Predigtgedanken zum Lesen und Hören

Herzensanliegen - Predigt am Sonntag Rogate, 14. Mai 2023, von Jeruscha Ziebart

Jeruscha Ziebart studiert evangelische Theologie in Göttingen. Ihre Predigt hat sie im Rahmen eines Predigtlehre-Hauptseminars mit Dozentin Birgit Mattausch erarbeitet.

Zuerst und vor allem bitte ich euch, im Gebet für alle Menschen einzutreten: Bringt eure Wünsche, Fürbitten und euren Dank für sie vor Gott. Betet auch für die Könige und alle übrigen Machthaber. Denn wir wollen ein ruhiges und stilles Leben führen –in ungehinderter Ausübung unseres Glaubens und in Würde. So ist es recht und gefällt Gott, unserem Retter. 
Aus 1. Timotheus 2
 
Stoßgebet
Letztens saß ich im Zug. Zwanzig Minuten Verspätung und ich wurde immer nervöser. Schaffe ich meinen Anschlusszug noch? Spät abends in Hannover stranden und nicht wegkommen. Darauf hatte ich keine Lust. Mittlerweile waren wir noch ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt und in zwei Minuten fuhr mein Anschlusszug. Ich sprach ein Stoßgebet. „Gott, lass diesen Zug bitte auf mich warten. Ich habe keine Lust jetzt noch eine Stunde in Hannover zu stehen. Es wäre wirklich toll, wenn du mir jetzt helfen könntest!“ Fünf Minuten später saß ich im nächsten Zug. Er hat auf mich gewartet. Gott sei Dank.
 
Gebete
Liebe Gemeinde, vorhin haben wir eine Bibelstelle aus dem 1. Timotheusbrief gehört. Darin ging es ums Gebet. Die Gemeinde, an die sich der Brief richtet, ist mit Irrlehrern konfrontiert. In dieser Situation richtet sich der Briefschreiber an sie und ermahnt zum Gebet. Er sagt: „Das Erste und Wichtigste ist das Gebet für alle Menschen.“
Dabei nennt er vier Begriffe für das Gebet. Die Bitte, das Gebet, die Fürbitte und der Dank. Diese Begriffe zeigen nicht nur, wie vielfältig Gebet ist. Sie werden genannt, damit sich die Gemeinde beim Beten an diesen Begriffen orientieren kann. Sie sollen in vielfältiger Weise alle Menschen ins Gebet miteinschließen. Neben ihren eigenen Anliegen sollen sie besonders die Welt und ihre Mitmenschen mit ihrer Not und ihren Bedürfnissen im Blick haben.
 
Bitte
Der erste Begriff, der fürs Gebet benutzt wird, ist die Bitte. Bitten ist wahrscheinlich die häufigste Form des Gebets, mit der wir alle vertraut sind. Wünsche aussprechen, Bedürfnisse kommunizieren und Herzensanliegen vor Gott bringen. Wir kommen vor ihn und bitten um seine Hilfe, seine Führung und seinen Segen in unserem eigenen Leben. Das zeigt ein tiefes Vertrauen in Gott. Mit jeder Bitte geben wir preis, was wir uns ersehnen. Wir geben zu, was uns im Leben fehlt und was wir brauchen. Und Gott ist der, der uns genau das geben kann. Wir gestehen uns ein, dass wir von Gottes Güte abhängig sind. Wir vertrauen darauf, dass er uns versorgt. Jeder und jede darf sagen, was ihn oder sie gerade beschäftigt. Ich mache das gerne morgens, wenn ich über meinen Tagesablauf nachdenke. Auf dem Weg zur Arbeit spreche ich dann kurz das aus, was so anliegt, und sage so etwas wie: „Lieber Vater, du kennst meinen Tag und du weißt, was heute auf mich zukommt. Ich bitte dich, dass du mich begleitest und führst. Ich bitte dich, dass du mir heute gute Begegnungen schenkst und deine segnende Hand über mich hältst. Amen“. Dieses Gebet hört sich jeden Tag anders an. Wenn ich eine Prüfung habe, bitte ich, dass alles glatt läuft. Wenn ich irgendwo hinfahre, bitte ich um Gottes Schutz auf dem Weg. Wenn nichts Besonderes passiert, kann ich Gott einfach darum bitten, dass er an meiner Seite ist. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass es mir gar nicht so sehr darauf ankommt, dass alles, was ich bitte, auch geschieht. Schließlich ist Gott kein Flaschengeist, der mir alle Wünsche erfüllen muss. Wenn ich Gott um etwas bitte, geht es mir vor allem darum, dass er mich hört. Ich weiß, dass er mich sieht und dass ich mich darauf verlassen kann, dass er da ist. Schon das Gebet allein hilft mir, mit der Situation besser klarzukommen.
 
Gebet
Der zweite Begriff ist das Gebet. In der Vorbereitung der Predigt bin ich über diese Formulierung etwas gestolpert. Ich habe mich gefragt, ob das nicht alles Gebet ist, was im Timotheusbrief aufgezählt wird. Dann habe ich nachgedacht. Wann und wie bete ich eigentlich im Alltag? Und mir ist aufgefallen: Die wenigsten meiner Gebete sind wirklich ausformulierte gesprochene Sätze. Bitte, Dank und Fürbitte sind definitiv Gebete, aber Gebet sieht bei mir eben oft auch ganz anders aus. Manchmal sitze ich einfach nur auf einer Parkbank und höre Vögel zwitschern. Ein anderes Mal schenke ich einem Kind ein Lächeln. Auch ein Lachanfall oder ein verzweifeltes Seufzen ist für mich manchmal ein Gebet. Gebete sind nicht nur Worte. Manchmal sind es Gedanken, Gespräche mit anderen Menschen oder Gefühle. Gebet bedeutet: Ich richte meinen Fokus auf Gott, ich spüre und weiß, dass er da ist. Und ich möchte, dass Gott ein Teil meines Alltags ist. Im Neuen Testament wird dieser Begriff oft benutzt, ohne dass genau gesagt wird, was genau gebetet wird. Es geht hier also wirklich darum, mit Gott ins Gespräch zu kommen. Gewissermaßen geht es darum, die Beziehung zu Gott durch Gebet zu vertiefen. Wie mit einem Freund zu quatschen und Gedanken zu teilen.
 
Fürbitten
Dann kommen die Fürbitten. Beten für andere Menschen. Ihre Bedürfnisse, ihre Sorgen und Anliegen bringe ich vor Gott. Ich bitte um seine Fürsorge und Hilfe in ihrem Leben. Ich tue das, weil ich sie liebe und mit ihnen mitfühle. Weil sie Unterstützung brauchen. Und weil sie selbst vielleicht nicht für sich beten können oder nicht wollen. Oder weil sie nicht wissen, wie das geht.
Ich trete für andere vor Gott ein. Und werde so zu einer Vermittlerin.
Fürbitten sind eine kraftvolle Möglichkeit, andere zu segnen und ihnen Hoffnung, Heilung und Trost zu geben.
Als ich noch nicht in Göttingen studiert habe, war ich als Mitarbeiterin in der Jugendarbeit aktiv. Jeden Freitag hatten wir einen kleinen Jugendgottesdienst. Nach dem offiziellen Teil war noch Zeit zum Austausch, Spielen und Quatschen. Ein junges Mädchen kam dann oft zu mir und erzählte mir von ihrer Woche. Am Ende habe ich jedes Mal für sie gebetet. Für die Situation, in der sie gerade war, für die neue Woche, die auf sie zukam, und oft auch für sehr konkrete Dinge. Sie hat sich ein paar Jahre später bei mir gemeldet und mir gesagt, wie gut es ihr getan hat, dass jemand für sie gebetet hat. Sie selbst konnte es in der Zeit nicht. Und auch wenn nicht alles passiert ist, wofür ich gebetet habe. Es war gut, es vor Gott auszusprechen. Aber auch für mich waren diese Momente sehr besonders und kraftvoll. Ich konnte mich ganz auf mein Gegenüber einlassen. Und auch wenn ich nicht wusste, was ich sagen soll, war Gott da. Wir konnten gemeinsam abgeben, was bei Gott gut aufgehoben ist.
Gerade bei den Fürbitten haben wir die Möglichkeit, für alle Menschen zu beten. Nicht nur unsere Freunde und Familien in den Blick zu nehmen, sondern alle Menschen auf der Welt. Dazu gehört auch unsere Regierung und diejenigen, die an Machtpositionen stehen.
Wenn wir für jemanden beten wollen, dann doch für diejenigen, die ganze Länder regieren und leiten. Gerade für die Politiker und Politikerinnen unseres Landes sollen wir beten. Sie treffen tagtäglich Entscheidungen, die das Leben von Millionen Menschen verändern können.
 
Dank
Als letztes fordert der Brief dazu auf, Dank zu sagen. Gott für alles zu danken, was er in unserem Leben tut. Dank an Gott ist gleichzeitig die Anerkennung seiner Güte, seiner Gnade und seiner Treue. Selbst in schwierigen Zeiten finde ich Gründe, für die ich Gott dankbar sein kann. Gott ist bei mir und lässt mich mit meiner Situation nicht allein. Wenn ich Gott danke, richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Schöne. Ich sehe darin Gottes Großzügigkeit. Wenn ich danke, erinnere ich mich daran, wie viel Gott mir schenkt. Ab und zu gibt es Tage in meinem Leben, da fällt es mir schwer, etwas zum Danken zu finden. Aber auch dann kann ich mich daran erinnern, dass ich mein Leben allein Gott verdanke und dass er einen Plan für mich und mein Leben hat.

Wozu Gebet?
Bitte, Gebet, Fürbitte und Dank. An diesen vier Begriffen sollen wir uns beim Beten langhangeln. Jetzt bleibt nur noch zu fragen: Wozu das ganze? Warum ist Gebet so wichtig? Auch darauf hat der Text eine klare Antwort.
„Betet für alle Menschen, denn so ist es recht und gefällt Gott unserem Retter.“ Gott liebt es, wenn wir zu ihm kommen und mit ihm reden. Er freut sich, wenn wir dabei auch noch unsere Mitmenschen im Blick haben. Ihm sind alle Menschen wichtig.
„Er will ja, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn nur einer ist Gott und nur einer der Vermittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus. Der hat sich selbst hingegeben als Lösegeld für alle Menschen.“
 
Der letzte, und ich würde sogar behaupten, der wichtigste Grund für das Gebet ist Jesus Christus selbst. Er hat die ganze Menschheit erlöst. Durch seinen Tod und seine Auferstehung sind wir gerettet. Mein Gebet ist ein Zeugnis davon. Es zeigt, dass ich daran glaube und darauf vertraue, dass diese Erlösung nicht nur für mich geschehen ist. Wenn ich etwas richtig Tolles erlebt habe, kann ich es nicht für mich behalten. Ich muss es einfach möglichst vielen Menschen erzählen und wünsche ihnen sehr, dass sie das auch erleben können. So ist es auch mit meinem Glauben. Vielleicht nutze ich meine nächste Zugfahrt weniger dazu, mich über die Deutsche Bahn aufzuregen. Vielleicht bete ich lieber. Nicht nur dafür, dass ich meinen nächsten Zug bekomme. In meinem Gebet möchte ich meine Mitmenschen im Blick haben. Ich möchte nach rechts und links schauen, auf die, die neben mir sitzen und vor mir. Auch ihnen wünsche ich, dass sie Gott erleben und spüren dürfen. Ich bete dafür, dass sie daran glauben können, dass Jesus Christus uns erlöst hat, damit wir gerettet werden. Amen!

klappe halten

Quelle: Charlotte Scheller

klappe halten (zacharias, der engel und ich) von charlotte scheller

wisst ihr eigentlich 
wie schwer das ist
wenn du eher die frau 
die redet bist
wenn du deine ideen 
klar im gespräch siehst
wenn einsam am schreibtisch 
für dich sehr schräg ist
nee is klar jetzt acht tage 
klappe halten
ist für mich wie acht tage 
strom abschalten
gottseidank hab ich 
ein survivalpaket
das aus ner digitalen 
wachstafel besteht 
wie einst zacharias 
der gott nicht traut
dass gott ihm altem priester 
noch zukunft baut
dem engel nicht glaubt 
die sprache verliert
bis elisabeth dann 
ihr kind gebiert
neun monate hat 
er sich eingeigelt
und schließlich 
per wachstafelschrift besiegelt
was seine frau längst 
bekannt gemacht
ihr kind heißt johannes 
hat gott gesagt
was jammer ich bloß was 
sind schon acht tage 
gegen ganze neun monate 
stummsein ich frage
mich was wohl jetzt
in mir drin entsteht
wo jetzt mal acht tage 
mein mundwerk stillsteht
wo ich ganz allein 
auf dem sofa rumhäng
die worte bloß schweigend 
in mir um und umwend
gib geduld schick mir auch 
son himmelskurier
zacharias-engel 
hey komm auch zu mir
damit ich das stummsein
auch akzeptier
gut ich akzeptier 
also nix mehr von mir
hier

Kantate - Singt!

Quelle: Charlotte Scheller
Singen! Was für ein Schatz in diesem Gesangbuch steckt. Überhaupt in den Liedern. Jenseits des Vergessens verankern sie in der Jahreszeit, verbinden unsere Herzen, messen alle Tiefen aus, halten, trösten, locken die Freude hervor.

"Gott schickt nach mir" - Fünfminutenpredigt zum Sonntag Kantate, 7. Mai 2023, von Charlotte Scheller

1. Samuel 16,14-23 (Basisbibel)
Der Geist des Herrn hatte Saul verlassen. Von Zeit zu Zeit quälte ihn aber ein böser Geist, der seine Stimmung verfinsterte. Auch der kam vom Herrn.
Da sprachen Sauls Leute zu ihm:
»Du weißt, dass es ein böser Geist ist, durch den Gott deine Stimmung verfinstert. Unser Herr braucht nur etwas zu sagen, deine Knechte stehen bereit. Wenn du es willst, suchen wir einen Mann, der auf der Harfe spielen kann. Wenn dann der böse Geist Gottes über dich kommt, gleitet seine Hand über die Saiten. Und gleich wird es dir besser gehen.« Saul antwortete seinen Leuten: »Also gut! Seht euch um nach einem Harfenspieler und bringt ihn zu mir!«
Da meldete sich einer von den jungen Leuten und sagte: »Ich weiß von einem! Es ist der Sohn Isais aus Betlehem. Der kann Harfe spielen. Er ist mutig und ein guter Soldat. Klug ist er auch und sieht gut aus. Ja, der Herr ist mit ihm!«
Saul ließ Isai durch Boten ausrichten:
»Schick deinen Sohn David zu mir – den, der die Schafe hütet!«
Daraufhin nahm Isai einige Laibe Brot, einen Krug Wein und ein Ziegenböckchen. Damit schickte er seinen Sohn David zu Saul.
So kam David zu Saul und trat in seinen Dienst. Saul liebte ihn und machte ihn zu seinem Waffenträger. Darum ließ er Isai die Botschaft überbringen: »Lass doch David in meinem Dienst bleiben. Denn mir gefällt, wie er seine Aufgaben erfüllt.«
Sooft aber der böse Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe zur Hand und spielte. Da konnte Saul befreit aufatmen und es ging ihm besser. Denn der böse Geist hatte ihn verlassen.

Da kennt einer einen, der einen kennt. David. Ein Niemand. Der letzte in der Geschwisterfolge, der unscheinbarste in der Familie. An ihn hat der Vater ganz sicher nicht gedacht, als Samuel der Gottesmann sich ansagte. Ein neuer König wird gesucht. Hier in Isais Haus. Bestimmt wird es Eliab, der älteste. Der wird immer alles und ist daran gewöhnt. Groß, extrem gutaussehend. Typ Klassensprecher. Mannschaftskapitän. Vaters ganzer Stolz. Samuel wollte sein Salböl über ihm ausschütten, Segen satt, als ob er das auch noch nötig hätte. Aber irgendwas sagte ihm, dieser ist es nicht. Sagen wir, es war Gott. Ein Mensch, meinte Gott, sieht, was vor Augen ist. Der Herr aber sieht das Herz an.  Ihn hier habe ich nicht in Betracht gezogen. 
 
Auch nicht Abinadab, nicht Schima und wie sie alle heißen. Sieben Isai-Söhne liefen vor Samuel auf. Einer schöner und klüger als der nächste. Aber Gott sagte einfach - nichts! Ich stell mir vor, dem stolzen Vater ist der Appetit auf das Festessen vergangen. Denn wer, wenn nicht Vater Isai, sollte in der Lage sein, einen Anführer großzuziehen, einen, der Heldentaten vollbringt für sein Land? - Sind das jetzt alle deine Söhne, fragt Samuel. - Tja, meint Isai. Der jüngste fehlt noch. Der ist draußen, die Schafe hüten. - Schick jemand, der ihn holt! Bevor er nicht da ist, setzen wir uns nicht um den Tisch. 
 
David kommt. Die andern hatten ihn nicht auf dem Schirm, niemand hat ihn auf dem Schirm, nicht mal er selbst. Er will nichts werden. Nirgendwo hinkommen. Nicht mehr sein, als er ist. Er passt auf die Schafe auf. Atmet die klare Luft. Lässt den Gedanken ihren Lauf, bis sie sich zu Liedern formen. Worte und Klänge, dem Rauschen des Windes abgelauscht. Dem Plätschern des Wassers. Der kühlen Finsternis einer Felsschlucht. Dem prallen Grün einer Wiese. Der Beklemmung eines schlechten Traums. Der puren Lust am Leben. Aus allem und jedem wird ein Lied bei ihm. Und, mit dem felsigen Boden unter den Barfüßen und dem gleißenden Himmel über dem Kopf, ist ihm jedes Lied Gebet. Gott ist mein Hirte. Gott sing ich mein Lied, das Leichte und das Schwere, das Lustvolle und das, was mir die Luft abschnürt.
 
Genau diesen David hat Gott ausgesucht und der Gottesmann hat ihn gesalbt. Segen satt für den Unscheinbaren, er wird der Held, er wird seinem Land gut tun. Schwer auszuhalten für die Chronisten der Bibel. Kaum ist klar, der wird es, vergessen sie, was Gott eben noch Samuel zugeflüstert hat. Achte nicht auf das Äußere. Tja. Sie schreiben sich David schön, denn jetzt wird er gebraucht, der König schickt nach ihm, der fast schon abgedankte Saul. Die Phasen, in denen das Dunkel den Herrscher im Griff hat, das Alter, die Verantwortung, der unausweichliche Verfall, die Phasen werden häufiger. Die finstere Stimmung wabert durchs Haus, kriecht wie Sprühnebel unter die Haut, macht das Herz klamm und die Glieder lahm. 
 
Ich kenne da wen, sagt einer der jungen Leute um Saul. Es ist der Sohn Isais aus Betlehem. Der kann Harfe spielen. Er ist mutig und ein guter Soldat. Klug ist er auch und sieht gut aus. 
 
David kommt. Und bringt Segen zu Saul. Nicht weil er klug wäre oder mutig und ein guter Soldat. Bloß weil er Harfe spielen kann. David spielt und die Finsternis weicht. Er singt von Liebe, Leiden, Lust und die Starre löst sich. Der König schöpft Atem und spürt, wie sich Wärme in ihm ausbreitet. Von irgendwo in der Brust bis zu den Fingerspitzen. 
 
Bloß von einem bisschen Saitenspiel. Bloß von ein paar Liedern. Bloß von einem
Menschen, der da ist, wenn du dich im Dunkeln verlierst, der nichts weiter macht als Saiten zupfen und ein, zwei Strophen singen, bloß von seiner unscheinbaren Nähe wird die Seele frei. Der böse Geist kann abhauen und der gute Geist kommt wieder raus. 
 
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Du, Gott, guckst das Herz an. Du kennst mich. Ich brauch nicht schön zu sein. Nicht groß oder klug oder tapfer. Kein Klassensprechertyp. Keine Anführerin. Es reicht, dass ich ich bin. Du hast die volle Liebe über meinem Kopf ausgegossen. Segen satt. Etwas ist an mir, das wird wem anders gut tun. Wenn es an der Zeit ist. Mein Lied. Mein Schweigen. Meine mühsam zusammengesuchten Worte. Gott schickt nach mir, wenn ich gebraucht werde. Amen. 

Nächtliche Begegnung. Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 16.4.2023

von Charlotte Scheller

Genesis 32,23-32 
23Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. 24Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. 25Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 
28Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 29Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31Und Jakob nannte die Stätte Pnuël: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 32Und als er an Pnuëlvorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. 
 
„Guten Morgen“, schreibt sie. „Was liegt heute bei dir an?“- „Ich habe Dienst“, antworte ich. Notfallseelsorge, 24 Stunden Bereitschaft. Wenn der Pieper an meinem Gürtel geht, muss ich los. „Melde dich“, schreibt sie, „wenn du gerufen wirst. Auch nachts. Ich lass mein Handy an“. Eigentlich möchte ich ihren Schlaf nicht stören. Aber zu wissen, dass sie da ist, dass ein „Ping“ ihres Telefons sie weckt, wenn ich los muss, tut mir gut. Oft bleibt es ruhig. Aber wenn ich gerufen werde, wenn die Leitstelle der Feuerwehr die Notfallseelsorge alarmiert, ist es eher nachts als am Tag. Meine Klamotten liegen bereit. Das Namensschild der Notfallseelsorge. Das Auto hat Sprit. Und doch ist es ein Angehen. Nie bin ich vorbereitet auf das, was mich erwartet. Die Leitstelle gibt mir einen Namen durch. Straße, Hausnummer, dritte Etage rechts. Stichworte zur Lage. Jemand ist verletzt. Oder gestorben. Andere sind da, die brauchen einen, der zuhört, hinsieht, den Schrecken mit aushält. Eine, die bleibt, wenn die Einsatzkräfte wieder fahren. Diese Eine bin jetzt wohl ich. 
 
