innentrakt eines Gefängnisses in der Hafenstadt Philippi. Paulus und Silas. Sie sind als Aufrührer angeklagt. Man hat sie mit Stöcken geschlagen und inhaftiert. Zur Sicherheit hat man ihre Füße in einen Block eingeschlossen. Kein Gedanke an Schlaf. Die Männer beten. Aus dem Gebet wird Gesang, verzweifelt, trotzig, beschwörend. Lobe den Herrn, meine Seele, und seinen heiligen Namen. Lobe den Herrn, meine Seele, der dein Leben vom Verderben erlöst! Es ist Mitternacht. Der Gesang dringt durch die Wände der Zelle, an die Ohren der anderen Gefangenen. Lobe den Herrn! Unsere Körper könnt ihr quälen, einsperren, mit dem Tod bedrohen. Unsere Seelen nicht.
Wir singen in Grenzsituationen. „Der Mond ist aufgegangen“ erklang von Balkonen und Fenstern, weil die Kirchen in Corona-Zeiten geschlossen blieben. Schauspieler singen im Innenhof des Wohnstifts, die Zuhörenden sind sämtlich in Quarantäne. Wir singen am Bett unserer Kinder. Singen gibt Geborgenheit, hilft, sich dem Schlaf anzuvertrauen, die Mutter aus dem Zimmer gehen zu lassen. Ein anderer wacht über mir, dem die Mutter auch vertraut. Ich singe am Krankenbett einer Freundin, weil ich keine Worte habe, die richtig wären, und weil Worte sie jetzt ohnehin nicht erreichen. Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren. Ich drücke ihre Hand, lege all das Gute, das wir zusammen erlebt haben, in das Lied - und meine unsinnige Hoffnung. Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet!
Während Paulus und Silas singen mitten in der Nacht, fängt die Erde an zu beben. Die Mauern wanken. Die Zellentüren springen auf, Ketten und Fesseln fallen von den Gefangenen ab. Der Aufseher wird wach, meint, die Gefangenen sind entkommen und man wird ihn verantwortlich machen. Tu dir nichts an, ruft Paulus. Wir sind alle noch hier! Der Aufseher lässt sich Licht geben, stürzt in die Zelle, fällt Paulus und Silas zu Füßen. Dann macht er sie los, versorgt ihre Wunden, nimmt sie mit in seine Wohnung. Ihm ist wirklich ein Licht aufgegangen, er spürt: Hier ist Gott am Werk. Was muss ich tun, um gerettet zu werden? – Glaube an Jesus, antwortet Paulus, vertrau ihm dein Leben an. Am Morgen bringen die Gerichtsdiener gute Nachrichten: Die Gefangenen sind frei.
Wunderbar wäre es, wenn sich jedes Leid so auflösen ließe. Wenn Gott auch auf mein Beten, mein Singen hin ein Erdbeben schicken würde, das Türen öffnet, Fesseln löst, Kummer und Schmerzen vertreibt. Aber so ist es nicht. Der Glaube bewahrt uns nicht davor, an unsere Grenzen zu kommen. Das Volk Israel erfährt das auf der Wanderung durch die Wüste. Jona im Bauch des Wals. Saulus vor Damaskus. Sie sind am Ende mit ihrer Weisheit und ihrer Kraft. Aber gerade da, am Ende, ist Gott und fängt etwas Neues mit ihnen an. Und dann das Schicksal Jesu. Er ist den ganzen Menschenweg gegangen, hat auch die letzte, unverrückbare Grenze überschritten und ist gestorben. Seine Freunde haben ihn verloren gegeben. Aber Gott hat ihn nicht losgelassen. Er hat ihn als ersten von uns allen zum Leben auferweckt.
Bless the Lord, my soul, haben die Konfirmandinnen auf der Nachtwanderung gesungen. Lobe den Herrn, meine Seele. Er führt mich ins Leben. Eine ganze Weile sind sie im Dunkeln getappt. Dann haben die anderen sie gefunden und zur Hütte geführt. Da war es hell und warm.
Gott wird uns, wenn wir an unsere Grenzen kommen, finden und uns wieder ins Leben führen! Herzlich grüßt Ihre Pastorin
Charlotte Scheller