Ich kann das nicht, denke ich, während ich ins Auto steige. Mach du das jetzt, Gott. Du bist schließlich auf die Idee gekommen, mich loszuschicken. Jetzt rette mich. Segne mich.Gib mir die richtigen Worte ein und das richtige Schweigen. Ping, sagt mein Handy. „Ich denke an dich“, schreibt sie. „Ich bete für dich. Und für die, zu denen du fährst“. Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss und fahre los.
 
„Ich lasse dich nicht“, sagt Jakob, „du segnest mich denn“. Mitten in der Nacht ist er aufgestanden. Hat seine liebsten Menschen in Sicherheit gebracht. Über den Fluss. Richtung Heimat. Er ist allein zurückgeblieben. Mit dem, was ihm bevorsteht jenseits des Flusses, haben sie nichts zu tun. Eine lange Geschichte. Eine alte Rechnung, offen geblieben zwischen ihm und seinem Bruder Esau. Es ist Jahre her. Jakob hat Esau betrogen. Ihn ausgetrickst und sich den Segen des blinden Vaters erschlichen. Dann ist er geflohen. Bei Nacht und Nebel abgehauen. Und in der Fremde reich geworden. Jetzt kehrt er zurück. Mit Frauen und Kindern. Mit Bediensteten und Schafherden. Alles mit seinen Händen erarbeitet. Und mit seinem enormen Selbstvertrauen. Mit dem Siegesbewusstsein des Gesegneten. Jakob, der Glaubensvater. Jakob, der Bruder auf dem Weg nach Haus. Esau, haben seine Spione herausgefunden, kommt ihm entgegen. Mit vierhundert Mann. Ein ganzes Heer! Was liegt heute bei dir an? Dem Bruder entgegengehen. Mit reichen Geschenken, ja, aber auch mit leeren Händen. Allein, bloß du und ich. 
 
Und Gott. Denn wer sonst sollte Jakob wach gehalten haben die ganze Nacht durch, bis endlich das erste blasse Morgenrot aufzieht? Einer ringt mit ihm. Raubt ihm den dringend nötigen Schlaf. Fordert seine Gedanken, seine Konzentration, seine Körperkraft. Und die Seelenkraft. So hältst du mich auch wach, Gott, oder wer sonst mir die nächtlichen Kämpfe schickt. Am Ufer eines Flusses. An einem Übergang. Wenn ich im Bett liege, todmüde, aber ohne ein Auge zuzutun, das Bettzeug zerwühlt, die Augen an die Zeiger der Uhr geheftet. Tick, ich brauche den Schlaf. Tack, sonst schaffe ich die Prüfung morgen nicht. Wenn ich an einem Krankenbett sitze, die Atemzüge eines liebenMenschen bewache, die Berührungspunkte unserer Lebenziehen vorbei, ein stummes Gespräch. Tick, tack. Wenn, was am Tag noch beherrschbar schien, nachts zu einem Ungeheuer wird, das mich bedroht. Ich kann das nicht. DieAufgabe meistern. Die Krankheit aushalten. Der Schuld ins Auge sehen. Den Kampf bestehen und weiterleben mit all den Verletzungen. 
 
Es wird Morgen. Die beiden kämpfen immer noch. Jakob istverwundet, seine Hüfte ist ausgerenkt, eigentlich steht da, seine Lende ist verletzt, seine Männlichkeit, aber Jakob gibt nicht nach. Statt dessen fordert er den Segen. Da ist einer ohne Namen, lass ihn Sorge heißen, Schmerz, Schuld oder Angst, der quält ihn die ganze Nacht. Dann Vogelstimmen. Fahle Lichtschleier in der Finsternis. Der Schlafräuber will sich zurückziehen. Lass mich gehen, sagt er, die Morgenröte bricht an. Aber Jakob sagt: Ich lasse dich nicht los. Ich halte an dir fest mit all meiner Kraft, bis du mich segnest. Wie heißt du, fragt der andere. Den Namen kennen über dein Gegenüber heißt Macht gewinnen über ihn. Jakob lässt los und ergibt sich. Jetzt hat er den Kopf und die Hände frei, um den Segen zu empfangen. Wehrlos. Wie ein Kind, das noch nichts selberkann und alles von seinem Gegenüber erwartet. Wie unser Täufling hier. Ich bin Jakob. Segne mich!
 
Ich sag dir, wie du ab jetzt heißen sollst. Du wirst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Weil du mit Gott und mit Menschen gekämpft hast. Weil du im Kampf den Segen gesucht hast. Du hast nicht locker gelassen, hast Gott nicht losgelassen in der Nacht, im Kampf, in Verletzung und Hilflosigkeit und Demütigung. An der Hüfte verrenkt. An der persönlichsten Stelle getroffen. Tick, tack. Segne mich! Du sollst Israel heißen. Wie das ganze Gottesvolk. Anders als Jakobs und Esaus Vater, hat Gott Segen für alle seine Kinder. Gott hat Segen für die Frauen, die frühmorgens vom leeren Grab wegrannten, voller Schrecken, die Freude kommtzögernd. Gott hat Segen für Thomas, der nicht fassen kann, dass Jesus auferstanden ist, bevor er die Finger in seine Wunden gelegt hat und mit eigenen Augen gesehen, er ist hier. Gott hat Segen für die, die mit leeren Händen dastehen, kraftlos nach einer durchwachten Nacht, ratlos vor einer Aufgabe, sprachlos vor eigenem oder fremden Leid, ohne Glauben an sich selbst, an Gott oder Menschen. Gott hat Segen für mich, auch wenn ich es nicht mal hinkriege, um Segen zu bitten. 
 
Jetzt sag du mir, fordert Jakob. Wie heißt du? – Warum fragst du das, fragt der ohne Namen und segnet ihn. Daselbst. Am Schauplatz des Kampfes. Am Übergang. In dem Moment, dadie Sonne aufgeht. Am Fluss, vor dem ersehnten und gefürchteten Wiedersehen mit dem Bruder. Auf dem Bett mit den zerwühlten Laken. Im Auto, das jetzt startet. Jakob nennt diesen Ort „Pnu-El“. Keine Frage, es war Gottes Gesicht. Er hat Gott gesehen in den Schmerzen, in der Angst, in der Schuld, mitten im Kampf auf Leben und Tod, und ist gerettetworden. 
 
Und ich? Wie Jakob habe ich Verletzungen zurückbehalten von den Kämpfen an den Übergängen. Von den Nächten, in denen ich nicht schlafen konnte. Von einer überstandenen Krankheit. Von einem Leiden, das weiter besteht. Vom Ringen um eine Entscheidung, um einen Weg, um ein Fünkchen Hoffnung für den Tag. Gelegentlich spüre ich sie wieder, die Schmerzen an Körper und Seele. Die Schwäche. Ein „Hinken“, eine Behinderung, die bleibt. Meine Stärke! Sie erinnert mich: Ich bin gerettet. Aus dem Wasser der Taufe gezogen. Gesegnet. Ich brauche diese Erinnerung. Besonders nachts. Oder wann immer ich nicht vorbereitet bin. Ich werde nicht locker lassen, Gott um Segen zu bitten. Ich werde erlauben, dass andere um Segen bitten für mich. In Jesu Namen. Amen.

Aus dem Labyrinth ins Freie. Osterpredigt 2023

zu 1. Korinther 15,19-28 von Charlotte Scheller

Ein Mosaik im Fußboden der gewaltigen Kathedrale in Frankreich. Zwölf Meter im Durchmesser, eine Christophorus-Kirchenlänge in etwa. In der Kreisfläche ein Weg aus 273 Steinen. Es geht hin und her, in kleinen Schleifen und großen Kurven. Wenn du in die Mitte willst, musst du jedes Viertel des Kreises mehrmals durchwandern. Es bleibt dir kein Schritt erspart. Immer wieder denkst du, jetzt kommst du zum Ziel, und dann geht es ganz nach außen. Die Strecke ist ungefähr so weit wie der Weg von der Kirche bis zu Kuskas Blumengeschäft. Es geht nur in eine Richtung. Verlaufen kann man sich nicht. Höchstens vor der Zeit schlapp machen. Bist du erst in der Mitte angekommen, geht es auf demselben Weg wieder nach draußen. Im Mittelalter, heißt es, haben der Bischof und seine Kirchenleute den Weg durchs Labyrinth getanzt. In der Kathedrale, jedes Jahr am Ostertag. 
 
In Knossos auf Kreta soll in alter Zeit ein gemauertes Labyrinth gewesen sein. In der Mitte hauste der Minotaurus, ein Ungeheuer, dem Menschen geopfert werden mussten. Jedes neunte Jahr, sieben Jungfrauen und sieben junge Männer. Ist das Leben so, ein unüberschaubarer Weg, und in der Mitte oder am Ziel lauert ein Ungeheuer, das einen verschlingt? - Ein Mann pflegt seine Frau. Immer haben sie alles geteilt, Schönes und Schweres, haben sich geliebt und sind zusammen alt geworden. Nun lässt ihr Gedächtnis sie im Stich. Sie versinkt in ihrer eigenen Welt und lässt ihn allein mit der Verantwortung für sie beide. Wo ist der eine Mensch, der mich versteht, wo ist Gott, dem ich vertrauen kann? - Eine Mutter ist mit ihren vier Kindern geflohen. In der Heimat ist Krieg und Gewalt. Aber hier, in der Flüchtlingsunterkunft, ist es trostlos, sie versteht das Land und die Leute nicht, ein Kind ist krank, hilflos steht sie vor Behörden und Ärzten. Ich habe keine Freude mehr, sagt sie. Wo ist Hoffnung zu finden?
 
An die Gemeinde in Korinth schickt der Apostel Paulus einen kräftigen Brief. Die Themen sind: Glaube, Liebe und Hoffnung. Die Hoffnung hat nur einen einzigen Grund: Jesus Christus ist vom Tod auferstanden. Die Hoffnung kennt keine Grenzen, sie hofft einfach mal alles. Für alle Menschen. Paulus schreibt:
 
Wenn wir nur für dieses Leben auf Christus hoffen, sind wir bedauernswerter als alle anderen Menschen.Nun ist Christus aber vom Tod auferweckt worden, und zwar als Erster der Verstorbenen. Denn durch einen Menschen kam der Tod in die Welt. So bringt auch ein Mensch die Auferstehung der Toten. Weil wir mit Adam verbunden sind, müssen wir alle sterben. Weil wir aber mit Christus verbunden sind, werden wir alle lebendig gemacht.
Das geschieht für jeden nach dem Platz, den Gott für ihn bestimmt hat: Als Erster wird Christus auferweckt. Danach, wenn er wiederkommt, folgen alle, die zu ihm gehören.Dann kommt das Ende: Christus übergibt Gott, dem Vater, seine Herrschaft. Zuvor wird jede andere Herrschaft, jede Gewalt und jede Macht vernichtet. Denn Christus muss so lange herrschen, bis Gott ihm alle seine Feinde zu Füßen gelegt hat. Der letzte Feind, den er vernichten wird, ist der Tod (1. Korinther 15,19-26)
 
Was für eine Aussicht! Der Tod wird vernichtet. Darauf läuft alles hinaus. So hat Gott es gewollt von Anfang an, als er die Welt erschuf, als er die Menschen ins Leben rief, als er seinen Sohn auf die Erde schickte, Christus, die lebendige Kraft seines Wortes. Die Frauen kommen zum Grab und sind erschrocken: Das Grab ist leer. Ein Engel ist vom Himmel gekommen. Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden! Ihr Herz zittert noch vor Furcht, dann bricht die Freude sich Bahn. Sie stürzen davon und erzählen es weiter. Der Herr ist auferstanden! In die Einsamkeit wird eine unwiderstehliche Zuversicht eingelassen. Die letzte Macht des Todes ist gebrochen!
 
Aber es ist Streit entstanden über diese Aussicht. Manche denken, wir brauchen Gott nicht zur Überwindung des Todes. Der moderne Mensch kann das selbst. Die Medizin arbeitet daran, den Tod hinauszuschieben, ihn eines Tages ganz zu überwinden. Auch wenn jetzt noch nicht alles möglich ist. Es ist eine verbreitete Vision: Der Tod ist der letzte Feind, aber eines Tages überwinden wir ihn. 
 
Daran glaube ich nicht. Mensch zu sein heißt sterblich zu sein. Mitten im Leben tritt der Tod uns entgegen. Wer ihn verdrängt, verabschiedet sich von der Wirklichkeit. Das Starke an unserem Glauben ist aber: Ich muss den Tod nicht leugnen. Ich werde ihn auch nicht überwinden. Aber ich werde auch nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass am Ende Leben ist. Wie am ersten Ostermorgen. Das leere Grab, dessen Anblick die Frauen zum Zittern bringt und sie dann alles hoffen lässt. Einfach alles! Es gibt ihn noch, den Tod. Aber er wird nicht mehr der Bestimmer sein in unserem Leben. Gott ist der Bestimmer. Er bringt uns das Leben.
 
Das feiern wir an Ostern. Das soll uns bestimmen! Der gekreuzigte Jesus bleibt nicht im Tod. Gott nimmt ihn zu sich auf. Der Tod ist immer noch schrecklich real. Jesus ist wirklich gestorben. Er wurde wirklich begraben. Aber sein Tod behält nicht das letzte Wort. Jesus lässt ihn hinter sich. Er besiegt das Ungeheuer, vor dem wir uns zu Recht fürchten. Damit nimmt er vorweg, was für uns alle verheißen ist. Der Weg führt aus dem Labyrinth hinaus. 
 
Unsterblich werden wir nicht durch Ostern. Aber es braucht auch niemand dem Tod eine letzte Macht einzuräumen. Die Seele darf jubeln und tanzen, wie die Frauen, die vom Grab wegrennen, wie die Gläubigen, die auf dem Labyrinth tanzen. Wie die Christenmenschen in aller Welt, die heute wieder singen, allem Leid zum Trotz: Christ ist erstanden! Vielleicht kennen Sie auch dieses Lied: Lord of the dance. „They cut me down and I leapt up high“, beginnt die letzte Strophe. – Sie haben mich umgeworfen und ich bin wieder aufgesprungen. Hochgeschnellt. Die Seele jubelt und tanzt, denn Ostern ist das Fest des Lebens. 
 
Es gibt ja einen Ausgang aus dem Labyrinth. Manchmal brauchen wir andere, um ihn zu sehen. Ich denke an den Mann, dessen Frau sich schon weit von ihm entfernt hat auf dem Weg des Vergessens. Einmal in der Woche legt er eine alte Schallplatte auf, „ihr Lied“. Er zieht sie aus dem Sessel hoch, nimmt sie in die Arme und wagt, ungeachtet des Rollators, ein Tänzchen mit ihr. Sie ist selig, in dem Moment ist die Vergesslichkeit vergessen und die Liebe ist ewig. Ich denke an die Frau, die der vierfachen Mutter den Rücken stärkt. Sie spricht für sie bei den Behörden. Fährt die Kinder zum Arzt. Hält der Mutter die Hand. Organisiert für Flüchtlinge und Nachbarn ein Fest in der Unterkunft und feiert mit ihnen, allem Leid zum Trotz, fröhlich. 
 
Der aufrechte Gang gehört zu Ostern. Der Tanz aus dem Labyrinth. Jeder von uns darf erhobenen Hauptes gehen. Jede kann schauen, ob sie einer andern dabei helfen kann, sich aufzurichten und der Zukunft entgegen zu gehen. Oder zu tanzen. Denn Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!

Predigt am Karfreitag zu Kolosser 1,12-20 von Vikarin Johanna Bierwirth - Alles ist jetzt

Alles. 
Alles ist jetzt. Es ist alles, alles jetzt. 
Alles war. Alles war und wird sein und alles wird gewesen sein.
Alles wurde geschaffen. Durch ihn.
Alles hat ein Ziel. In ihm.
Alles hat Bestand. In ihm.
Alles erfährt Versöhnung. Durch ihn. 
Alles. 

Im Kolosserbrief steht geschrieben:

Dankt dem Vater mit Freude!
Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Erbe der Heiligen, die im Licht leben.
Er hat uns vor der Macht der Finsternis gerettet und der Herrschaft seines geliebten Sohnes unterstellt.
Der schenkt uns die Erlösung, die Vergebung unserer Sünden. Christus als Ebenbild Gottes und Haupt der Gemeinde.
Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der zuerst Geborene: 
Vor allem Geschaffenen war er da.
Denn durch ihn wurde alles geschaffen, im Himmel und auf der Erde.
Das Sichtbare und das Unsichtbare – ob Throne oder Herrschaftsbereiche, ob Mächte oder Gewalten – alles wurde durch ihn geschaffen und alles hat in ihm sein Ziel.
Er ist vor allem da, und in ihm hat alles Bestand.
Und er ist das Haupt des Leibes – der Gemeinde. Er ist der Anfang: der erste der Toten, der neu geboren wurde. In jeder Hinsicht sollte er der Erste sein.
Denn so hatte es Gott beschlossen: Mit seiner ganzen Fülle wollte er in ihm gegenwärtig sein.
Und er wollte, dass alles durch ihn Versöhnung erfährt. In ihm sollte alles zum Ziel kommen.
Denn er hat Frieden gestiftet durch das Blut, das er am Kreuz vergossen hat.
Ja, durch ihn wurde alles versöhnt – auf der Erde wie im Himmel.

Alles wurde versöhnt. Wurde! Das ist besonders am Kolosserbrief. Wir werden nicht versöhnt werden, irgendwann, gottweiß wann. Nein, wir wurden schon versöhnt. Es ist schon längst passiert! Und es betrifft nicht nur ein paar Menschen, keine auserwählte Elite, keinen geheimen Zirkel. Nein, alle wurden schon versöhnt! 

Ich atme schwer aus. Manchmal bin ich in einer richtig zynischen Stimmung, da kann ich so einen Text nur schwer ertragen. Dann klingt das für mich nach einem verwaschenen Happy End. Jesus ist tot! Auf grausame Art hingerichtet schreit er in die Finsternis: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Nichts mit Versöhnung auf der Erde und im Himmel! Alles ist hinüber, alle tragen Schuld, allezeit steht das Kreuz für die abgründige Grausamkeit der Menschheit.

Zum Glück ist Jesus kein Zyniker. Er holt alle an einen Tisch. Mit den Zöllnern und Sündern isst er in ihrem Haus- ein häufiger Vorwurf der vermeintlich guten Leute zu seiner Lebzeit. Alle an einem Tisch. Egal, wer sie sind, egal, was sie tun, egal, was andere von ihnen halten. Sie sitzen alle zusammen, auf Augenhöhe. Erleben Gemeinschaft. 

So war es auch beim letzten Abendmahl. Die Evangelien erzählen, dass Jesus wusste, was passieren werde. Dass er verraten und verleumdet werden würde von denen, mit denen er an einem Tisch sitzt. Denen er sagt: Nimm hin und iss dieses Brot, ich gebe dir meinen Leib. Nimm hin und trink aus diesem Kelch, mein Blut wird für dich vergossen. Er schickt Judas und Petrus nicht weg. Sie bleiben. Nicht unwidersprochen! Was sie tun werden, wird nicht einfach weggelächelt und um der guten Stimmung willen ignoriert. Nein, Jesus provoziert sie geradezu und macht ganz deutlich: Was ihr getan habt und tun werdet, das missfällt mir! Aber kommt her, esst und trinkt, ich gebe mich euch voll und ganz hin. Alle haben an meinem Tisch Platz. Alle. Was ich in meinem Kopf kaum begreifen kann, das macht Jesus einfach. Jesus gibt sich für alle hin.

Alle. Das ist tröstlich. Alle heißt- ich auch. Und alle, die ich gern habe. Das ist beruhigend. Alle. Das ist auch bedrohlich. Alle heißt – auch die anderen. Heißt in letzter Konsequenz auch die, die unermessliches Leid über die Welt bringen. Die rauben und morden und zerstören und aus reiner Bosheit heraus Dinge tun, die ich mir in meinem behüteten Leben im Traum nicht ausmalen kann. Alle.

Ich kann das an dieser Stelle nicht auflösen. Menschliche Vernunft, menschliches Gerechtigkeitsempfinden greifen hier nicht. Gottes Frieden, der Grund für die Versöhnung aller, ist höher als alle menschliche Vernunft. Unbegreiflich. Aber ein Gott, der Mensch wird und sich ans Kreuz hängen lässt, der lässt die Opfer von Gewalt sicher nicht im Stich. Der lässt ihr Leid nicht unter den Tisch fallen. Der sieht hin und leidet mit und spricht aus, was falsch ist. Gott ist gerecht.

Wenn wir gleich zusammen Abendmahl feiern, dann sind wir eine Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, zu der alle eingeladen sind. Dann ist da mehr als Erinnerung. Dann blitzt in diesem Moment das hervor, was eigentlich zeitlos ist und was in diesem Moment an einem Zeitpunkt festhaftet: Dass wir versöhnt sind. Wir waren versöhnt, wir sind versöhnt, wir werden versöhnt sein. Gottes Liebe ist zeitübergreifend. Aber wenn wir gleich hier stehen und das Brot essen und den Traubensaft trinken, dann bekommt diese Liebe Gottes, diese unermessliche Versöhnung, einen Haftpunkt in der Zeit. Dann ist das, was sonst wie ein Grundrauschen meine Existenz durchzieht, laut und deutlich zu spüren. Und mir persönlich geht es so, dass ich das im Herzen sogar spüren kann. Dann blitzt etwas von der Liebe Gottes in mir auf und für einen Moment ist da einfach Frieden. Ja, durch ihn ist alles versöhnt – auf der Erde wie im Himmel. Amen.

Predigt zum Sonntag Judika, 26. März 2023, von Vikarin Johanna Bierwirth

Stuttgart im Oktober 1945.

Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Dies ist ein Auszug aus der sogenannten Stuttgarter Schulderklärung. Einen ihrer Verfasser kennen sie. Sein Bild hängt mir gegenüber, bei den „Heiligen des 20. Jahrhunderts“: Martin Niemöller.

Gehorsam: I. Akt

Viele evangelische Christen jubeln, als das deutsche Kaiserreich 1871 gegründet wird. Der Kaiser ist evangelisch und preußische Tugenden wie Fleiß, Gehorsam, Pflichtbewusstsein fußen auf ebenjenen evangelischen Tugenden. Pfarrer Niemöller zieht seine Kinder so auf, wie es sich zu dieser Zeit in einem evangelischen Pfarrhaus gebührt: Streng und diszipliniert, Gott und Kaiser treu ergeben. Streng-konservative Werte. Antisemitismus. Unterm Weihnachtsbaum liegen Spielzeuggewehre. Pfarrer Niemöller begleitet Kaiser Wilhelm nach Palästina. Sein Sohn Martin ist begeistert. Und Vater, wie ist der Kaiser so? Der kleine Martin und der große Kaiser haben etwas gemeinsam: Beide haben sie eine kindliche Begeisterung für die Marine. Martin strebt dort die Offizierslaufbahn an. Als Seekadett trägt er eine dunkelblaue Matrosenjacke über dem weißen Hemd. Schwarz-rote Spangen auf den Schultern. Dunkelblaue Schirmmütze. Marinedolch mit weißem Elfenbeingriff. Schnell wird er Seeoffizier. Und trägt nun den Offizierssäbel, besitzt eine Galauniform mit Kaiserkrone auf den Ärmelplatten. Für zwei Dinge kann er sich begeistern: Erstens für U-Boote, zweitens für den Ausbruch des Krieges. Er lernt Karl von Dönitz kennen. Er erhält das Eiserne Kreuz. Er reist von der Nordsee durch das Mittelmeer und bis nach Dakar. Die U-Boote versenken Kriegsschiffe, Handelsschiffe, Passagierschiffe. Zu Befehl!


Gehorsam: II. Akt

Ausgerechnet die Kieler Matrosen läuten die Revolution ein. Auch auf der SMS Thüringen, wo schon Martin Niemöller gedient hat. Der Kaiser dankt ab, die Republik wird ausgerufen. Auch Niemöller dankt ab. Unter einem demokratischen Befehl will er nicht dienen.

Er heiratet an Ostern 1919 Else Bremer und die beiden wollen einen Bauernhof erwerben. Ein eigenes kleines Königreich, abgeschottet vom Land der Niederlage. Aber in Zeiten der Inflation, wo ein Brot ein paar Millionen Mark kostet, ist es schwierig, Land zu kaufen. Plan B: Pfarrer werden. Das „Volk“ braucht Orientierung und Ordnung in diesen Zeiten. Die Kirche kann traditionsgemäß damit dienen. Aber nicht nur die. Vermeintliche Orientierung und Ordnung bieten auch völkische Gruppierungen. Rechtsradikal, antisemitisch, nationalistisch. Martin macht mit: Freikorps Akademische Wehr Münster. Deutschnationale Volkspartei. Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund. Bund der Aufrechten. Er sieht keinen Widerspruch zu seiner Arbeit im Dienste Gottes. Nach seinem Vikariat leitet er die Innere Mission in Westfalen, baut eine Struktur an Wohlfahrtsämtern auf. Ab 1924 wählt er NSDAP, ein Jahr später erscheint „Mein Kampf“.

 
Gehorsam. III. Akt

1931 bekommt Martin seine erste Pfarrstelle. Er ist jetzt Pfarrer Niemöller in Berlin-Dahlem. Der Talar ist schwarz, auf der Brust preußische Raffung, schwarzer Klappkragen, Barett. 1933 wird der sogenannte Arierparagraph erlassen. Jüdisch-stämmige Menschen müssen den Staatsdient verlassen. Die Evangelische Kirche der altpreußischen Union, Pfarrer Niemöllers Dienstherrin, zieht als Erste nach und entlässt getaufte Christen jüdischer Herkunft aus Kirchenämtern. Man sollte meinen, dass bei Martin alles so weiterläuft wie bisher. Warum sollte sich jemand daran stoßen, der doch selbst NSDAP wählt und antisemitische Äußerungen von sich lässt? Martin sagt später, dass Jesus von Nazareth selbst jüdisch gewesen sei und deswegen Arierparagraph und Evangelium nicht vereinbar seien. Er gründet den Pfarrernotbund, um die Betroffenen zu unterstützen. Gegen den Willen der Politik, gegen den Willen seiner Landeskirche. Pfarrer Niemöller wird zum Empfang geladen, zusammen mit verschiedenen hohen Kirchenleuten. Der Gastgeber: Hitler. Bevor der Empfang losgeht, kommt Göring herein mit einer roten Mappe in der Hand. Darin: Protokolle von abgehörten Telefonaten. Telefonate von Niemöller, mit kritischem Inhalt, auch verdächtige Worte von Niemöllers Vikarin. Aber es wird nicht tiefgehend nachgefragt. Am Ende geht Hitler an den Kirchenleuten vorbei, schüttelt jedem zum Abschied die Hand. Pfarrer Niemöller spricht ihn an: Die Sorge um das deutsche Volk könne nur Gott von ihnen nehmen, nicht der Reichskanzler. Der zieht seine Hand zurück. Pfarrer Niemöller ist der nationalen Idee ja eigentlich zugeneigt, aber langsam bröckelt es. 


Gehorsam. IV. Akt

Schrittweise begibt sich Pfarrer Niemöller in die Opposition. 1937 wird er verhaftet, aber freigesprochen. Kurzerhand wird er von Hitler zum persönlichen Gefangenen erklärt und im KZ Sachsenhausen interniert. Während es für die meisten Menschen im KZ keinen Aufschrei gab, folgt auf Niemöllers Internierung eine Welle der Solidarität. Eine Hinrichtung steht im Raum- ein britischer Bischof wendet sie ab. 1939 bricht der Krieg aus und Offizier Niemöller will sich melden. Sein lutherischer Ethos sagt ihm, dass er für´s Vaterland kämpfen müsse. Aber er ist nicht mehr Offizier Niemöller, er ist der Häftling Niemöller, er bleibt im KZ, wird nach Dachau verlegt. Im KZ reift die Erkenntnis, dass er in vielen Dingen geirrt hat. Er sagt später: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Dann die Stunde Null. Er kehrt zurück nach Dahlem, ist wieder Pfarrer Niemöller. Aber er ist ein anderer als vorher. Die Kirche, auch die bekennende Kirche, trägt Mitschuld an der Katastrophe. Was soll die Evangelische Kirche in Deutschland, die für all das mitverantwortlich ist, vor der Weltchristenheit sagen? Niemöller hilft die Worte zu finden. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis entsteht.


Gehorsam. V. Akt

Es könnte jetzt alles gut sein. Aber so einfach ist es nicht. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis spricht eigentlich kaum von Schuld, sondern schnell vom Neuanfang. Und die Gemeinden? Die allermeisten lehnen das Schuldbekenntnis ab. Der Blick geht weg von den echten Opfern des Nationalsozialismus, die Kirche kreist lieber um sich selbst, sieht sich selbst als Opfer. 

Im Hebräerbrief steht folgendes: Jeder Hohepriester wird aus Menschen ausgewählt und für Menschen eingesetzt. Er wird zum Dienst vor Gott eingesetzt, damit er für die Sünden der Menschen Gaben und Opfer darbringt. Er kann mitfühlen mit den unwissenden und irregeleiteten Menschen. Denn auch er selbst ist der menschlichen Schwachheit unterworfen. Ihretwegen muss er auch für sich selbst Opfer für seine Sünden darbringen – genauso wie er es für das Volk tut.

Wir Menschen machen Fehler. Wir können wirklich böse sein. Christinnen und Christen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Bischöfinnen und Bischöfe, die ganze Kirche. Unwissend, irregeleitet, schwach. So sehr ich persönlich mir auch wünsche, dass wir als Kirche das Gegenteil sind, dass wir Gott gehorchen und uns von der Liebe leiten lassen, so weiß ich auch, dass das nicht immer klappt. Dass wir nicht davor geschützt sind, falsche Wege einzuschlagen. Auch Martin Niemöller war verschiedenen Menschen und Ideen gegenüber gehorsam. Und hat Stück für Stück erkannt, wie falsch er damit lag. Für mich bleibt er eine schwierige Persönlichkeit. Auch nach 45 vertrat er noch Ansichten, die ich persönlich ablehne. Aber mich fasziniert die Kehrtwende, die er im Laufe seines Lebens vollzogen hat, denn der ehemalige Offizier wird sogar radikaler Pazifist. Und dass er etwas tat, was mutig ist und was zu seiner Zeit kaum einer tat: Schuld eingestehen. 

Im Hebräerbrief heißt es weiter: Als Jesus hier auf der Erde lebte, brachte er seine Gebete und sein Flehen vor Gott – mit lautem Rufen und unter Tränen. Denn der konnte ihn vom Tod retten. Und wegen seiner Ehrfurcht vor Gott ist er erhört worden. Obwohl er der Sohn war, hat er es angenommen, wie ein Mensch durch Leiden Gehorsam zu lernen. So wurde er zur Vollendung gebracht. Seitdem ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber ihrer ewigen Rettung geworden.

Was heißt Gehorsam? Jesus zeigt es uns. Es geht nicht darum, Befehle entgegenzunehmen, andere auszugrenzen oder Loyalität über Gewissen zu stellen. Es geht darum, ehrlich zu sein. Der Liebe verpflichtet zu sein. Demütig auf das eigene Handeln zu blicken. Die Zeit für einen solchen Gehorsam ist nicht vergangen. Keine zugeklappte Akte aus der Kirchengeschichte. Die Zeit für einen solchen Gehorsam besteht immer. Deswegen lohnt es sich, mit wachem Blick unsere eigene Gegenwart zu betrachten und zu fragen: Wo muss unsere Kirche heute mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender lieben? Amen.

Die Predigt basiert auf einem Interview mit Martin Niemöller. Unter folgendem Link können Sie es finden: Martin Niemöller - vom Mitläufer zum Widerstandskämpfer - ZDFmediathek

Predigt zum Sonntag Okuli (Lk 22,47-53) "Ich öffne meine Augen" von Johanna Bierwirth

I. Ich öffne meine Augen. Was sehe ich? Was ist geschehen, vor so langer Zeit, an einem so fernen Ort? Was kann ich erkennen? Ich sehe Jesus. Es ist dunkel um ihn herum. Nur das helle Holz der Olivenbäume schimmert in dem wenigen Licht. Ich bin so weit weg, ich kann sein Gesicht kaum erkennen, dort am Hang des Berges. In der Ferne sehe ich die wenigen Lichter der Stadt, klein und versprenkelt. Die Lichter wissen nichts von dem, was hier in der Dunkelheit geschieht. Plötzlich sind da Männer mit Waffen und Fackeln.     Das Licht ihres Feuers flackert bedrohlich über ihre Gesichter. Jetzt sehe ich auf dem Boden liegende Menschen. Beim Anblick der Fackeln springen sie auf. Sie stellen sich hinter Jesus. Ich kann ihre Hände nicht sehen. Sie sind versteckt in den Falten der Umhänge, so wie ihre Dolche. Da steht jemand ganz nah neben Jesus, eingehüllt in einen weiten Umhang, den Rücken zu mir gekehrt. Ich kann die Gestalt nicht erkennen. Ich sehe ihr Gesicht nicht, ich sehe nicht, was sie tut. Der dunkle Umhang ist wie ein großer Tintenfleck auf einem Bild, der das Wesentliche verdeckt. Das Dunkle strahlt aus und bedeckt alles, was ich sehe. Die Olivenbäume, die eben noch silbern schimmerten, sind jetzt ganz grau. Plötzlich sind da aufgerissene Münder. Die Dolche fest am Griff gepackt, hoch erhoben. Und eine Hand, die dazwischenfährt. Jesu Hand. Zornige Augen. Die Gestalt im Umhang ist verschwunden. Als Jesus geht, blickt er sich nicht noch einmal zu den Seinen um. Die Olivenbäume stehen wortlos da. Die Stunde der Finsternis.

II. Ich öffne meine Augen. Was sehe ich? Ich sehe das Kreuz. Es überragt alles, den Anfang und das Ende. Es türmt sich vor mir auf und blendet mich. Sein gleißendes Licht leuchtet alles aus, jeden Winkel, jede Ecke. Was eben noch dunkel war, ist jetzt hell. Ein neuer Blick. Ich sehe erneut auf das, was passiert sein soll, damals. Da ist Jesus, ich erkenne ihn. Immer wieder geht sein Blick hinauf zum Kreuz. Sehen nur er und ich es? Und die Jünger, die schlafenden Jünger, kneifen sie ihre Augen etwa zu? Dann kommen die Häscher. Sie tragen zwar Fackeln bei sich, aber das Licht ist strahlt nicht verräterisch in der Dunkelheit, es ist alles offenbar. Nichts ist verborgen. Ich sehe Judas, mein Blick folgt seinen Schritten. Es kommt mir seltsam vor, wie er auf Jesus zugeht. Seine Bewegungen gleichen der einer Puppe. Ich sehe, wie seine Lippen ganz nah an Jesu Wange sind mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschaudern lässt. Ins Herz schneidende Zärtlichkeit. Jesus steht da, wie ein Fels. Unerschrocken und mit festem Blick. Da ist kein Erschrecken über den Verrat. Ist es dann überhaupt ein Verrat? Oder nicht einfach nur eine Übergabe? Vom vertrauten Kreis in die Hände derer, die Blut sehen wollen? Die ohne es zu merken genau das tun, was getan werden muss? Nun erheben sich die Jünger, wie an Seilen hochgezogen. Ich sehe, wie sie sprechen, wie ihre Lippen sich bewegen, aber mit starren Augen, als ob sie einen fremden Text vortragen. Eine Choreographie im Licht des Kreuzes. Wie auf ein Zeichen stürmen die Jünger auf die Häscher los. Und lassen wieder ab. Denn sie haben es nicht verstanden. Nichts verstanden. Als Jesus das abgeschlagene Ohr aufhebt, rinnt Blut an seinem Handgelenk hinab. Blick zum Kreuz. Heilung. Alles muss so geschehen. Kein Verrat, kein Kreuz. Kein Kreuz, keine Rettung. Im Lichte des Kreuzes ist doch alles ganz klar. Judas rennt fort. Den Berg hinab. Die Straße hinab. Er stolpert. Bricht entzwei. Stirbt den Tod der Gottlosen. Ist das auch Teil der Choreographie? Und nun singen wir das Spottlied über den Erzsünder oder das Requiem über den Knecht Gottes, der ihn verraten musste, damit die Welt erlöst werden kann. Die Zwischentöne klingen trostlos. Jesus steht da. Ich blicke ihn an und frage mich, ob er wusste, was passieren wird? Ob das alles wirklich so kommen musste? Ging es wirklich nicht anders? Brauchte es tatsächlich jemanden aus den eigenen Reihen, der das alles ins Rollen bringt? Oder sehe ich hier nur, was ich sehen will? Weil ich das Ende kenne, weil ich weiß, dass Jesus am Kreuz sterben wird, weil ich daran glaube, dass Jesu Tod und Auferstehung die Rettung der Menschen bedeutet? Oder sehe ich all das nur, weil der Gedanke an Sinnlosigkeit zu sehr schmerzt? Im Lichte des Kreuzes erscheint alles so klar und vorhersehbar. Wenn das Licht nur nicht so blenden würde.

III. Ich öffne meine Augen. Was sehe ich? Ich sehe einen Menschen. Es ist der Verräter. Licht und Schatten streifen über ihn. Ich blicke in sein Gesicht. Stumm sieht es mich an, kein Lächeln, kein Groll, nichts. Mein Blick durchsucht seine Züge, seine Handflächen, seinen Blick. Aber nichts an ihm verrät mir, was er denkt. Ganz nah komme ich ihm, unsere Gesichter so nah, dass es für einen Kuss reicht. Ich blicke ihm in die Augen und erkenne mich selbst, sehe in seinen dunklen Augen mein Spiegelbild reflektieren. Verrate mir, wer du bist und ich verrate dir, wer ich bin. Judas blickt mich an. Was willst du mir sagen, Judas? Du warst doch eben noch so still. Und er beginnt zu sprechen. Judas sagt zu mir: Ich bin der Mensch wegen dem, nein, für den Jesus am Kreuz gestorben ist. Ich trage in mir, was alle Menschen in sich tragen und deswegen bin ich genauso wie du und nicht besser und nicht schlechter. Und wenn du wissen willst, was ich falsch gemacht habe, dann sage ich dir dieses: Ich habe Gott und mich auseinandergerissen, habe mich umgedreht und bin weggerannt. Ich verrate dir aber nicht, warum. Ich habe mich von Gott abgewendet. So wie es alle Menschen im Kleinen und im Großen tun, aber ich habe mehr Sinn für das Dramatische, siehst du das nicht auch so? Vielleicht bin ich deshalb der Erzsünder, nicht weil ich besonders böse wäre, nicht weil meine Tat besonders böse wäre. Das Böse, für das ich stehe, wurde nur einfach besonders gut in Szene gesetzt. Und wie erleichternd ist es doch, wenn es diesen einen Sünder gibt, auf den alle ihren Stein werfen können. Aber du und ich, wir beide, wir sind doch gleich viel wert, oder? Wir zählen doch beide, oder nicht? Jesus ist nicht nur für dich gestorben, sondern auch für mich. Denn wir haben beide schon zerrissen, zerbrochen und zerschlagen. Haben uns abgewandt und zurückgeblickt. Aber ich glaube, es ist nicht zu spät. Pause Schweigen. Nur Schweigen. Die Worte von Judas klingen in mir nach. 

IV. Was zerrissen ist, was zerbrochen ist, was zerschlagen ist, das wird geheilt. Das kann ich sehen, das kann ich sichtbar machen. Siehe! Meine Hände fassen ins Wasser. Kalt und frisch. Ich erkenne mein Spiegelbild auf der Oberfläche. Das Wasser, mit dem wir taufen. Die Worte, die wir sprechen. Ich habe sie so oft gehört: Ich taufe dich auf den Namen Gottes. Getauft sein, getragen sein. Sichtbares Zeichen für die unsichtbare Liebe Gottes. Und eine Zusage: Ich bin da, spricht der Herr, dein Gott. Wie oft du dich auch abwendest, du kannst immer zu mir zurück. Wenn du dich in Finsternis verstrickst, entzünde ich ein Licht für dich. Ich bewahre dich zum ewigen Leben. So spricht Gott, der Herr. 

Ich hebe meinen Blick. Die Sonne geht auf über dem Ölberg. Über Golgatha. Über uns. Amen.

Predigt zum Sonntag Okuli (Lk 22,47-53) "Ich öffne meine Augen"

von Johanna Bierwirth

Gott, der Versucher und ich. Predigt am Sonntag Invocavit zu Hiob 2,1-13

von Paul Wingberg
Gnade sei mit euch und Frieden von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Amen.
 
(Lesung Predigttext: Hiob 2,1-13)
 
Ich schaue dem Leiden ins Gesicht. Kurz nur. Länger traue ich mich das nicht.
 
Ich sehe eine zerbrochene Stadt. Straßen voller Schutt und Staub. Ruinen. Kaputte Fundamente – geborsten, als die Erde bebte. Trümmerberge, die vor wenigen Tagen noch ein Zuhause waren.
Überall sind Menschen. Manche in Gruppen – andere allein. Manche bluten – andere verarzten. Manche hungern und frieren – andere helfen. Viele weinen – wenige können gerade trösten.
Ich höre ihre Tränen. Ich höre Menschen rufen. Manche rufen um Hilfe- andere antworten. Einige rufen, um die Helfenden zu organisieren. Um Ordnung zu schaffen – hier, wo gerade gar nichts in Ordnung ist. 
Eine Gruppe von Helfenden räumt einen ganzen Tag Schutt und Steine aus dem Weg. Und endlich können sei eine lebende Frau aus den Trümmern holen. Alle sind unsagbar erschöpft, aber auch erleichtert, dass sie es geschafft haben. 
Kurze Zeit später stirbt die Frau an ihren Wunden.
 
Und ich frage mich: Warum? Warum musste das passieren?
Und dann frage ich Gott: Warum? Was haben diese Menschen getan, damit gerade sie so sehr leiden müssen? Womit haben sie es verdient, dass ein ganzes Haus über ihnen zusammenbricht?!
Sag mit, Gott, warum? Ich will es verstehen.
 
+++  Szenenwechsel +++
Ich sehe ein anderes Trümmerfeld. Auch hier: Zerstörte Häuser, zerbrochene Existenzen. Die ausgebrannten Fenster sehen aus wie tote Augen. 
Doch die Krater in der Straße, die Einschusslöcher an der Hauswand zeigen deutlich: Das waren Menschen, keine Naturkatastrophe. 
Ich rieche Rauch und Asche in der Luft. In der Ferne höre ich das laute Krachen von Raketen, die einschlagen. Die Erde Zittert leicht.
Vor mir auf der Straße hastet eine Familie entlang. Sie blicken sich ängstlich um – kein Feind in Sicht. Rasch rennen sie an mir vorbei. Die Mutter trägt ein kleines Kind auf dem Arm. Das Kind weint. Die Blicke der Eltern sind ganz leer vor Trauer und Verzweiflung. Schnell sind sie um die nächste Ecke gebogen. Ich höre ein lautes Dröhnen. Ich schaue nach oben und sehe das nächste Kampfflugzeug über mir…
 
Warum, Gott? Warum passiert das? Warum lässt du so etwas zu?! Soll es eine Strafe sein? Eine Strafe für vergangene Sünden? Ist Leid die verdiente Strafe?
Was muss ein krankes Kind verbrochen haben, damit es einen Raketeneinschlag in sein Krankenhaus als gerechte Strafe verdient??!
NEIN! Leiden kann keine Strafe sein!
 
Aber warum dann, Gott? Warum dann…? Warum passiert soetwas in der Welt? Warum können Menschen, warum kann die Welt so grausam sein? Warum lässt du das zu, Gott? Wie soll ich da noch Hoffnung haben? Wie soll ich den Mut haben, ein Kind in so eine Welt zu setzen?
Bist du der Gott, der mir Zukunft verheißt?
 
+++ Szenenwechsel +++
Ich sehe einen Mann, der auf dem Boden sitzt. Um ihn herum ein verfallenes Haus. Er sitzt in der Asche – allein. Sein Körper ist über und über mit wunden Stellen versehen. Er hast die meisten Kleider abgelegt, sie brennen einfach zu sehr auf seiner Haut. Er hält eine Scherbe in seiner Hand. Damit schabt er sich – hofft auf Linderung. Tiefe Falten durchziehen sein Gesicht. Falten der Trauer und des Schmerzes. Er hat alle seine Kinder verloren. Er hat sein ganzes Hab und Gut verloren. Und nun sitzt er hier in den Trümmern. Todkrank.
Seine Frau kommt zu ihm. Sie schüttelt erstaunt den Kopf: „Hältst du immer noch an Gott fest? Nach allem, was dir passiert ist? Lass ab von Gott und stirb! Etwas anderes kannst du sowieso nicht mehr tun.“ Er antwortet: „Aber wir nehmen doch das Gute von Gott an, dann sollen wir doch auch das Schlechte annehmen (?) Eine Unsicherheit schleicht sich in seine Stimme.
 
Von Gott kommt also auch das Böse? Und ich soll es einfach annehmen? Wie soll das gehen?!
Gott, bist du nicht die Liebe? Bist du nicht die tröstende Hand, die sich zu mir ausstreckt? So sagen doch immer alle. Hier sollst du aber die geballte Faust sein, die mir ins Gesicht schlägt?
Ich kann die Frau verstehen. Wie kann ich an einen Gott glauben, der soetwas tut?!
Ich bin dem hilflos ausgeliefert.
 
+++ Szenenwechsel +++
Ich sehe eine Person, die in ihrem Zimmer sitzt. Draußen vor dem Fenster ist es schon hell. Ein paar Vögel zwitschern. In ihr drin ist es aber dunkel – irgendwie erstickt. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Wieder sind ihre Gedanken und Gefühle in eine tiefe Schlucht abgestürzt. Hier ringt sie mit ihren Zweifeln, ihren Sorgen und Vorwürfen. Es ist zermürbend. Sie ist unsagbar schöpft. So unendlich müde. 
Und gleichzeitig hat sie große Angst. Angst vor dem, was kommt. Angst vor dem, was im Dunkeln lauert. Welche Gedanken und Erinnerungen sich in ihr Herz krallen und einfach nicht loslassen. Wann sie je wieder aufstehen kann? Sie weiß es einfach nicht. 
Diese Dunkelheit legt sich um ihr Herz und drückt langsam zu. Immer fester. Es ist kaum auszuhalten. Es ist zu schwer. Sie kommt nicht aus dieser finsteren Schlucht heraus. Es ist aussichtslos. 
So sitzt sie da und leidet – still.
 
Warum, Gott? Warum muss diese Person immer wieder so kämpfen, so leiden? Warum, Gott? Erkläre es mir! Ich halte diese Ungewissheit nicht aus. Ich bin verbittert und frustriert. Ich bin versucht, es aufzugeben – dich aufzugeben. Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe dich nicht, Gott!!
 
-Ich lade Sie und euch ein, mit mir einen Moment in Stille zu bleiben, danach singen wir die ersten beiden Strophen-
 
S  T  I  L  L  E
 
(EG 382,1-2)
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr
Fremd wie dein Name sind mir deine Wege
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott
Mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm du mir entgegen
 
Von Zweifeln ist mein Leben übermannt
Mei Unvermögen hält mich ganz gefangen
Hast du mit Namen mich in deine Hand
In dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?
 
Ich habe keine Antwort auf das „Warum“. Und ich bekomme auch keine Antwort darauf – zumindest nicht jetzt. Das ist schwer auszuhalten.
Und trotzdem spreche ich weiterhin mit dir, Gott. Und wenn ich keine Worte habe, dann schweige ich eben mit dir.
Ich spreche mit dir, Gott. Auch wenn der Zweifel mich übermannt. Wenn ich überall nur noch Leiden sehe. Wenn ich selber leide. Wenn alles ein einziger Notstand ist. Wenn ich keine Hoffnung mehr habe.
So wie Hiob. Er leidet so sehr, dass er sich wünscht, nie geboren worden zu sein.
Oder so wie Jesus. In der Zeit seiner größten Schmerzen, seines größten Leids am Kreuz fragt er: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Pure Verzweiflung spricht daraus.
Ich kann Jesus verstehen. Ich kann mit Jesus gemeinsam hoffnungslos sein.
 
Und ich bin versucht, dich loszulassen, Gott. Dem ganzen Leid nachzugeben – einzuknicken, weil ich dich nicht verstehe. Ich bin versucht, den Glauben an dich aufzugeben, Gott. Ich bin versucht, dich aufzugeben, Gott!
 
Aber du gibst mich nicht auf. 
Ich zweifle an dir, Gott, aber du nicht an mir. Du sprichst zum Satan, dem personifizierten Bösen, dem Symbol für das, was Leid verursacht, dem Widersacher – du sprichst zu ihm: „Versuch es doch! Versuch doch, mich von meinenMenschen zu trennen! Selbst wenn du sie leiden lässt – wenn du sie schlägst, krank machst – sogar, wenn du sie tötest: Ich gebe sie nicht auf! Und auch wenn sie zweifeln, wenn sie ihren ganzen Kummer, ihren ganzen Frust vor mir hinwerfen: Ich lasse sie nicht los!“
Gott, du hältst an uns fest – hältst an mir fest.
 
So weit mein Gespräch mit Gott.
 
Gott hält an uns fest. Manchmal kann ich das vor lauter Leid und Bitterkeit nicht sehen, nicht verstehen, nicht glauben.
Aber vielleicht kann es dann jemand von Ihnen und euch für mich sehen. Oder umgekehrt. Zumindest so lange, wie ich es nicht sehen kann.
Dann kann jemand für mich die Gewissheit haben: Gott gibt dich nicht auf. Gott hält an dir fest – und es wird weitergehen.
Versprochen.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
 
-Wir singen die dritte Strophe (EG 382,3)-
Sprich du das Wort, das tröstet und befreit Und das mich führt in deinen großen Frieden / Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, 
Und lass mich unter deinen Kindern leben 
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst 
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

Gott, der Versucher und ich. Predigt zu Hiob 2,1-13 am 26. Februar 2023 (Invocavit) von Paul Wingberg

Predigttext aus Hiob 2

Gott, der Versucher und ich. Predigt zu Hiob 2,1-13 am 26. Februar 2023 (Invocavit) von Paul Wingberg

Predigt Teil 1

Gott, der Versucher und ich. Predigt zu Hiob 2,1-13 am 26. Februar 2023 (Invocavit) von Paul Wingberg

Predigt Teil 2

Der Bogen der Starken wird zerbrochen - Predigt zu 1. Samuel 1,1-11 (Predigtreihe 22.1.-19.2.2023) von Charlotte Scheller

Mit den Kindern ist es so eine Sache. Sie sind lang ersehnt oder kommen unverhofft. Sie werden im Bauch der Mutter getragen. Unter dem Herzen. Mit Freuden erwartet oder voll Sorge. Mit Schmerzen und voller Kraft geboren. Und dann beginnt es schon, das Loslassen. Wer selbst Kinder hat, weiß das. Und alle anderen auch. Jeder und jede von uns ist schließlich Kind gewesen und groß geworden. Hat das Loslassen erfahren und das Losgelassenwerden. Schleichend oder schmerzhaft oder befreiend. Oder alles zusammen. 

1 Hannas Geschichte
Vom Kinderkriegen und Loslassen handelt Hannas Geschichte. Sie muss ihren Sohn Samuel hergeben. Er ist noch nicht groß geworden. Kaum hat sie ihn geboren, kaum kann er laufen und reden und die ersten klugen Fragen stellen, muss sie ihn hergeben.  
Eine Frauengeschichte. Hanna hat sich jahrelang nach einem Kind gesehnt. Und im Stillen viele Tränen vergossen. An den Feiertagen war es besonders schlimm. Wenn die ganze Familie zum Tempel hochging, um Gott ein Dankopfer zu bringen. Wenn die Frauen kein anderes Thema kannten als ihre Kinder. Sie waren Sinn und Erfüllung ihres Daseins. Kinder bedeuten Zukunft. 

Das Essen blieb Hanna im Hals stecken. Die Tränen liefen, sie konnte nichts dagegen machen. Hanna, sagte ihr Mann. Hanna, warum willst du nichts essen? Warum ist dir das Herz so schwer? Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne?  

Dann nimmt Hanna ihr Herz in die Hand. Sie steht auf, stellt sich in die Tür des Tempels. Klagt dem Ewigen, dem Herrn im Himmel ihr ganzes Leid. Ach Gott, Herr Zebaot! Sieh, wie elend es mir geht. Denk doch an mich. Schenk mir einen Sohn. Ich bin deine Dienerin, Herr der Heerscharen. Das Kind, das du mir schenkst, soll dir auch dienen. Sein ganzes Leben lang. Ach Gott! Sie betet lange. Zuletzt redet sie mit dem Priester, Eli. Der sitzt an der Tür und dachte, sie ist betrunken. Nein, mein Herr, sagt Hanna. Ich habe die ganze Zeit nur gebetet, weil ich Kummer habe und verzweifelt bin. – Geh in Frieden, sagt Eli. Der Gott Israels wird dir geben, worum du gebeten hast. – Amen, kommt es von Hanna. Sei so gut und denk an mich! Dann ist sie gegangen. Zurück zur langen Tafel. Sie hatte Hunger und in ihr Gesicht hatte sich ganz leise ein Lächeln geschlichen. 

Jetzt ist sie hier, um das Versprechen einzulösen. Drei Jahre ist sie zu Hause geblieben. Jetzt ist der Kleine abgestillt. Hanna ist zum Tempel gekommen. Mit dem kleinen Jungen an der Hand. 

Verzeihung, sagt sie zu Eli, dem alten Priester. Bei meinem Leben. Ich bin die Frau, die damals hier neben dir gestanden und gebetet hat. Ich hab um diesen Jungen hier gebetet. Er heißt Samuel, das heißt Von-Gott-erbeten. Ich hab ihn nicht nur für mich erbeten. Auch für Gott. Er soll Gott dienen, sein ganzes Leben lang.  

Hanna ist stark. Sie traut sich, ihr Kind loszulassen. Sie traut Samuel zu, ein Diener Gottes zu werden. Sie traut Eli zu, für Samuel zu sorgen und seine besondere Begabung zu erkennen. Sie vertraut Gott.  

2 Hannas Lied vom Frieden
Hanna singt. Der ihre Geschichte aufbewahrt hat im ersten Buch Samuel, legt ihr einen Psalm in den Mund. Ein leidenschaftliches Lied. Damals hat ihr der Kummer die Kehle zugeschnürt. Nun lässt das Glück ihr den Mund übergehen. Über die Feinde, die ihr das Leben schwer gemacht haben, Menschen um sie herum und dunkle Gedanken in ihr drinnen, über diese Feinde lacht sie jetzt. Mein Herz ist voll Freude über den Herrn. Der Herr hat mich wieder stark gemacht. 

Damals hat sie ihren Kummer zu Gott getragen. Jetzt ist sie wieder zu Gott gekommen mit ihrem Dank. Sie hat mit Leib und Seele erlebt, dass Gott es gut meint mit ihr. Sie hat sich und ihr Kind in den Dienst des Höchsten gestellt. Größer geht es nicht. Gott steht fest wie ein Fels. Er hat die Säulen der Erde gebaut und die Welt darauf gegründet. Der Höchste hat das Licht von der Finsternis getrennt und Gutes von Bösem unterschieden. Er hat gezeigt, wohin die Reise geht. Gott führt ins Totenreich und wieder heraus.

Gott hat Hanna ein Kind geschenkt und eine Zukunft eröffnet. Nun singt sie von der Zukunft, die Gott für alle seine Kinder bereithält. Und für die ganze Welt. Ungerechtigkeit und Unterdrückung werden nicht ewig andauern. Der Höchste wird alles umkrempeln. Das Unterste wird nach oben geholt. Gott wird die Verachteten ins rechte Licht rücken. Er wird die Armen aus dem Dreck holen. Er wird sie mit den Herrschenden an einen Tisch setzen und dafür sorgen, dass man sie mit Würde behandelt. Die Hungernden werden satt und die Übersättigten werden sich ihr Brot selbst verdienen müssen. Wer nach Gottes Willen fragt, wird sicher auftreten. Wer gottlos handelt, wer das Leben anderer gering schätzt, wer selbst den Herrn spielen will über das Leben seiner Untergebenen, auf den wartet der ewige Tod. Der Bogen der Starken wird zerbrochen. Denn Gott allein tötet und macht wieder lebendig. Der Herr der Heerscharen entwaffnet die Kriegsherren. Er schickt einen König, der Gerechtigkeit und Frieden bringt. Einen Retter, der seine Kraft vom Höchsten kriegt.  
 
Hanna singt aus vollem Herzen. Sie singt von der Hoffnung, die aus dem Glauben kommt. Nicht bloß ihr eigener Glaube. Der Glaube ihrer Vorfahren klingt in dem Lied. Die Gebete, die sie von ihrer Mutter gelernt hat. Die Geschichten, die ihr Vater erzählt hat. Die Lieder der Freundinnen. Das Auf und Ab der Geschichte ihres Volkes. So singen wir auch. Im Singen verbinden sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Für einen Moment erfahren wir Frieden. Bekennen unsere Hoffnung, unseren Glauben, unseren Zweifel. Leihen uns die alten und neuen Lieder. Legen unsere Klagen in sie hinein. Geben der Sehnsucht Worte und Ton. Wagen ein Lob. Wir bleiben nicht allein bei uns. Bleiben nicht stehen in der Welt, wie sie jetzt ist. Mit den ungerechten Verhältnissen, in die wir verstrickt sind. Mit den Kriegen, die uns unheimlich nahe gerückt sind. Mit den Unstimmigkeiten in unserem persönlichen Dasein. Im Singen lassen wir die Verzagtheit hinter uns. Die Müdigkeit. Die Zweifel. Wir lassen uns aufrichten. Lassen die Hoffnung wieder herein, dass es noch mehr als alles gibt. Dass Gottes Reich kommt und Frieden wird auf Erden.  
 
3 Versöhnung in dieser Welt
„Ich glaube an Gottes Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Ich glaube an die Schönheit des Einfachen, an die Liebe mit offenen Händen, an den Frieden auf Erden“. So heißt es schon 1990 im Friedensbekenntnis der Ökumenischen Versammlung von Seoul. Keine fromme Lyrik. Das Bekenntnis von Christinnen und Christen aus Afrika, Asien, Europa, 

Lateinamerika, Nordamerika, dem Nahen Osten, aus der Karibik und dem Pazifik ist politisch. Wie Hannas Psalm. Aus der Sehnsucht nach Frieden, aus der Hoffnung, dass Gottes Verheißung Wirklichkeit wird und die Niedergedrückten aufrichtet, wächst mutiges Handeln.  

Ich habe von einer jungen Frau gehört. Sie ist aus einem afrikanischen Land nach Göttingen gekommen. Am Groner Tor fand sie eine Unterkunft. In einem der Hochhäuser, die in einer Mischung aus Verachtung und Mitleid „Bunker“ genannt werden. Nach einigen Monaten konnte sie ausziehen. Aber sie ist in Verbindung geblieben mit den Menschen dort. Ihre Kirche ist ganz in der Nähe. Samstags bietet die Frau dort eine Kinderstunde an. Spiele. Etwas zu trinken, ein kleiner Imbiss. Eine Geschichte aus der Kinderbibel. Wenn die Kinder nicht von allein kommen, geht sie in das Hochhaus. Wandert über die Flure. Klopft an die Türen der winzigen Wohnungen. Redet mit Händen und Füßen. Lädt ein, geleitet die Kinder ins Gemeindehaus und wieder zurück in die Unterkunft. Die meisten sprechen Romanes. Ob sie die Bibel-Geschichte verstanden haben, ist nicht sicher. Aber sicher ist, sie sind einer mutigen Frau begegnet. Sie wagt etwas Ungewöhnliches. Sie bezeugt Gottes Barmherzigkeit und lebt den Frieden, der von Gott kommt.  

Vereinzelt können wir sie wahrnehmen, die Friedensmomente. Ich seh sie als Gottesgeschenk. Sie lassen aufatmen, machen Mut, vertreiben Tränen, locken ein Lächeln hervor. Wenn ein Kindergartenkind aus der Ukraine, ins Spiel versunken, die verstörenden Erlebnisse für ein Weilchen vergisst. Wenn eine Organisation junger Christ*innen Freiwillige in die ukrainische Stadt Dnipro schickt, und jetzt auch in die Erdbebengebiete in der Türkei und in Syrien, damit sie Hilfsgüter verteilen, bei Evakuierungen helfen und sich um Kinder kümmern, die nicht zur Schule können. Wenn ihre Eltern sie loslassen und für ihren Dienst segnen. Wenn andere sie mit Spenden und Gebet unterstützen. Wenn nach der Andacht im Christophorushaus eine Teilnehmerin mich einfach mal umarmt und mir einen Kuss auf die Wange drückt. Wenn wir in der Gemeinde oder der Region zusammensitzen, eine bunt gewürfelte Schar, jede mit ihren eigenen Ängsten und Hoffnungen, mit Glauben und Zweifeln, und der Raum von Gesprächen summt. Dann ist es Zeit, sich über Gottes Hilfe zu freuen. Er wird uns stark machen zum Frieden. Amen.  

Der Bogen der Starken wird zerbrochen - Predigt zu 1. Samuel 1,1-11 von Charlotte Scheller

zur Predigtreihe "Friedensbilder" Januar/Februar 2023 von Charlotte Scheller

Hast du schon mal Gott gesehen? Predigt am 15. Januar 2023 von Annika Weise

zu 2. Mose 33,18-23
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“, fragte mich Matteo, mein vierjähriges Babysitter-Kind und schaute mich dabei mit großen Augen an. Erwartungsvoll und ein wenig herausfordernd.
 
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Was soll ich antworten? Was würden Sie antworten? Natürlich muss ich Nein sagen. Ich muss Matteo enttäuschen – und alle anderen, die von einer angehenden Pastorin erwarten, dass sie über geheime Einsichten und Offenbarungen verfügt. Das tut sie aber nicht.
 
Allerdings: So ganz wohl ist es mir mit dem Nein auch nicht: Denn natürlich habe ich Erfahrungen mit Gott – nur nicht solche, die das Wort „Sehen“ im wörtlichen Sinne rechtfertigen. Wie soll ich darüber reden?
 
Wo es keine leichten Antworten gibt, wo weder Ja noch Nein so ganz richtig sind – da erzählt die Bibel Geschichten. Kaum einer ist in der Bibel Gott derart nahegekommen wie Mose im Sinai. Hören wir heute seine Geschichte – aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 33, 18-23:
 
Der Herr sprach zu Mose: Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.
 
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Ganz sicher kannte Mose diese Frage auch. Zumal alle wussten: Mose redet mit Gott. Regelmäßig. Er ist auf den heiligen Berg Horeb gestiegen. Er war drin in der Wolke, näher dran als sonst irgendeiner. Natürlich hat er Gott gesehen –wenn nicht er, wer dann?
 
Und doch kann Mose auf die Frage nicht ehrlich mit Ja antworten. Und das setzt ihm zu. Der Widerstand im Volk wächst. Seine Autorität ist umstritten. Je umstrittener die Wahrheit ist, für die man eintritt, umso dringender wünschte man etwas Unabweisbares in der Hand zu haben. Etwas, worüber nicht mehr argumentiert und gestritten werden muss.
 
Auch als Studierende wünschte ich manchmal, die Sache mit Gott wäre klarer, augenscheinlicher. Wir könnten die Zweifler und Spötter einfach widerlegen. 
 
Immerhin: Mose hat den Draht zu Gott. Er wendet sich direkt an ihn mit seinem Anliegen. Die Fragen der Anderen vermischen sich darin mit seinem eigenen Zweifel. Wir belauschen eine Art Backstage-Gespräch zwischen Gott und Mose, das große Vertrautheit belegt, aber eben auch eine letzte Reserve. Gott sagt dem Mose die schönsten und aufmunterndsten Dinge, die man sich denken kann: „Du hast Gnade bei mir gefunden.“ „Ich kenne deinen Namen.“
 
Doch diese Zusagen reichen Mose nicht. Er will mehr. Und so entsteht aus dem merkwürdigen Dialog eine noch merkwürdigere Szene – eine Art Versuchsanordnung, die Gott selbst vorschlägt. Die Szene liest sich wie ein Gleichnis für die menschliche Gotteserfahrung.
 
Der Mensch Mose soll sich in eine Felsspalte stellen. Da wird er sicher sein, geschützt vor der Urgewalt der göttlichen Präsenz. Der sichere Ort ist aber auch ein Ort beschränkter Sicht. Und die Deckung reicht noch nicht einmal – wenn Gott dann tatsächlich draußen vorbeigeht, sollen Mose die Augen zugehalten werden. Gott selbst hält Mose die Augen zu. Die Heiligkeit Gottes blendet wie das Sonnenlicht, in das man nicht ungeschützt schauen kann, ohne zu erblinden. Erst nachdem Gott vorbeigegangen ist, darf der Mensch Mose ihn von hinten sehen: im Weggehen und im Nachlassen seiner göttlichen Kraft.
 
Was für ein Bild! Gott ist für den Menschen einfach zu viel, jedenfalls Gott direkt, Gott in seiner Herrlichkeit. Darüber darf die Menschlichkeit Gottes in der Bibel nicht hinwegtäuschen: Es bleibt ein „unendlicher qualitativer Unterschied“ zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie der Theologe Karl Barth das genannt hat. Wenn Gott Gott ist, dann kann ihn kein Mensch fassen.
 
Was für ein Gedanke! Dass wir Gott im Moment seiner größten Nähe am wenigsten erkennen können. Es ist ein Paradox, das an vielen Stellen der Bibel anklingt, nicht zuletzt im Kreuz Jesu. Da, wo das Rätsel unseres Lebens besonders groß ist, wo uns die Fragen quälen, wo Dunkel uns umgibt – da werden uns womöglich nur die Augen zugehalten und Gott ist gerade nahe. Ohne dass wir ihn „sehen“. Ohne dass wir verstehen, was mit uns geschieht.
Mose macht eine Erfahrung an der Grenze. Nicht an Gottes Grenze. Nein, die Begegnung mit Gott konfrontiert ihn mit seiner eigenen Beschränktheit und Verwundbarkeit.
 
Darüber reden wir in der Kirche kaum. Wir reden über Gottes Freundlichkeit und Zugänglichkeit – zu Recht, denn beides erfährt Mose auch in dieser Geschichte. Aber wir reden selten über die Grenze, die uns Menschen gesetzt ist. Über die Fremdheit und Unverfügbarkeit Gottes. Darüber, dass wir Menschen Gott nur in Maßen „aushalten“. Wir vertragen die Wahrheit vorerst nur dosiert. In Abschattungen und Annäherungen.
 
Die gute Nachricht dieser Geschichte ist: Wir können Gott trotzdem erkennen. Der Prozess der Begegnung mit Gott wird hier sogar ziemlich genau beschrieben. In vier Schritten – und von Gott selbst.
 
"Zuerst – sagt Gott – will ich vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen“.
Damit beginnt es: Ich nehme Spuren wahr in meinem Leben. Ich realisiere dankbar und fröhlich, was mir an Gutem widerfährt.
 
Als zweites – sagt Gott – „will ich ausrufen den Namen des Herrn vor dir.“
Irgendwann haben wir von Gott gehört. Manche von Kindesbeinen an, manche erst viel später. Wir haben den Namen Gottes kennengelernt, und das heißt: die Geschichten, die Botschaft, die Zusagen, die sich mit diesem Namen verbinden. Mag sein, dass wir das Gehörte und das selbst Erlebte nur schwer zusammen bekommen haben. Dafür braucht es Zeit – und Abstand.
 
Denn es kann passieren – sagt Gott als drittes –, dass „ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten“ werde.
Das Nicht-Verstehen und Zweifeln kann ein notwendiger Teil der Begegnung mit Gott sein. Und alle, die zu schnell wissen, wer Gott ist und was Gott will, die machen sich womöglich etwas vor.
 
"Schließlich aber – sagt Gott – will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen“. 
Nach einer Weile macht es Klick. Was wir erlebt haben und was wir von Anderen hören, reimt sich zusammen. Wir erkennen uns und unser Leben in Gottes Licht – oft erst im Nachhinein. „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, hat der Philosoph Sören Kierkegaard gesagt. Das gilt für Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gleichermaßen. Wir sehen Gott gleichsam im Rückspiegel. Wir „haben“ die Wahrheit nie, sondern blicken ihr nach. Wir dürfen verstehen – aber nur so, dass wir uns nicht überheben.
 
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Wenn diese Frage Ihnen gestellt wird, liebe Gemeinde, dann ermutige ich Sie, nicht einfach Nein zu sagen.
Dann erzählen Sie von den Spuren der Güte Gottes in Ihrem Leben.
Dann berichten Sie vom Namen Gottes, den andere Ihnen vorgesprochen haben. Dann reden Sie ehrlich über Unsicherheit und Zweifel.
Und vielleicht können Sie bezeugen, wie sich im Rückblick so manches zusammenfügte. Wie Ihre eigene Geschichte Sie auf den unsichtbaren Gott vertrauen lässt.
 
Denn sehen können wir Gott nicht. Aber erfahren lässt er sich sehr wohl und wir können uns sicher sein, dass er uns sieht. Amen.

Du, Gott, siehst nach mir. Predigt zur Jahreslosung 2023

von Charlotte Scheller

Du, Gott, siehst nach mir. Predigt zur Jahreslosung 2023

aus Genesis 16 von Charlotte Scheller

Hagar ist in der Wüste. Sie ist weggelaufen. Da, wo sie herkommt, ist es nicht mehr auszuhalten. Wohin? Sie weiß es nicht. Sie ist schwanger, ihr Herr hat mit ihr geschlafen. Ein Vorschlag ihrer Herrin Sarai. Die konnte nicht länger untätig bleiben. Zu lange hat sie schon gewartet, dass sich Gottes Versprechen erfüllt. Abram soll Ab-Raham werden. Vater von Vielen. Mit Nachkommen, zahlreich wie die Sterne am klaren Himmel. Begründer eines großen Stammes. Aber sie, Sarai, kann keine Kinder kriegen. Jedenfalls ist sie nicht schwanger geworden all die Jahre. Damit ist ihr Dasein unnütz. Unfruchtbar ihr ganzes Leben, ohne Zukunft, so ist es nun mal. Abram ist alt geworden, genau wie Sarai. Klug ist sie, die Herrin, führt ihrem Mann die Sklavin Hagar zu, damit sie ein Kind austrägt. Einen Sohn. Wenn sie ihn auf Sarais Schoß gebärt, ist er ihr Kind. 
 
Immerhin. Nebenfrau, Geliebte des Chefs, ist besser als Sklavin. Mit dem Kind im Leib, mit der guten Hoffnung, hat Hagar Macht gewonnen. Sie ist jung. Sie ist schön. Vor allem aber: Sie trägt Abrams Kind. Die Zukunft der Familie. Gottes Versprechen, es liegt in ihr. Hagar ist nicht mehr die Behandelte, nicht mehr bloß Besitz, jetzt handelt sie selbst. Sie lässt Sarai, die Herrin, ihre Verachtung spüren. Du, Sarai, hast die Fäden ziehen wollen. Hast, da der Allmächtige sich so lange Zeit gelassen hat, nachhelfen wollen und selbst etwas unternommen, damit die göttliche Verheißung wahr wird. Dein Plan geht nicht auf. Tja.
 
Sarai beklagt sich bei ihrem Mann. Abram zuckt die Achseln. Deine Magd. Mach mit ihr, was du willst. Sarai will, dass es aufhört. Dass die Frau mit dem schwellenden Bauch ihr aus den Augen geht. Dass sie nicht dauernd sehen muss, was ihr nicht geschenkt wurde. Und wonach sie sich so glühend sehnt. Sarai hat Mittel und Wege, um ihrer Magd das Leben zur Hölle zu machen. Irgendwann ist Hagar alles egal. Der Herr. Das Kind in ihrem Bauch. Sie will nur noch weg. 
 
In der Wüste findet sie sich wieder. Am kalten Boden. Unter dem klaren Nachthimmel. An einem Wasserloch. Sie muss eingeschlafen sein. Jedenfalls ist da etwas. Ein Lichtschein. Eine Stimme, die sie aus wirren Träumen ruft. 
Hagar, du Magd Sarais, wo kommst du her? - Wohin ich nicht zurückkann. 
Wo gehst du hin? 
Hagar antwortet nicht. Aber sie horcht in die Stille hinein und hört sie wieder. Eine Stimme in der Wüste. Irgendeiner, der plötzlich da ist, ein Engel, eine Botin, von Gott geschickt. Geh zurück zu deiner Herrin. Ordne dich ihr unter. 
 
Ich kann nicht. Kapierst du das nicht? Aber der Engel, oder wer immer es ist, redet weiter. Ich mache deine Nachkommen so zahlreich, dass man sie nicht zählen kann. Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael nennen. Das bedeutet „Gott hat gehört“. Denn Gott hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast. Dein Sohn wird wie ein Wildesel. Trotzig wie du. Widerborstig. Rastlos. Voller Leben, genau wie du.
 
Hagar hat am Boden gekauert. Die Knie angezogen, die Arme um den Bauch geschlungen. Jetzt dreht sie sich auf die Seite. Stützt sich auf dem staubigen Untergrund ab. Setzt einen Fuß auf. Den zweiten. Richtet sich auf, strafft langsam den Rücken, legt die Hand auf den Bauch, hebt den Kopf zum Sternenhimmel. Zahlreich. Gott sieht nach mir. Das ist sein Name. Und so heißt ab jetzt auch der Brunnen. Beer-Lahai-Roi. Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. 
 
Gott sieht nach mir. Ich erfahre Fürsorge. Wie die Studentin, die mit Fieber im Bett liegt und der Mitbewohner sieht nach ihr. Brauchst du was? Soll ich dir was einkaufen? Eine Suppe warm machen? Tee kochen? 
 
Der nach Hagar sieht, schickt einen Boten. Der setzt ihr den Kopf zurecht. Geh zurück. Ordne dich unter. Nicht unter Sarai letztendlich, sondern unter Gottes Willen: Du sollst Leben schenken, sollst Teil der Familie bleiben, auch wenn eure Geschichte einer Seifenoper gleicht wie alle Familiengeschichten. Du bist die Stärkere. Weglaufen führt nirgendwo hin. Hagar geht zurück, aber sie ist eine andere. Sie geht zurück, weil das zu Gottes Plan gehört. Weil das Leben in ihr, der Wildesel, Schutz braucht. Weil Leben schenken und Lebendiges bewahren Kompromisse notwendig macht. Weil Gott sie gesehen hat und einen Boten geschickt, eine Freundin, ein Ja zu ihr. Nun muss sie nicht mehr auf Sarai herabsehen und auch sonst auf keinen. Ihre Kraft kommt von innen, von Gottes Aufmerksamkeit, davon, dass er ihr den Engel nachgeschickt hat. Der dich behütet, schläft noch schlummert nicht. Gott geht dich suchen. Auch Hanna wird davon singen, viel später, schwanger mit Samuel nach vielen Jahren der Sehnsucht. Gott hebt die Dürftige aus dem Staub. Samuel, auch sein Name bedeutet „Gott hat erhört“. Und Maria wird das Lied wieder aufnehmen. Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen, singt sie, schwanger mit Jesus, den sie Immanuel nennen soll, „Gott ist mit uns“. Gott sieht nach uns, Gott hört, wenn wir ihn rufen in unserer Not. Die Ewige hört auch unsere stummen Schreie.
 
In der Wüste kannst du Gott begegnen. In der Nacht, in der Kälte kannst du etwas vom Wasser des Lebens finden. Plötzlich ist ein Wort da, ein Lied, ein Freund, ein Ja zu dir. Ein Engel. Das ist nicht bloß ein Nothelfer. Ein Engel kann auch ein Kopfzurechtrücker sein. Eine, die dir sagt: Kehr um. Du rennst in die falsche Richtung. Du rennst immer mehr in die Wüste rein, rennst wie Hagar Richtung Schur, das heißt Mauer. Du rennst in eine Sackgasse, aber dein Platz ist da, wo du herkommst. 
 
Gott sieht nach mir. Gott ist eine Wasserquelle. Gott gibt Leben. Gibt einer Frau Macht, die vierfach untergeordnet ist: Frau, Ägypterin, Magd, schlecht Behandelte. Ihre Flucht misslingt, sie muss zurück in die Abhängigkeit und Fürsorge. Und ihr Sohn Ismael, „Gotthatgehört“, wird einmal heimatlos umherwandern. Aber gerade die Heimatlosen hört Gott. Die Unbehausten. Die Lebendige sieht alle, die in der Wüste sind durch eigene Schuld oder durch schlechte Behandlung. Der Herr im Himmel überlässt dich nicht deinem Schicksal, selbst wenn du nicht übel Lust hättest zu sterben. Gott sieht nach dir, schickt eine Botin, die macht Wadenwickel, kocht Hühnersuppe, misst Fieber, betet für dich, damit du wieder Kraft kriegst und dahin zurückgehen kannst, wo du gebraucht wirst. Damit, was du an Leben und Zukunft in dir trägst, beschützt wird und eines Tages herauskommt. 
 
Zum Schluss nehmen wir uns einen Moment zum Nachdenken. 
 
Wenn mich heute Nacht ein Engel aufspürt oder eine, die Gott schickt, mich beim Vornamen nennt und mich fragt: Woher? Wohin? - was werde ich antworten? 
Was verbirgt sich in mir an Lebendigem und will ans Licht kommen? 
... ... ... 
 
Gott sieht nach mir. Jedem seiner Kinder geht er nach. Er sucht uns, wie der Hirte das verlorene Schaf sucht, bis er es findet und nach Hause trägt. Er macht stark, was an Gutem heranwachsen will in uns. Er gibt sein Leben für uns. Geht mit durch die Wüste, durch die Hölle des Todes, ins Leben. Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Er behütet dein Weggehen und dein Wiederkommen. Jetzt und immer. Amen. 

Krippenspiel zum Hören und Predigt

Das Lied der bunten Vögel, Predigt zum 4. Advent 2022 von Johanna Bierwirth

In Ghana gehen die Kinder an Weihnachten von Haus zu Haus und singen das Lied von den bunten Vögeln. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg und für alle ist es ein großer Spaß, denn sie bekommen für ihren Gesang Süßigkeiten. Das Lied von den bunten Vögeln handelt von folgender Geschichte:

 

In einem Wald lebten fünf Vögel nahe beieinander. Der eine hatte weiße Federn, so weiß wie die Wolken am Himmel. Der zweite hatte flammend rote Federn, so rot wie die Blüten der Jacaranda Bäume. Der dritte hatte ein tiefblaues Gefieder, so blau wie der Himmel über Ghana. Der vierte hatte gelbe Federn, so leuchtend gelb wie die saftigsten Zitronen an den Bäumen. Und der fünfte hatte grüne Federn, so grün wie die Blätter im Wald. Auf der Suche nach Essen, so erzählen die Alten, entdeckten die Vögel, dass mit ihnen im Wald ein alter Mann lebte. Er sei, so hieß es, sehr großzügig. Also spannten die fünf prächtigen Vögel ihre Flügel aus und machten sich auf dem Weg zu ihm. Als sie von oben sein Häuschen entdeckten, stimmten sie ihren Kanon an: „Tse Tse Kule“ sangen die einen, „Tse Tse Kunsa“ die anderen, immer im Wechsel und immer schneller. Es klang als würde ein fröhlicher, vielstimmiger Chor durch die Luft tanzen. „Wir sind Geschwister, keiner kann uns trennen, einer für alle und alle für einen.“ Der alte Mann war hingerissen von dem Gesang und überhäufte die gefiederten Freunde mit dem besten Futter. So kamen sie jeden Morgen bei Tagesanbruch wieder und ernteten als Dank für ihren betörenden Gesang reichlich zu fressen. Doch irgendwann kam dem Vogel mit den weißen Federn der Gedanke: "Wenn ich früher als die anderen da bin und alleine singe, bekomme ich die köstlichsten Körner für mich alleine." Als gerade die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont strichen, flog der weiße Vogel allein los. Als er zur Hütte kam, stimmte er sein Tse tse an, es war kein vielstimmiges, fröhliches Lied, sondern nur ein einstimmiges tse, tse. Der alte Mann stürmte nach draußen, um zu sehen, wer den Lärm veranstaltete. Er erkannte den einsamen weißen Vogel nicht wieder und verscheuchte ihn. Nur kurz darauf kam der rote Vogel und stimmte sein einsames Lied an. Dann kam der blaue, der gelbe und der grüne Vogel, jeder versuchte für sich allein mit seiner Kunst den Alten zu betören und jeder wurde von dem Alten fortgejagt. Betrübt flogen sie zurück zu ihren Nestern, es dauerte eine Weile, bis der weiße Vogel von seinem Misserfolg erzählte, dann berichteten auch die anderen von ihrem missratenen Versuch. Erst herrschte betretenes Schweigen, dann mussten alle lachen, weil sie so töricht gewesen waren. Die Fünf beschlossen, künftig nur noch gemeinsam zu singen. Sie machten sich auf zu dem alten Mann, schließlich hatten alle lange nichts gegessen und waren sehr hungrig. Der Alte freute sich schon, als er die fünf prächtigen Vögel kommen sah. Er berichtete ihnen von den „komischen Vögeln“, die über seiner Hütte aufgetaucht waren und so gelärmt hatten. So schön wie an diesem Abend hatten die fünf Freunde noch nie gesungen, sie waren wieder vereint.

 

Im 4. Kapitel des Philipperbriefes stehen folgende Zeilen: 

Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

 

Ein Satz, den wir jeden Sonntag hier im Gottesdienst hören. Hier in Christophorus hören wir ihn immer nach den Abkündigungen. Wenn berichtet wird, was unsere Gemeinde vorhat, wann sie sich treffen wird und für was wir Spenden sammeln. Zusammensein, füreinander Dasein, Bitten und Geben. Ich glaube, da ist er ein Stück da, der Friede Gottes. Dieser Friede, auf Hebräisch Schalom, ist nicht die Abwesenheit von Krieg. Sondern Friede meint hier die Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Ich spüre diese Gemeinschaft ganz besonders im Weihnachtsgottesdienst. Da ist das für mich ganz präsent, deswegen freue ich mich auch so auf Weihnachten. Und das sagt auch Paulus im Brief an die Philipper: Freut euch! Freut euch, wenn ihr etwas vom Frieden Gottes spürt! Er fordert die Gemeinde auf, nicht für sich selbst zu sorgen, sondern füreinander. Und das in dem Wissen, dass Gott auch für diesen Frieden sorgt. Ein fröhliches Sorgen, ein beherztes sich Kümmern. Kein Sorgen, das einengt und Angst macht. Sondern ein Sorgen mit Mut und Liebe und der Gewissheit, dass Gott da ist.

In der Geschichte von den bunten Vögeln kommt mir dieser Gedanke nahe. Zusammen singen sie und bekommen ihr Futter. Alles scheint gut zu sein. Aber dann merkt einer: Ach, es wäre doch viel vernünftiger, ich würde allein singen und das Futter nur für mich haben. Aber einer allein kommt nicht weit. Im Gegenteil: Sie fliegen hungrig nach Hause. Aber wenn die bunten Vögel zusammen bleiben und als Gemeinschaft füreinander sorgen und miteinander singen, dann entsteht etwas Wunderbares: Der Friede Gottes wird für mich in dieser Geschichte sichtbar. Und dass Friede manchmal nicht vernünftig ist. Zumindest das, was wir oft unter Vernunft verstehen. Der Friede Gottes ist aber höher als die menschliche Vernunft. Daran müssen die Vögel erst erinnert werden. Der Friede Gottes fällt nicht einfach so vom Himmel. Der Friede möchte auch empfangen werden. Die Vögel merken plötzlich: Als wir zusammen gesungen haben, war es schöner. Und sie freuen sich, dass sie wieder zusammen sind. Und auf einmal ist der Friede wieder da.

Ich weiß aber auch, dass nicht alles gelingt, und sorgen wir noch so beherzt füreinander. In der großen weiten Welt gibt es Hunger und Krieg, auch wenn wir an Weihnachten mit Spenden und Gebeten viel für andere sorgen. Und auch hier in der Gemeinde finden sich viele helfende Hände, aber nicht alle sind versorgt. Ist der Friede Gottes also gar nicht da? Nur ein frommer Wunsch einer Predigerin?

Doch, er ist da. Den Frieden Gottes kann man nicht als etwas denken, was es nur ganz oder gar nicht gibt. Denn ich spüre ja, dass es Frieden hier auf der Erde gibt. Ich nehme aber auch so viel um mich herum wahr, was man ganz und gar nicht als Frieden bezeichnen kann. Hier in dieser Welt ist der Friede noch am Keimen. Ich glaube daran, dass der Friede Gottes ganz und gar da sein wird, wenn wir in Gottes Reich sein werden. Bis dahin aber suche ich den Frieden hier auf der Erde. Ich glaube, der Friede Gottes kann auch ganz klein und ganz kurz da sein. In kleinen Gesten, in kleinen Taten, in kleiner Hilfsbereitschaft. Und das selbst an den kältesten und dunkelsten Orten. Ein Teelicht hat auch nur eine kleine Flamme, aber in einem völlig dunklem Raum sieht es jede und jeder. 

Ich freue mich darauf, an Weihnachten etwas von dem Frieden Gottes zu suchen und zu entdecken.

Das Lied der bunten Vögel, Predigt zum 4. Advent 2022 von Johanna Bierwirth

Klopfzeichen. Predigt am 1. Advent 2022 von Charlotte Scheller

zu Offenbarung 3,14-20

Klopfzeichen. Predigt am Ersten Advent 2022 von Charlotte Scheller

zu Offenbarung 3,14-20 (Text unter der Predigt)

Klopfzeichen. Tack! Tack-tack-tack! 
Angespanntes Horchen, dann verhaltener Jubel: „Sie haben zurückgeklopft, es muss jemand am Leben sein, wir machen weiter, wir holen sie raus!“ Die Stimme des Leiters der Rettungskräfte. Und weiter: „Ist jemand verletzt? Bitte antworten!“- „Alle wohlauf“, ist aus der Tiefe zu hören. – „Wollt ihr irgendwas Besonderes zum Essen haben?“ – „Eine Zigarette, wenn‘s geht“. Lengede, Sonntag, 27. Oktober 1963, siebzehn Uhr zwölf, drei Tage nach dem Grubenunglück. 79 Kumpel konnten sich retten, bis jetzt sind 29 Tote zu beklagen. Wider besseres Wissen hat die Grubenleitung weiter bohren lassen. Die Klopfzeichen bedeuten: Die Verschütteten leben, zumindest die drei da unten. Bundeskanzler Erhard kommt, ein Telefon wird zu den Eingeschlossenen hinuntergelassen. „Ich habe gute Nachrichten hier oben gehört“, sagt er ihnen, „alle Deutschen sind mit Ihnen verbunden in der Zuversicht, dass Sie wieder das Licht des Tages erblicken werden“. Eine Zigarette gibt es vorerst nicht, aber Essen und Trinken werden den Erschöpften geschickt. Sie müssen weiter aushalten, viele Meter unter der Erde, in Dunkelheit, Nässe und Kälte, noch fünf Tage, bevor sie aus der Tiefe geborgen werden können. Später werden elf weitere Überlebende gerettet.
 
Klopfzeichen. An der Kirche von Laodizea. Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Laodizea ist eine reiche Stadt im Westen der heutigen Türkei. Bekannt durch ihr Bankwesen, ihren Wollhandel, die Ärzteschule. In der Augenheilkunde mischt man eine Salbe mit Quellwasser und Kräutern. In der Gemeinde pflegt man Glauben und Wohltätigkeit. Hier kannst du Christ sein, aber unauffällig, gerade so, dass es nicht peinlich ist. Weil du aber lau bist, lautet die Botschaft des Klopfenden, weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Wärst du bloß eindeutig, richtig kalt oder richtig heiß! Lauwarmes Salzwasser ist ein Brechmittel. Eure Haltung, liebe Christinnen in Laodizea, ist zum Kotzen. 
 
Harte Worte. Ein Blauer Brief. Absender Johannes. Er schickt Nachrichten vom Retter, Jesus Christus, von dem, der Amen heißt. Amen, das bedeutet: Das Gesagte ist wahr, sicher und verlässlich. Was geredet und was getan wird, sind ein und dasselbe. Nichts ist hinzuzufügen. Wie rettet Jesus? Mit seinem Wort, scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Mit seinem Blick aus Augen wie Feuerflammen. 
 
Wieso rettet er überhaupt? Du sagst, steht in dem Blauen Brief, Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts! Ich bin in keiner Tiefe, bin nicht verschüttet, habe weder Hunger noch Durst, muss nicht um mein Leben fürchten und um keine Zigarette betteln. Gott sei Dank brauchen wir keinen Retter, wir bilden brav eine Rettungsgasse, wenn der Notarztwagen Richtung Uniklinik unterwegs ist, wir beten für die, die in Not sind, wir spenden, was wir können, trinken fair gehandelten Kaffee und sind froh, dass wir über die Runden kommen. Wir haben alles im Griff. Du sagst, ich brauche nichts, lässt er uns sagen, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Sind wir noch zu retten?
 
Tack! Tack-tack-tack! Noch ist Zeit. Er steht vor der Tür und klopft. Weil er uns lieb hat, weist er uns zurecht. Auch wenn es wehtut. Wie es nur eine gute Freundin tun darf, dir sagen, wo du richtig daneben liegst. Wie es nur ein liebevoller Vater darf oder ein treuer Mentor, dich auf den blinden Fleck in deiner Wahrnehmung aufmerksam machen. Hier, nimm die Augensalbe, dann siehst du klarer. Tack-tack. Soll ich aufmachen? 
 
Wenn er denn etwas hat, das ich mir selbst nicht geben kann. Ich bin ja hergekommen, weil ich von ihm was wissen will. Weil ich doch irgendwie auf Rettung warte, weil ich auf meine ganz eigene Art im Dunkeln hocke, in Nässe und Kälte und Todesangst, selbst wenn ich es warm und trocken habe. Ich warte. Er sagt, durch die noch geschlossene Tür hindurch sagt er: Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 
 
Er hat Gold, das im Feuer geläutert ist. Das ist etwas anderes als das, was man sich kaufen kann, wenn man denn Geld hat. Musik in Molltönen, die Tiefe erwächst aus der Klage. Eine Freundschaft, die lange besteht und manchen Streit überdauert hat. Eine Partnerschaft, die Höhen und Tiefen erlebt und gehalten hat. Eine Gemeinde, die sich immer wieder neu zusammenfindet und es schafft, für die Leute vor der Tür da zu sein. 
 
Er hat weiße Kleider, um die Scham zu bedecken. Ich darf die weißen Sachen anziehen. Die Erinnerung: Du bist getauft. Schon längst gerettet. Aus den dunklen Gedanken herausgezogen, aus den Versagensängsten und Schuldgefühlen, aus der nasskalten tiefen Nacht. Vor Gott muss ich nicht verstecken, wofür ich mich in Grund und Boden schäme. Ich kann die Tür aufmachen, mich zeigen, wie ich bin, und mich von ihm in den Arm nehmen lassen mitsamt meiner Unzulänglichkeit. 
 
Er hat Augensalbe, damit du sehen mögest. Ich sehe, ich kann nichts ohne ihn. Ich kriege meine Sehstörungen nicht allein in den Griff. Ich brauche sein Urteil und seinen liebevollen Blick, um klar zu sehen, was not tut und wer mich jetzt braucht. Er heißt Amen. Er bringt gute Nachrichten von oben. Die Zuversicht, dass ich Licht sehen werde, dass wir alle das Licht des Lebens sehen werden in dieser Welt und am Ende der Zeit. 
 
Sage ich, ich brauche nichts? Oder warte ich auf Klopfzeichen? Und wenn Gott anklopft, wie kriege ich das mit?
 
Ich erfahre sein Klopfen in einem Reichtum, wertvoller als jedes Bankkonto. Eine schenkt mir ihr Vertrauen, ein Lächeln, das ansteckt und Tränen vertreibt.
Einer lässt sich nicht abwimmeln, obwohl ich mich schäme und keinen sehen will. Er klingelt und hängt ein Geschenk an meine Tür, weiß verpackt. Schokolade und ein Brief. Du hast mich verletzt. Aber du bist und bleibst mir wichtig. 
Ich träume kurz vor dem Aufwachen, im Traum wage ich einen Schritt, den ich all die Tage zuvor nicht gesehen habe. Jetzt sehe ich klar, ich werde ihn gehen. Gerettet!
 
Jesus klopft behutsam an. Sein Klopfen ist leicht zu überhören. Er fällt nicht mit der Tür ins Haus. Sündig, elend und arm, das hält ihn nicht davon ab, anzuklopfen. In Laodizea. In Christophorus Göttingen. An meiner Herzenstür. Wer sagt, ich bin reich, ich brauche nichts, den bedrängt er nicht. 

Mache ich auf? Lasse ich mich ein auf das, was kommt, Menschen, Herausforderungen? Ich will seine adventlichen Geschenke haben. Klare Sicht auf die Not und die Schönheit in dieser Welt. Freundschaft und Nähe trotz meiner Fehler. Reiche, erfüllte Lebenszeit. 
 
Jesus ist nicht lau. Er ist leidenschaftlich für uns. Er gibt nicht auf, nach uns zu suchen, er bohrt nach und schickt Klopfzeichen, wenn wir lange verschüttet sind. Er bringt gute Nachrichten. Wir werden das Licht des Tages sehen. Sein Klopfen sagt: Rettung ist unterwegs.

14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: 15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest! 16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17 Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! 20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir. 

Lied 351 Ist Gott für mich, so trete

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Mein Herze geht in Sprüngen

Predigt zu Lied 351 am Ewigkeitssonntag 2022

Mein Herze geht in Sprüngen. Predigt am Ewigkeitssonntag 2022 von Charlotte Scheller

zu Lied 351 Ist Gott für mich
 
Gemeinde: EG 351,1+2
Nun weiß und glaub ich’s feste. Haben wir den Mund zu voll genommen? Ein Lied des Gottvertrauens singen an einem Tag, wo der Tod zum Greifen nahe scheint? Ein Lied gegen Trauer, Verlassenheit und schmerzhafte Erinnerungen? Überhaupt singen. Noch höre ich niemanden singend zurückkommen, der morgens mit Tränen zur Arbeit gegangen ist. Noch führt keine Straße mit fröhlichen, befreiten Menschen vom Friedhof durch die Stadt. Noch kenne ich niemand ohne Sorgen, ohne Ängste, ohne Schmerzen. Alle, die in diesem Jahr vor einem offenen Grab gestanden haben, wissen, wie einem da die Stimme versagt. Wer einen Menschen hergeben musste, weiß, wie tief das Dunkel sein kann, durch das man hindurch muss. Und immer wieder die Frage: Was wird aus mir? Mein Mann, meine Frau, meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter ist nicht mehr am Leben. Wie soll ich damit fertig werden? 
 
Menschen trauern auf verschiedene Weise. Wer kann einem schon sagen, wie man damit fertig wird? Eine Studentin geht nicht mehr zur Uni. Statt dessen ist sie draußen, in den Feldern, im Wald. Ganze Tage ist sie mit ihrem Hund unterwegs, redet mit keinem Menschen. Redet in Gedanken mit ihrer Mutter, die gestorben ist. Sie war lange todkrank und doch ist ihr Tod unerwartet gekommen. Die junge Frau fühlt sich entwurzelt, aus allem herausgerissen, ohne Zuhause. Erst als die Wiesen morgens weiß sind vom Raureif, gibt sie ihre Wanderungen auf. Ein Freund nimmt sie mit zur Chorprobe. Das Requiem von Brahms wird geübt. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Die Stimmen der anderen geben ihr Halt. Die Worte und Klänge helfen ihr, ins Leben zurückzufinden. Sie kann nicht sagen, warum. 
 
Ist Gott für mich, so trete / gleich alles wider mich; / sooft ich ruf und bete, / weicht alles hinter sich. / Hab ich das Haupt zum Freunde / und bin geliebt bei Gott, / was kann mir tun der Feinde / und Widersacher Rott? (EG 351,1)
 
Den Liedern von Paul Gerhardt kann ich mich nur schwer entziehen. Sie machen Mut. Sie spenden Trost. Auch wenn ich nicht sagen kann, warum. Sind es die Worte oder ist es der Klang? Die Melodie stammt aus England. Die Worte kommen aus dem Herzen eines Mannes, der Schweres erlebt hat. Dieses Lied hat Paul Gerhardt vor gut dreihundertsechzig Jahren gedichtet. Er ist Pfarrer in Mittenwalde in Brandenburg. Da sind zu der Zeit überall die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges gegenwärtig. Von tausend Menschen leben noch zweihundertfünfzig. Viele sterbenskrank. Gerhardt und seine Frau haben selbst das bitterste Schicksal erlitten. Von ihren fünf Kindern sterben vier. Nur ein Sohn bleibt den Eltern. Wie kann man das überstehen? Welcher Freund wird nicht müde, solche Klagen anzuhören?
 
Nun weiß und glaub ich feste, / ich rühm’s auch ohne Scheu, / dass Gott, der Höchst und Beste, / mein Freund und Vater sei / und dass in allen Fällen / er mir zur Rechten steh / und dämpfe Sturm und Wellen / und was mir bringet Weh. (EG 351,2) 
 
Feste. Auch wenn der Verstand nicht mitkommt, das Herz möchte glauben. Möchte in Sturm und Wellen den Allerhöchsten an seiner Seite wissen oder wenigstens glauben. Wie einen guten Vater. Wie eine mitfühlende Freundin. Wie jemand, der nicht von deiner Seite weicht, wenn du durch das Dunkle musst. Aber ist er wirklich da? Auch für Paul Gerhardt ist Leiden eine Glaubensanfechtung. Sie mündet aber in der Erfahrung, dass Gott sein Leiden trägt. Dass der Glaube sein Halt ist. Leiden und Tod lassen uns manches Mal an Gott zweifeln. Seltsamerweise können wir aber gerade in der Verzweiflung Gott auch als besonders nahe erfahren. Der Lieddichter ermutigt uns, das Leiden nicht zu verdrängen. Es ist Teil des Lebens. Gerhardt hat keinen billigen Trost. Keine allgemein gültige Weisheit. Er spricht von sich selbst als einem verletzlichen Menschen. Ich bin vom Unheil betroffen. Ich werde von anderen verurteilt oder verurteile mich selbst. Was ich durchmache, ist die Hölle. Aber Gott sieht mich und mein Leben ganz persönlich. Er deckt mich mit seinen Flügeln, weil er mich liebt. 
 
EG 351,6+7
 
Menschen trauern auf verschiedene Weise. Wer kann schon sagen, wie man mit dem Leiden fertig wird? Mit dem eigenem. Und mit dem der Menschen, die man liebt. Der schwedische Autor Fredrik Backman erzählt von einer Mutter. Sie hat ihren Sohn verloren, als er noch ein kleines Kind war. Umso mehr versucht sie, ihre anderen Kinder zu behüten. Jetzt muss sie miterleben, wie ihrer Tochter Unrecht geschieht. Ihr ist Gewalt angetan worden. Der Täter wurde angezeigt. Aber es gibt keine Beweise. Die Ermittlungen werden eingestellt. Die Mutter merkt, sie hat auch ihr zweites Kind nicht beschützen können. Sie trauert. Sie ist wütend. Auf den Täter, auf die Welt und auf sich selbst. Sie steigt ins Auto und fährt in den Wald. So weit sie kann. Sie knallt die Fahrertür so heftig zu, dass sich das Blech verbiegt. Dann steht sie da und brüllt ihren Schmerz hinaus. Das Echo wird in ihrem Herzen nie verstummen.
 
Auch in den Versen von Paul Gerhardt ist es noch zu hören, das Echo des Schmerzes. Aber da ist noch ein anderer Ton. Nicht nur der Schmerz klingt in seinem Herzen nach. Sondern auch das Vertrauen. Gegen alle Vernunft. Wo hat er das her? Woher kommt dieser andere Ton in ihm? Vielleicht hat die Mutter an seinem Bett gesungen, als er ein Kind war. Vielleicht hat er einmal in höchster Angst geschrien und sein Vater hat ihn bei der Hand genommen. Irgendeine Erfahrung hat ein Körnchen Vertrauen in ihm gesät. Gottes Geist. Der hilft ihm das Abba schreien / aus aller meiner Kraft. Ich verstehe das so: Egal, ob ich im Wald stehe oder in der Kirche sitze oder vielleicht mit einem Freund spazieren gehe, ich kann meinen Schmerz hinausschreien. Laut oder leise. Abba, das heißt Vater. So können wir Gott nennen und ihm jeden Schmerz vor die Füße werfen. Laut brüllend oder flüsternd oder ganz unhörbar. Wie uns der Schnabel gewachsen ist oder mit den Worten eines alten Liedes. So oder so können wir unserem Herzen Luft machen. 
 
Was mich an Paul Gerhardts Lied berührt: Es bleibt nicht bei der Trauer stehen. Auch nicht bei der Gottesverbundenheit. Am Ende lässt sich das Herz bewegen. Es kann nicht für immer traurig bleiben. Auch wenn das Echo des Schmerzes nie ganz verstummt, kann es sich doch wieder öffnen. Das Sonnenlicht wieder hereinlassen. Sich erlauben, sich wieder zu freuen. Zu lachen. Die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Die Sonne, die dem Herzen lacht, ist Jesus Christus. Und was den Menschen, in dessen Brust es schlägt, singen lässt, ist, was im Himmel ist. Was ist im Himmel? Da wohnt Gott selbst ganz nah bei den Menschen. Er wischt alle Tränen von ihren Augen. Da gibt es den Tod nicht mehr und Leid und Geschrei und Schmerz sind verschwunden. 
 
Singen wir miteinander von dieser Hoffnung. Nehmen wir einander in den Zeiten der Angst bei der Hand. Stützen wir uns gegenseitig, dass es niemanden mehr ohne Hoffnung gibt. Denn Gott selbst will unser Leben erneuern und verwandeln. Wir werden erleben, wovon wir jetzt noch träumen. Unser Mund wird voll Lachens sein, aus tiefstem Herzen, und unsere Zunge wird Gott rühmen.   
 
EG 351,13

Dranbleiben! Predigt am Vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, 13.11.2022, zu Lukas 18,1-8

von Charlotte Scheller (angeregt durch eine Bibelarbeit von Margot Käßmann beim Kirchentag 2013)

Wer schon mal in Göttingen im Kino war, kennt den Spot. Alte Dame, sehr aufrechte Haltung, heller Blazer, rote Bluse, Perlenkette, weiße Haare, Brille, strenges Gesicht. Musik ist zu hören, schrill, abgehackte Akkorde. Die Frau wendet den Kopf, würdevoll. Man sieht einen jungen Mann, hemdsärmlig, eben hat er ein sargtiefes Loch geschaufelt, nun schiebt er ein rotes Auto hinein. Dann steht die Frau neben ihm, schlägt mit ihrem Gehstock auf seine Arme, zeigt ihm ein Telefonbuch. Das Örtliche. Hampe-Werbung vorne drauf. Schwenk, ein blauer Lastwagen fährt auf einen Schrottplatz, eine Kranschaufel greift ein kaputtes Auto, wir sehen den Mast mit dem Firmenschild. Hampe Recycling. Der Werbespot dauert knapp zwanzig Sekunden. Alle, die in den vergangenen 28 Jahren in Göttingen ins Kino gegangen sind, kennen ihn. Er ist Kult.
 
Dreißig Sekunden braucht Jesus, um folgende Geschichte zu erzählen:
In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‹«
 
Es folgen zwanzig Sekunden für die Anwendung: 
Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden? 
 
Weniger als eine Minute Lesezeit. Und alles drin. Was Jesus sagt, ist unmittelbar verständlich. Die ihm zuhören damals, haben Erfahrung mit ungerechter Behandlung. Mit willkürlichen Richtern. Damit, dass du kämpfen musst, um zu deinem Recht zu kommen. Und womöglich auch damit, dass das Gespräch mit Gott oft ein zähes Ringen ist. 
Die Geschichte ist witzig. Und absolut klar, wer hier der Böse ist und wer die Gute. Wie in dem Spot mit der Hampe-Oma. Ein Mann, eine Frau. Einer mit Macht und eine ohne Macht. Einer, der Angst kriegt und eine, die unerschrocken bleibt.
 
Die Frau nervt. Manchmal müssen Menschen das, um zu ihrem Recht zu kommen. In der jüdischen Bibel werden Witwen, Waisen und Fremdlinge in einem Atemzug genannt. Männer und Frauen mit wenig Rechten. Sie stehen unter Gottes besonderem Schutz. Wer Achtung hat vor Gott, soll für sie eintreten. Nicht aus Mitleid, sondern weil die Kinder Israels selbst fremd waren in Ägypten. Weil ihr Gott sie von der Unterdrückung in die Freiheit geführt hat. Und wer weiß schon, wann du selbst die Zuwendung eines Menschen zum Überleben brauchst?
 
Die Witwe kommt immer wieder, um den Richter zu bedrängen. Er soll tun, was seine Aufgabe ist: Recht sprechen. Es wird um Vermögenssachen gehen, nachdem ihr Mann gestorben ist. Um ihre Existenz und ihre Würde. Sie lässt sich nicht abwimmeln, obwohl ihr klar sein muss, der Richter ist korrupt. Wo nimmt sie die Kraft her, ihn immer weiter zu bedrängen? Sie hat, anders als Oma Hampe, nichts Schlagkräftiges in der Hand. Sie hat nichts als ihre Beharrlichkeit.
 
Ich lese von einer Frau in Simbabwe. Tsitsi Dangarembga. Sie ist Schriftstellerin. Letztes Jahr hat sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. Sie musste mehr als dreißig Mal zum Gericht.  Zwei Jahre lang wurde gegen sie ermittelt in Harare. Sie hat an Demonstrationen teilgenommen. Ein Schild hochgehalten, auf dem stand: "Wir wollen etwas Besseres, reformiert unsere Institutionen". Sie protestiert gegen Korruption. Man wirft ihr ungenehmigte Versammlung vor, Anstiftung zur Gewalt, Verstoß gegen die Covid-Regeln, Bigotterie. Nun ist sie verurteilt worden. Geldstrafe. Sechs Monate Haft, zur Bewährung ausgesetzt. Fünf Jahre unter strenger Kontrolle. Ein Anschlag auf das Recht der freien Meinungsäußerung. Auf die Rechte derer, die Schutz brauchen. Sie kämpft weiter, beharrlich.
 
Der Richter hat keine Achtung vor Gott. Und nimmt keine Rücksicht auf Menschen. Er ist konsequent in seiner Selbstbezogenheit. Jesus nennt ihn den ungerechten Richter. Juristen würden ihm Willkür vorwerfen. Dabei ist er sehr klar über sich selbst: Ich habe keine Achtung vor Gott und nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Er macht weder sich noch anderen was vor. Gott ist ihm egal und er ist kein Menschenfreund. Die Frau geht ihm auf den Geist. Er würde sie gern vergessen, aber nun stellt er sich vor, sie könnte ihm einen Schlag ins Gesicht verpassen. Es sind seine Gedanken, Jesus sagt nicht, dass sie ihm gedroht hätte. Das ist witzig, das Kino in seinem Kopf bewegt ihn, von seinen gottlosen Prinzipien abzuweichen. Ehe sie mich schlägt, verhelfe ich ihr lieber zu ihrem Recht. 
 
Seine Phantasie, das mit dem Schlagen. Selig sind, die Frieden stiften, lehrt Jesus. Er verzichtet auf jede Gewalt. Und stirbt einen gewaltsamen Tod. Seine Freunde sagen, Gott hat ihn auferweckt von den Toten. Gottes Zeichen: Am Ende ist Leben. Im Frieden. Der auferstandene Herr kommt wieder, um sein Friedensreich groß zu machen in unserer Welt. Aber bis es so weit ist, kann es geschehen, dass gewaltsam Unterdrückte sich zusammentun und sich wehren. Notfalls mit Gewalt. Bis der Gegner die Waffen streckt und die Grenzen neu abgesteckt werden und die Witwen zu ihrem Recht kommen und Waisen und Fremdlinge Schutz finden, wie es ihnen zusteht. 
 
Hört genau hin, sagt Jesus. Selbst der ungerechte Richter tut schließlich, was die Frau erbittet. Wird dann nicht Gott erst recht denen, die er liebhat, zu ihrem Recht verhelfen, wo sie doch Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Ich sage euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen!
 
Ich höre das. Aber was, wenn ich andere Erfahrungen mache? Es gibt das lange Warten. Die Durststrecken im Glauben. Das Gefühl, dass Gott schweigt, dass mein Rufen ins Leere geht, mein Flehen, mein stummes Gebet. Gerade dann, wenn ich ganz unten bin. Wenn ich Gott am meisten brauche. Wenn ich nicht schlafen kann vor Sorge um einen Menschen, den ich liebhabe. Wenn ich die Bilder vom Krieg nicht aus dem Kopf kriege. Die Nachrichten von den verschwundenen Kindern aus Cherson und Mariupol. Von den Protesten im Iran nach dem Tod der sechzehnjährigen Masha Amini, von den Festnahmen, von den mehr als zweihundertfünfzig weiteren Toten. Wenn ich Tag und Nacht gebetet habe: Bitte nicht, Gott, bitte, bitte nicht! Und das Schlimmste doch passiert. Wenn meine Schülerin in der Krankenpflegeschule mich fragt: Wie kann er so viel Leid zulassen, Ihr Gott, und ich stumm bleibe, weil Gott uns warten lässt, was dann?
 
Mir dämmert, Lukas erzählt diese Geschichte nicht, um mir zu sagen: Wenn du nur lange genug nervst, macht Gott das, was du dir wünschst. Es geht ums Dranbleiben. Die Witwe lässt nicht locker. Sie hält den Kontakt, ruft sich in Erinnerung, läuft Tag für Tag bei dem mitleidlosen Richter auf, damit er sie nicht aus dem Kopf kriegt. Damit sich die Sache zwischen ihm und ihr nicht erledigt. Die Einleitung der Geschichte bei Lukas, das Intro des Spots vom Richter und der Witwe: Jesus wollte den Jüngern deutlich machen, dass sie immer beten sollen, ohne darin nachzulassen
 
Immer beten. Offenbar sind die Christ*innen, denen Lukas schreibt, müde geworden im Beten. Offenbar ist noch nicht eingetreten, was ihnen versprochen wurde. Dass Gottes Reich kommt. Dass der Menschensohn wiederkommt und Recht spricht. Dass allen Menschen geholfen wird. Lasst den Gesprächsfaden nicht abreißen, sagt Lukas. Gerade nicht auf den dunklen Strecken. Hört nicht auf, mit Gott zu reden. Hört auch, was ungerechte Richter sagen. Hört hin, schottet euch nicht ab von der Welt. Mischt euch ein, mischt mit, wo es möglich ist als Christ*innen, in dem Glauben, dass Gott es anders will, dass Gott kommt und Recht schafft. Lasst euch nicht davon abbringen, der Ewigen eure Sehnsucht hinzuhalten und euren Dank, die Freude, den Zweifel, sogar die Leere.
 
Ich muss an unsere Kirche denken. An die offene Tür und das Schild: Die Kirche ist geöffnet. An die Kerzen, die dort jeden Tag angezündet werden. An die drei Menschen, Mutter, Vater, Tochter. Sie waren nicht von hier, sie klingelten an dem einen Morgen, als noch zugeschlossen war, und sagten: Können wir bitte in die Kirche, unsere andere Tochter ist im Krankenhaus, sie wird operiert. Wir haben schon in der Klinikkapelle gebetet. Jetzt möchten wir hier eine Kerze anzünden. Wir können und wollen nicht lockerlassen, Gott zu bitten für unser Kind. Ich denke an die herausfordernden Momente, wo ich sage, ich kann das jetzt nicht, überhaupt nicht, mach du bitte, Gott, du hast mich schließlich hierhergebracht. Aber auch an ganz normale Zeiten, an das alltägliche Tun und Lassen, jeder Tag hat seine eigenen schweren Momente. Und die schönen. Not lehrt beten, aber die Freude tut es auch, die Freude lockt ein Lied auf unsere Lippen, ein Lächeln, ein Gottseidank. Ein Kind ist geboren. Eine Liebe wird gefeiert. Die Erleichterung, in einem freien Land zu leben, ohne willkürlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Es ist gut, einen Ort zu finden und eine Zeit im Tag, um anzudocken an Gott. Ein Lied, eine Kerze, im Stillen angezündet, ein Gedanke: Hier bin ich, Herr im Himmel, Ewige. Geh du heute mit mir. Wenn ich das Glockenläuten höre. Beim Aufwachen oder vor dem Einschlafen. Ein kurzer Satz, ein Atemzug zu Gott hin ist schon genug.
 
Zuletzt, erzählt Lukas, am Ende der Geschichte, sagt Jesus: Wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden? Ich glaube schon. Wenn der Menschensohn kommt, wenn Gott als Mensch unterwegs ist auf unserer Erde, wird er Leute finden, die Gott vertrauen. Männer und Frauen und Kinder, die sich nach Gerechtigkeit sehnen und sich davon nicht abbringen lassen. Die den Nächsten lieben und sich selbst, weil Gott es tut. Amen. 

Was gibt Halt? Anknüpfung an Ruts Gedanken

von Katharina Haley Raddatz

Was gibt Halt? Anknüpfung an Noomis Gedanken

von Charlotte Scheller

Was gibt Halt?

Gedanken zu Rut und Noomi Buch Rut, Kapitel 1 und 4

Rut (Katharina Haley Raddatz)
Ich kann Ruts Geschichte und ihre Gefühle sehr gut verstehen. Vor fast zwei Jahren habe ich meine Heimat auf den Philippinen verlassen und bin nach Deutschland gezogen. Das war keine einfache Entscheidung, aber ich wusste, dass Gott einen Plan für mich in Deutschland hatte. Tief in mir wollte ich auch meine deutschen Wurzeln näher kennenlernen. Am Anfang habe ich mich sehr fremd gefühlt hier in Deutschland. Alles war anders und das Klima war kälter. Aber ich habe mich in meiner Gemeinde in Springe sehr wohl gefühlt und wurde dort auch gut aufgenommen. Durch die Tiefen der Sehnsucht nach meiner Heimat und den schwierigen Prozess, meinen Platz

hier in Deutschland zu finden, habe ich erlebt, wie Gott mich gestärkt und gesegnet hat.

Noomi

(C. Scheller) Was gibt Halt? Noomi und ihr Mann haben alles zurückgelassen. In ihrem Heimatland, in ihrer Stadt Betlehem, war keine Zukunft. Die Stadt heißt „Haus des Brotes, aber sie konnten ihr Brot zu Hause nicht mehr verdienen. Sie sind nach Moab gezogen, Noomi und ihr Mann Elimelech. Sein Name bedeutet: Mein Gott ist König. Noomis Name bedeutet: Meine Freude. Ihre Söhne wandern mit ihnen aus. Machlon und Kiljon. Die Namen bedeuten: der Schwächliche und der Gebrechliche.

Was gibt Halt? Familie. Ein Zuhause. Nicht unbedingt der Ort, an dem du lebst. Aber die Menschen, die dich lieben. Mit denen du lachen kannst, die mit dir weinen und schweigen. Mit denen du den Glauben teilst, die Lieder, das Brot auf dem Tisch.

Noomi hat die liebsten Menschen verloren. Ihr Mann, Gott-ist-mein-König, ist gestorben und ihre Söhne, der Schwächliche und der Gebrechliche, sind auch tot. Die Schwieger- töchter sind ihr geblieben, Orpa und Rut. Sie haben noch keine Kinder, sind nicht durch Fleisch und Blut mit ihr verbunden. Noomi gibt sie frei. Mein Name bedeutet Freude, aber mein Schicksal ist zu bitter für euch. Geht nach Hause zu euren Eltern. Ihr seid von hier, ihr seid jung. Fangt von vorn an. Ich bin alt. Ich habe Sehnsucht nach meiner Heimat. Wo man meine Sprache spricht. Wo mir jedes Haus und jeder Baum vertraut sind. Wo abends der Duft von Brot, auf heißen Steinen gebacken, durch die Gassen zieht.

Die Schwiegertöchter weinen. Sie sind sich nah in der Trauer. Orpa gehorcht. Sie küsst ihre Schwiegermutter und kehrt ihr den Rücken. Wie ihr Name es sagt, die sich Abwendende. Rut widerspricht. Ich lasse dich nicht im Stich! Wo du hingehst, dahin gehe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott! Was auch immer dieser Gott mir noch antut – außer dem Tod kann mich nichts von dir trennen.

Was gibt Halt? Ruts Name bedeutet Freundin. Rut bleibt treu. Vertraut ihr Leben Noomis Gott an. Geht mit der Älteren in ein unbekanntes Land. Und da findet sie Leben und Freude. Wie tröstlich das ist. Du musst nicht selbst allen Glauben haben. Du kannst dich mitnehmen lassen zum Glauben von einer anderen. Von Noomi lerne ich: Selbst wenn du alle wegschickst, selbst wenn du sicher bist, du bist vollkommen allein auf der Welt, es gibt einen Menschen. Eine Freundin. Eine Tochter. Einen Sohn oder Gott weiß wen. Gott schickt dir einen Menschen.

Rut bleibt. Ihren neu geborenen Sohn legt sie der Schwiegermutter auf den Schoß. Obed. Sein Enkel wird ein berühmter König, David. Und einmal wird aus Ruts Treue und aus Noomis Stadt Betlehem, dem Haus des Brotes, ein anderer König hervorgehen. Einer, dessen Worte Halt geben. Sehnsucht stillen. Gesund machen. Einer, der selbst Brot ist für die Hungrigen und Licht für die Welt. Jesus Christus. Wir tragen seinen Namen.

Ungebetener Gast. Predigt am 23.10.2022 zum Besuchsdienstjubiläum (Charlotte Scheller)

zu Lukas 19,1-10

Ungebetener Gast. Predigt am 23.10.2022 zum Besuchsdienstjubiläum (Charlotte Scheller)

zu Lk 19,1-10 Zachäus
Es gibt Gäste, die lassen sich lange bitten. Andere laden sich ganz einfach selbst ein. Es gibt Gastgeberinnen, die haben richtig Stress, wenn Besuch sich ansagt. Putzen die Zimmer. Kaufen groß ein. Kochen und backen und schmücken. Andere stellen spontan noch einen Teller auf den Tisch. Gieß Wasser zur Suppe, heiß‘ alle willkommen. 
 
Zachäus, von dem wir eben gehört haben, ist gar kein Gastgeber. Er hat keine Einladungen verschickt. Im Gegenteil. Er hat sich auf einen Maulbeerfeigenbaum verzogen. Ein Beobachterposten. Zachäus hat gehört, dass Jesus in der Stadt ist. Er kann Leute gesund machen. Und vergibt Sünden. Das ist krass. Jeder vernünftige Mensch wird einsehen, dass das nur Gott kann, Sünden vergeben.  
 
Zachäus ist nicht besonders religiös. Eher ein Mann der klaren Fakten. Es zählt, was am Ende des Tages bleibt. Konkret, wieviel Geld in der Kasse ist. Die Zöllner kassieren bei den Einwohnern ab. Zachäus kassiert, was die Zöllner einnehmen, und leitet es weiter an die römischen Behörden. Natürlich nicht alles. Hier ein kleiner Betrug, da ein bisschen Erpressung. Zachäus ist reich. Er hat ein Haus, teure Klamotten und einen ansehnlichen Weinkeller. Trotzdem spürt er manchmal so was wie Sehnsucht, er weiß nicht, nach was. Jedenfalls will er diesen Jesus sehen. Er ist natürlich nicht so dumm und stellt sich mitten in die Menge unter die Halleluja-Sänger. Viel zu peinlich. Außerdem trampeln die ihn womöglich tot. Er ist ziemlich klein, wenn er nicht in seinem Oberaufseher-Sessel sitzt. Fast alle, die ihn kennen, sind wütend auf ihn. Deshalb sitzt er jetzt im Baum. Sehen und nicht gesehen werden. 
 
„Zachäus, komm runter!“ Das gibt es jetzt nicht. Der steht jetzt unten am Baum. Dieser Jesus. Er guckt hoch und sieht ihm direkt in die Augen. Die Tarnung ist im Eimer. Alle glotzen. Manche stoßen sich an und kichern. Jesus drängelt. „Schnell, steig runter. Ich muss heute bei dir zu Gast sein!“
 
Moment, denkt Zachäus. Er. Muss. Heute. Zu Gast sein. Bei mir?! Zachäus rutscht vom Maulbeerfeigenbaum runter, egal, wie dumm das aussieht, egal, ob er sich das Oberzollaufsehergewand zerreißt, er rennt nach Hause. Brot und Wein müssten noch da sein. Fleisch und Gemüse kann er unterwegs einkaufen. Alles soll richtig festlich sein! Er ist kein schlechter Koch. Bloß sitzt er meist alleine beim Essen. Wenn du immer als erster zum Buffet darfst, wird das auf die Dauer langweilig. Aber heute kommt Jesus, der hat sich selber eingeladen und Zachäus freut sich extrem. 
 
Jesus geht einfach hin. In unserem Besuchsdienst machen wir es anders. Wir fallen nicht mit der Tür ins Haus. Wir respektieren die Privatsphäre unserer Geburtstagskinder, rufen an, fragen: Passt es Ihnen heute oder darf ich wann anders kommen? Und wenn wir die Telefonnummer nicht kennen, schicken wir eine Karte. Ich besuche Sie gern, wenn Sie das möchten. Und hören mehr als einmal: Danke, sehr nett, aber Besuch muss nicht ein. Vielleicht ein andermal. 
 
Nicht so bei Zachäus. Er freut sich so sehr, dass er seinen Beobachterposten verlässt. Ob er mitkriegt, wie die andern rumstehen und sich ärgern? Das passt einfach nicht, finden die Freunde von Jesus. Ein Geldeintreiber, und Jesus geht zu dem ins Haus. Weiß er noch, was er selbst gesagt hat? „Glückselig seid ihr, die ihr arm seid. Denn euch gehört das Reich Gottes“. Wie kann Jesus sich bei einem Superreichen einladen? 
 
Zachäus hört nichts davon. Er kocht und brät, deckt den Tisch, schleppt Wein nach oben, zündet Kerzen an und freut sich wie verrückt! Sie werden wohl eine größere Runde sein da um Zachäus‘ Tisch, endlich mal, Jesus und seine engsten Weggefährten und Zachäus. Und die Meckerer hören auf zu meckern. Spätestens, als Zachäus zu dem Gast sagt: Sprich du das Dankgebet. Jesus nimmt das Brot und dankt Gott dafür. Er bricht es und gibt es weiter. So macht er es immer, wenn sie zusammen essen. Jesus und seine Freunde und manchmal auch Leute, die gar nicht dazu passen. Heute also bei Zachäus. Bei einem Menschen voller Schuld. Irgendwas krempelt sich gerade um in Zachäus. Nicht nur die Uniform hat einen Riss gekriegt. 
 
Was sie reden beim Essen, Jesus und Zachäus, erfahren wir nicht. Bloß dass sie zusammen sitzen. In Zachäus‘ guter Stube. Und dass Zachäus etwas ändert in seinem Leben nach diesem Besuch. Er hat Jesus in sein Haus gelassen. Hat ihn bewirtet und sitzt mit ihm am Tisch. Nicht draußen auf seinem Baum. Nicht in einem Gotteshaus. Sondern in seinem privaten Zuhause. Hier gibt es kein Oben und Unten. Hier sind nur zwei Menschen, die miteinander reden. Einander zuhören. Etwas teilen von ihrem Leben. Die vertrauten Abläufe durchbrechen und die Einsamkeit. So geschieht es oft, wenn Menschen aus der Gemeinde andere besuchen. Mit wieviel Liebe wird der Kaffee gekocht. Der Teller mit Keksen gereicht, manchmal mit zittrigen Fingern. Das Fotoalbum geöffnet und nicht selten das Herz. Einer ist gekommen, der nicht zur Familie gehört. Eine ist hier, weil sie mich besuchen will. Ich. Muss. Heute. Bei dir. Zu Gast sein!
 
Was geredet wird zwischen Besucherin und Gastgeber, wird nicht weitererzählt. Jedenfalls nicht im Detail. Manchmal zehrt der Gastgeber noch lange von dem Zusammensein. Und die Besucherin geht beschenkt nach Hause. Das Gespräch wirkt nach, die Gedanken gehen im Stillen weiter, die Begegnung hat gut getan. Manchmal ergibt sich eine neue Sicht. 
 
Zachäus ist zu einer Entscheidung gekommen. Er sagt zu Jesus: „Herr, sieh doch: Die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen. Und wem ich zu viel abgenommen habe, dem zahle ich es vierfach zurück.“ Ich kann mir vorstellen, wie alle plötzlich still sind, als er das sagt. Das Erstaunliche ist nicht, dass er alles zurückzahlen will, sogar vierfach. Das Erstaunliche ist das kleine Wort „Herr“. Zachäus war immer selbst der Boss. Aber jetzt soll Jesus der Bestimmer in seinem Leben sein. Er sagt „Herr“ zu Jesus. Er ist zu Gott zurückgekommen. Von Gott aus gesehen, hat er sowieso immer dazugehört. In Bibel-Sprache ist er ein „Sohn Abrahams“. Nur hat er das vergessen. Jetzt ist Jesus zu ihm ins Haus gekommen und Zachäus kann etwas anders machen in seinem Leben.
 
In Jesus ist Gott zu Besuch. Er will alle bei sich haben. Bei jedem zu Gast sein, unabhängig von der Herkunft, den Finanzen, dem Ansehen. Jesus zeigt uns, wie wir die Grenzen überwinden können, nach denen wir uns sonst sortieren. Er lädt sich ein bei einem, den die anderen nicht im Blick haben. Der sich selbst nicht im Blick hatte als Teil der Gemeinde. Jesus nimmt Platz. Zeigt Interesse. Widerspricht den Meckerern, die lieber nichts mit dem Außenseiter zu tun haben wollen. Und das Wunderbare ist: Er verlangt keine Gegenleistung. Er hält Zachäus seine Sünden nicht vor. Er will nicht bekehren. Er kehrt bloß selber ein bei einem Mitmenschen, einem Kind Gottes wie du und ich.
 
Das hat sich die Besuchsdienstarbeit auf die Fahne geschrieben. Seit 70 Jahren und für die Zukunft. Menschen aufsuchen da, wo sie zu Hause sind. Ohne Wertung. Wie oft hören Besuchende: Ich bin kein Kirchgänger. Aber ich freu mich, dass Sie kommen. Dann freuen sie sich selbst. Sie machen ihren Dienst gern. Hören zu. Lassen sich auf das Gespräch ein, das manchmal im Alltäglichen bleibt und manchmal in erstaunliche Tiefen führt. Immer kann etwas Wunderbares passieren, wenn jemand zu Besuch ist. Im Namen Jesu. Amen. 

Alles wird gut - Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis am 09.10.2022

Alles wird gut - Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis am 09.10.2022

Wenn sie spricht, hören die Mächtigsten der Welt zu. Nicht nur ihre Worte, auch ihre Jugend provoziert bei vielen Hörenden Ablehnung. Schon von klein auf hat sie begriffen, was andere nicht wahrhaben wollen. Ihr kindliches Gesicht lässt kaum ahnen, was für scharfe Worte aus ihrem Mund kommen. Sie scheidet damit die Geister. Wie ein Schwert fährt ihre Botschaft durch die Gesellschaft. Jetzt braucht sie Personenschutz. Aber sie redet und streikt weiter. Doch wieviel hat sich bisher wirklich verändert? Sie opfert ihre Jugend, aber der Rauch verweht. Was nützt es ihr denn, wenn ihr Gesicht in Schulbüchern abgedruckt wird? Jetzt ist sie berühmt und soll zufrieden sein, aber das war doch gar nicht ihr Ziel. Sie wollte, dass die Alten auf die Jungen hören. Dass das fette Europa hinübersieht zu den schmalen Inseln, die bald im Meer verschwinden. Sie ist angetreten gegen die Ignoranz der Welt. Aber ob Greta Thunberg es schaffen wird, dass die Menschheit wirklich aktiv gegen den Klimawandel wird, wissen wir noch nicht. 

Wenn er sprach, hörten die Ohmächtigen der Welt zu. Eigentlich gab sein Vater ihm den Namen Rolihlahla, was bedeutet: Am Ast eines Baumes ziehen. Gemeint ist ein Unruhestifter. Er stiftete Unruhe in einer Ordnung der Weißen. Ja, sie hatten alles ganz penibel geordnet. Hier die Weißen, da die Schwarzen. Eine Masse an Schildern zeigte ganz genau, wer wo eintreten durfte. Aber er redete gegen die Schilder an. Gegen die Ordnung. Seine Botschaft ließ ein ganzes Land beben. Also haben die Weißen versucht ihn zum Schweigen zu bringen. Immer wieder. 27 Jahre Gefängnis. Eine winzige Zelle, jeden Tag Maisbrei. Aber er redete weiter. Und die Menschen versammelten sich hinter ihm. Und dann hörten auch die Mächtigen zu. Als Präsident wollte Nelson Rolihlahla Mandela eine neue Ordnung schaffen, in der Schwarze und Weiße zusammen leben konnten. Eine Regenbogennation. Ein Lichtblick angesichts jahrhundertelanger kolonialer Verbrechen auf der ganzen Welt. Aber der Rassismus in unserer Gesellschaft und anderswo wirft noch immer lange Schatten.  

Wenn er sprach, hörten die Leute aus den Dörfern ihm zu. Er erzählte nicht irgendwas, vor allem nichts Privates. Seine Mutter ließ er abblitzen, als sie bei ihm sein wollte. Er sprach kaum über sie, er sagte auch nichts über seine Geburt oder Kindheit. Generell hatte er es nicht so mit Familie. Zumindest nicht mit seiner leiblichen. Er zog umher und erzählte Geschichten. Manche Geschichten fanden die Leute seltsam, aber irgendwie schön. Wie diese Geschichte vom kleinen Senfkorn, das zu einem großen Baum wird. Manchmal konnte er richtig hart sein. Wenn er sagte, man müsse sich das Auge ausreißen, wenn man eine andere Frau begehrte, wandten sich die Leute kopfschüttelnd ab oder begannen Streit. Er sagte: Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Seltsam, denn eigentlich sprach er doch auch von Liebe. Dass er das Licht der Welt sei. Aber nur weil da einer von Liebe sprach, wurde die Welt nicht liebevoller. Er ist dann gestorben. Als er nicht mehr sprechen konnte, sprachen andere für ihn. Sie haben ihr Bündel genommen, sind losgezogen und haben die Sache mit der Liebe weitergesagt. Leider oft auch mit dem Schwert. Kein Schwert aus Worten, sondern in echt. Jesus von Nazareth hat von Liebe gesprochen, aber oft waren seine Anhänger mehr Schatten als Licht für die Welt.

Im Jesajabuch steht:

Hört mir zu, ihr Bewohner der Inseln!
Gebt acht, ihr Völker in der Ferne!
Der Herr hat mich in seinen Dienst gerufen,
als ich noch im Mutterleib war.
Schon im Schoß meiner Mutter
hat er mir meinen Namen gegeben.
Er hat mir Worte in den Mund gelegt,
so scharf wie ein Schwert.
Versteckt in seiner Hand,
hat er mich bereitgehalten.
Wie einen spitzen Pfeil
hat er mich in seinem Köcher aufbewahrt.
Er sagte zu mir: »Du bist mein Knecht.
Du trägst den Namen ›Israel‹.
Durch dich will ich zeigen, wie herrlich ich bin.«
Ich aber sagte: »Ich habe mich vergeblich bemüht,
für nichts und wieder nichts meine Kraft vertan.
Doch der Herr verhilft mir zu meinem Recht,
mein Gott wird mich belohnen.«
Ja, der Herr hat mich schon im Mutterleib
zu seinem Knecht gemacht.
Ich sollte Jakob zu ihm zurückführen
und ganz Israel bei ihm versammeln.
So wichtig war ich in seinen Augen,
mein Gott gab mir die Kraft dazu.
Und jetzt sagt er: »Ja, du bist mein Knecht.
Du sollst die Stämme Jakobs wieder zusammenbringen
und die Überlebenden Israels zurückführen.
Aber das ist mir zu wenig:
Ich mache dich auch zu einem Licht für die Völker.
Bis ans Ende der Erde reicht meine Rettung.« 
 
 
Wer ist dieser Knecht Gottes, von dem dieses Lied handelt? Man kann sich den Kopf darüber zerbrechen, wen Jesaja hier meint. Die christliche Tradition kannte von Anfang an nur eine Antwort auf die Frage nach der Identität des Gottesknechtes: Natürlich Jesus Christus. Aber ist das wirklich so eindeutig? 
Das Lied über den Gottesknecht ist ein jüdischer Text, denn er steht in der jüdischen Heiligen Schrift, die wir Christ*innen als Altes Testament übernommen haben. Ich habe ein Interview mit der jüdischen Theologin Edna Brocke gelesen und war erschrocken. Sie erzählt darin, dass die Gottesknechtlieder viele Jahrhunderte lang nicht mehr in der Liturgie der Synagoge eingebunden worden seien. Warum? Weil die Christen mit ihrer Deutung, dass Jesus der Gottesknecht sei, so laut waren, dass der Text für Jüdinnen und Juden einen bitteren Beigeschmack bekomme habe. Erst in jüngerer Zeit fänden die Gottesknechtlieder wieder vermehrt Eingang in den jüdischen Gottesdienst. Beispielsweise an Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, der diese Woche gefeiert wurde. In der jüdischen Theologie gibt es viele Deutungen des Gottesknechtes. Es könnte das ganze Volk Israel gemeint sein, oder ein Teil davon. Es könnten besondere Einzelpersonen gemeint sein. Oder ein Prophet, der zur Zeit des babylonischen Exils lebte. Oder sogar ein Messias, der noch kommen wird. Ich finde es wichtig, dass wir jüdische und christliche Deutungen ins Gespräch miteinander bringen. Es hat mir neue Perspektiven auf den Text geöffnet. Ich kann die Geschichte Jesu mit dem Gottesknechtlied verknüpfen. Ich kann aber auch darüber hinaus weiterdenken. 
Was da über den Gottesknecht berichtet wird, ist eine Story über Helden: Es gibt Menschen, die etwas zum Guten verändern wollen. Die ein Ideal haben. Aber sie prallen gegen eine Mauer aus menschlicher Ignoranz und Hass. Und nicht alles gelingt! Sie scheitern auch, machen Fehler und am Ende fragt man sich vielleicht: Hat es irgendwas genützt? Aber die Hoffnung ist, dass Gott sie unterstützt. Gott gibt mir die Kraft! So heißt es im Lied. Und wenn kein Mensch auf der Welt einem die Entbehrungen dankt: Mein Gott wird mich belohnen. Gott ist das Licht der Welt und dieses Licht können wir weitergeben. Wer das Licht Gottes weiterträgt, ist Gottes Knecht und Gottes Magd. 
Ob auch Greta Thunberg oder Nelson Mandela von sich selbst sagen würden, dass sie Gottes Licht weitertragen, weiß ich gar nicht. Als ich das Gottesknechtlied gelesen habe, musste ich irgendwie an Menschen wie sie denken. Mir fallen viele ein, die sich für das Gute eingesetzt haben oder es immer noch tun. Und die dafür Ablehnung erfahren. Oder die Angst haben, sich vergeblich zu bemühen. Ihre Biographien auf das Gottesknechtlied zu beziehen, war ein Experiment. Ich wollte herausfinden, wieviel dieser Text mit Menschen heute zu tun hat. Und ich habe gemerkt: Ich muss kein Messias sein, um mich in diesem Text wiederzufinden. Mein ganz persönlicher Anknüpfungspunkt ist die letzte Zeile: Bis ans Ende der Erde reicht meine Rettung. Das gibt mir Hoffnung! Alles wird gut! Die Menschen fangen Kriege an, kaufen den Ärmsten das Getreide weg, verscherbeln unsere Erde. Aber alles wird gut! Es fühlt sich gerade gar nicht danach an für mich. Aber alles wird gut! Alles wird gut. Ja, Hoffnung klingt manchmal vollkommen unvernünftig. Aber noch unvernünftiger finde ich es, nicht zu hoffen. Denn dann habe ich schon verloren. Zum Glück glaube ich an Gott. Und mein Gott gibt mir diese Hoffnung, die ich so dringend brauche. Dieses Hoffnungslicht trage ich gerne weiter. Dann fühle ich mich wie eine ganze kleine Gottesmagd. Alles wird gut! Daran glaube ich. 
Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. So heißt es im Wochenspruch. Es könnte genauso gut der Leitspruch der Gottesmägde und Gottesknechte sein. Mit Glauben und Vertrauen an das Gute, an die Liebe, an Gott, kann die Welt und alles, was auf ihr schief läuft, überwunden werden. Bis ans Ende der Erde reicht seine Rettung. Ein Licht für die Welt. Ein Licht, das weitergetragen werden will. Alles wird gut.
Amen.

Sehen lernen. Minipredigt zum Erntedank 2022 von Charlotte Scheller

Zum Nachlesen unter diesem Beitrag

Sehen lernen. Minipredigt zum Erntedank 2022 von Charlotte Scheller

zu Markus 10,46-52 (Bartimäus)
In der Kirche werden wir es ausprobieren. Ein paar Momente nichts sehen. Blind durch die Kirche tappen. An der Hand eines anderen Menschen. Ohne zu wissen, wo es langgeht. Dann die Augenbinde abnehmen. Sehen, was da ist: bunte Tücher in allen Regenbogenfarben. Die Kerzen. Die Menschen neben uns mit ihren schönen Augen und ihren freundlichen Gesichtern. Rote Äpfel, grüne Birnen, blaue Pflaumen, braune Kartoffeln. Sonnenblumen. All die Farben, mit denen Gott die Welt geschmückt hat. Blau wie der Himmel an einem strahlenden Oktobertag. Oder das Meer, wenn es ruhig ist. Rot wie die letzten reifen Tomaten im Garten, wie eine einzelne Rose, wie das Blut und die Liebe. Gelb der Weizen kurz vor der Ernte, wie die fröhliche Sonnenblume, wie der Geschmack eines Löffels Sommerblütenhonig auf der Zunge. All das, was satt macht, nicht nur im Bauch, auch in der Seele. Was gut schmeckt und uns fröhlich macht. 
 
Der blinde Mann, Bartimäus, sieht überhaupt nichts mit seinen Augen. Er hört aber, dass Jesus vorbei geht und mit seinem Herzen sieht er: Jesus kann helfen. Obwohl ich am Rand bin und im Weg sitze und die anderen sagen, ich störe nur mit meinem Geschrei: Jesus, Sohn Davids, hilf mir doch! Jesus wird mich hören! 
 
Kinder finden das vielleicht ganz normal. Mami, Papi, hilf mir, schreien sie viele Male am Tag, und dann helfen die Eltern. Uns Erwachsenen fällt es schwerer, um Hilfe zu bitten. Obwohl wir uns manchmal blind fühlen. Vielleicht sind wir traurig. Da war ein Mensch, den wir liebhatten. Und jetzt können wir ihn nicht mehr sehen. Oder wir finden unsere Kinder anstrengend und haben kein Auge dafür, wie wunderbar sie sind. Oder wir haben Sorgen um unsere liebsten Menschen und um diese verrückte Welt. Oder wir können uns selbst nicht sehen.
 
Bartimäus schreit zu Jesus. Das ist das einzig Richtige. Das können wir auch machen, wenn wir das Schöne nicht mehr sehen in unserem Leben. Rufen: Jesus, hilf mir! Und wenn nichts passiert, noch lauter: Jesus, Jesus, hilf mir! Er hört uns. Die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Er hört uns sogar, wenn wir gar keinen Ton rauskriegen. Wenn wir nur flüstern oder ihn in Gedanken ganz laut rufen. Jesus nimmt unsere Sorgen ernst. Er geht mit uns. Er ist auch da, wenn wir ihn nicht sehen können. So wie Bartimäus ihn erst nicht sehen konnte. Wir hören von Jesus, so wie Bartimäus von ihm gehört hat. Er ist jetzt hier, ganz nah. Er hilft uns sehen. Er zeigt uns, was schön ist und gut schmeckt. Ihm können wir vertrauen. Amen.

Predigt zu Lukas 10,25-37 (Der barmherzige Samariter) am 13. Sonntag nach Trinitatis

Wenn ich Gott eine Frage stellen dürfte, dann wüsste ich ganz genau, welche das wäre. Ich stelle mir vor, wie Gott und ich uns in Sesseln gegenübersitzen. Gott, darf ich dir eine Frage stellen? Klar, nur zu, du darfst mich alles fragen. Gott, wie komme ich in den Himmel?

Seit Menschengedenken träumen wir von einer besseren Welt. Und wenn das nichts mehr nützt, dann träumen wir wenigstens vom Himmel. Vom ewigen Leben. Vom Paradies. Vom Reich Gottes. Und alles, was uns auf der Erde hier so bedrückt, Krieg, Armut, Einsamkeit, Streit, all das soll es dort nicht geben. Nur Frieden. Endlich Frieden. 

Nun ist es so, dass meine Frage an Gott kein reines Gedankenexperiment ist. Tatsächlich ist schon vor mir jemand auf die Idee gekommen, Gott nach dem ewigen Leben zu fragen. Genauer gesagt, wurde Jesus das gefragt. Ein Gesetzeslehrer kam zu ihm und fragte: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Und Jesus stellt die Gegenfrage, was denn im Gesetz, also in der jüdischen Heiligen Schrift, dazu geschrieben steht. Und damit verweist er auf das Doppelgebot der Liebe. Aber was ist das? Es sind zwei Bibelstellen, die zusammengestellt wurden. Ihr Wortlaut ist folgender: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. Doch der Gesetzeslehrer hakt nach. Wer ist denn mein Nächster?

Und dann erzählt Jesus eine Geschichte, und zwar die vom barmherzigen Samariter. „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Um das mal kurz festzuhalten: Was ist dieser Samariter für ein Wahnsinns Typ? Während die anderen beiden das Leid des Verletzten sehen, aber einfach weitergehen, jammert es den Samariter. Er handelt, weil er Mitgefühl hat. Und er gibt so viel, kostbares Öl und Wein und Geld, um dem Verletzten zu helfen. Das beste aber: Der Samariter fragt nicht, was für ein Mensch da liegt. Im biblischen Text steht tatsächlich auch einfach nur „Mensch“, es kann also jeder sein. Der Samariter hilft unabhängig vom Geschlecht, vom Alter, von der Herkunft des Menschen. Und dass der Samariter der Held in der Geschichte ist, erkennt auch der Gesetzeslehrer. Und Jesus sagt: So geh hin und tue desgleichen! Und das sagt Jesus nicht nur zu dem Gesetzeslehrer. Das sagt er auch zu uns.

Wie schön wäre diese Welt, wenn alle Menschen barmherzige Samariter wären? Dann würde wohl niemand im Mittelmeer ertrinken. Dann würde keinem die medizinische Versorgung verwehrt werden, wenn die Versicherung fehlt. Dann würden alle satt werden, weil wir teilen statt wegschmeißen würden. Oder anders gesagt: Dann wäre die Welt genau so, wie ich eben den Himmel, das Paradies, das Reich Gottes beschrieben habe. Nur eben schon hier auf der Erde. Aber das Problem ist bekannt: Die Menschen sind nicht so wie der barmherzige Samariter. Manchmal schon, manchmal kommt man da ganz nah dran. Aber leider gibt es auf der Erde auch einige Räuber. Und die können so unfassbar viel Leid verursachen, dass auch viele Samriter*innen nicht dagegen ankommen können. Das Paradies bleibt also fern.

Gott und ich sitzen in den Sesseln und schweigen. Aber dann sagt Gott: „Meine Antwort gefällt dir nicht, oder?“ Ich setze mich aufrechter hin. „Doch, schon. Das mit der Liebe ist ja eine gute Sache. Aber ich schaffe das nicht. Ich kann nicht hingehen und desgleichen tun wie der Samariter. Ich sehe so viel Leid, aber ich kann nicht allen helfen und ganz ehrlich: Manchmal will ich es auch gar nicht.“ Keine Ahnung, ob man mit Gott so sprechen darf, aber er wirkt nicht verärgert. Etwas leise antwortet er: „Ja, das ist schwer. Aber vielleicht ist der erste Schritt ja, schonmal kein Räuber zu sein. Sei in der Geschichte wenigstens nicht diejenige, die den Menschen überfällt, halb tot schlägt und sich davon macht. Das ist doch schon mal ein Anfang, oder?“ Ich nicke. Gott fährt fort: „Und dann musst du genau hinhören auf das, was ich gesagt habe. Ich sage nicht: Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!, sondern: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Ich sehe schon, wie du die Stirn runzelst, denn alle Menschen lieben ist ja genauso utopisch wie allen Menschen helfen. Trotzdem ist mir dieses Gebot wichtig. Denn alle so sehr zu lieben, wie man enge Freunde liebt, das geht ja wirklich nicht. Aber es gibt eine Grundform der Liebe. Respekt. Begegne den Menschen mit Respekt. Und meine Güte ja, auch das ist schwer! Aber meine Worte sind auch kein Wohlfühl-Mantra! Sondern meine Worte sollen hier auf der Erde etwas zum Guten bewirken. Und stell dir eine Welt vor, in denen alle sich mit Respekt begegnen. Und wenigstens darum sollte man sich doch bemühen, oder?“ Ich blicke nach unten, weil ich mich ertappt fühle. Zögerlich antworte ich: „Ich wollte dein Gebot nicht kleinreden. Ich wünsche mir so sehr, dass das alles einfacher ist. Ich möchte doch so gerne das Paradies schon hier auf der Erde haben.“ Gott richtet sich auf und blickt mich eindringlich an. „Du kannst nicht allen helfen. Du kannst den Krieg in der Ukraine nicht beenden. Du kannst kein hungerndes Kind im Jemen sättigen. Du kannst noch nicht einmal dem obdachlosen Menschen in der Innenstadt eine Wohnung geben. Aber was du kannst, ist allen mit Respekt zu begegnen. Sieh hin, wo das Leid ist. Fühl mit, wo Angst und Kummer sind. Tröste, wo Tränen fließen. Und wenn du helfen kannst, hilf! Und wenn du nicht helfen kannst, dann akzeptier das, aber ignorier die Betroffenen nicht. Und halte es wie der Samariter: Mitgefühl und Hilfe sind unabhängig davon, wie jemand aussieht, wo jemand herkommt, wer jemand ist.“ 

Ich will zu meiner Tasse Tee greifen, und in dem Moment wache ich auf. Ich sitze im Sessel, aber niemand sitzt mir gegenüber. Das Gespräch mit Gott war nur ein Tagtraum. Nur in meinem Kopf. Aber die Worte klingen in mir nach. Das ewige Leben, das Paradies, das Reich Gottes. Es ist noch nicht gekommen. Aber ich kann davon träumen. Und auch auf der Erde schon einen kleinen Schritt hineinwagen an diesen wunderbaren Ort, wenn ich hingehe und desgleichen tue. Amen.

Unterwegs. Predigtgedanken am 28.8.2022 zu Psalm 122

Heute ist der 122. Psalm unser Predigttext. Liturgisch gehört er zum Israelsonntag, dem 10. Sonntag nach Trinitatis. Wir können ihn als Einladung lesen. Jeder Gang zur Kirche ist eine kleine Wallfahrt. An jedem Sonntag.
 
Psalm 122
1Ich freute mich über die, die mir sagten:
Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn!
2Nun stehen unsere Füße
in deinen Toren, Jerusalem.
3Jerusalem ist gebaut als eine Stadt,
in der man zusammenkommen soll,
4wohin die Stämme hinaufziehen,
die Stämme des Herrn,
wie es geboten ist dem Volke Israel,
zu preisen den Namen des Herrn.
5Denn dort stehen Throne zum Gericht,
die Throne des Hauses David.
6Wünschet Jerusalem Frieden!
Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
7Es möge Friede sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen!
8Um meiner Brüder und Freunde willen
will ich dir Frieden wünschen.
9Um des Hauses des Herrn willen, unseres Gottes,
will ich dein Bestes suchen.
 
1 Aufbruch
Einen Weg beschreibt der Psalm. Eine Wallfahrt, eine Pilgerreise. Dreimal im Jahr, so steht es in der Tora, sollen die Glaubenden aufbrechen aus ihrem Alltag und „vor Gott erscheinen“. Die großen Feste. Passah, das Wochenfest und das Laubhüttenfest. Zusammenkommen, Gott danken für alles, was er gibt, etwas mitbringen von den Früchten der Arbeit, Gottes Gegenwart feiern. Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN! Der Psalmbeter ist gern aufgebrochen zum Haus Gottes. Offenbar ist er nicht allein gegangen. Er wurde eingeladen zur Reise nach Jerusalem. Ob er es weit hatte oder ganz in der Nähe des Tempels wohnt, wird nicht gesagt. Nur dass er sich gefreut hat.
 
Ich denke zurück an die Male, da ich aufgebrochen bin zu einer Reise voll Vorfreude. Eine Urlaubsreise fällt mir ein mit den Eltern. Am Vorabend konnte ich nicht einschlafen vor Aufregung. Dann weckt mich die Mutter, draußen ist es noch dunkel, kühle Nacht umfängt mich, ich rolle mich auf der Rückbank des Autos zusammen und werde erst wieder wach, als die Morgensonne mich an der Nase kitzelt, hunderte von Kilometern weiter südlich. Vorfreude erfüllt mich. Ich werde die Berge sehen. Die Freundinnen wiedertreffen im Quartier. Die freie Zeit in der Familie genießen und feiern. 
 
Ich denke an den Aufbruch heute, am Sonntagmorgen. Das Weckerklingen. Das Glockenläuten auf der Fahrt zur Kirche, nicht nur bei uns wird zum Gottesdienst gerufen. Der Verkehr ist anders in der Stadt an diesem Morgen. Leute sind unterwegs zu Gottes Haus. Andere Glaubende treffen. Das Schöne vor Gott bringen und das Schwere. Das lebendige Wort hören. Segen erfahren. 
 
Die Pilger sind angekommen. Von weither oder von nahem. Wie jeden Sonntag oder ausnahmsweise, weil sie nur selten kommen. Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Meine Füße sind da, denke ich. Aber was ist mit meinem Kopf? Und wo steht mein Herz? Eine Freundin hat Erfahrung als Pilgerin. Wenn du mit den Füßen gehst, sagt sie, ist die Chance groß, dass Kopf und Herz mitkommen. Sie hat recht. Das Gehen tut gut. Die Zeit, die ich mir für den Weg nehme, ist kostbar. Ob ich nun langsam gehe oder schnell, kilometerweit in Wanderstiefeln oder behutsam, nur wenige kleine Schritte, an der Hand eines anderen. Ich gehe den Weg in die Kirche bewusst. Suche mir einen Platz hier drinnen, nicht zu weit weg vom Altar und nicht zu nah dran. Bleibe einen Moment stehen. In der Kirchentür oder in der Bank. Hier bin ich, Gott. Bringe mit, was mich beschäftigt, das Gute und das Schlimme. Meine Klage und meinen Dank. 
 
2 Blick zurück nach vorn
Der Aufstieg war anstrengend. Die Stadt liegt auf dem Berg. Nun steht der Pilger im Stadttor. Der Blick zu seinen Füßen lässt ihn alle Mühen vergessen. Die großen Stadtmauern. Die Ordnung der Häuser und Straßen. Die prächtigen Gebäude, der Königspalast, die Gerichtshöfe, der Tempel. Von allen Seiten strömen Pilgerscharen dorthin. In diesen Mauern bist du sicher und geborgen. Alles hat seine Ordnung. Hier kommen die Glaubenden zusammen, du bist nicht allein mit deinem Gebet, mit deiner unvernünftigen Hoffnung auf einen unsichtbaren Gott. Die Bauten der Stadt erinnern an die goldenen Zeiten. Als Salomo König war. Der sprichwörtlich weise Herrscher, der sich von Gott ein gehorsames Herz erbat, damit er für sein Volk Gerechtigkeit bewirken könne. Hier sollen sich die Stämme Israels treffen. Einander wahrnehmen als ein Volk. Den Namen Gottes, nicht den eigenen Namen, preisen. Nach seinem Willen fragen. Fest gefügt wie die Steine, sind auch die Beziehungen in der Stadt Gottes. Jeder hat seinen Platz. Jede ihr Dach überm Kopf. Jeder spürt den Glanz der Gegenwart Gottes auf seinem Gesicht. Den liebevollen Blick des Schöpfers.
 
Wenn es jemals so war, ist es Vergangenheit. Oder Zukunft, Vision, Hoffnungsziel. Dass alle zusammenkommen und mit einer Stimme Gott loben. Dass in mir alles zusammenkommt. Das Beten und Reden und Tun. Das Empfangen und Weitergeben, das Wandern und Ausruhen. Dass die verzwickten Beziehungen in Ordnung kommen. Zu manchen, mit denen ich unterwegs bin. Zu denen, mit denen ich ohne es zu wollen auf Kriegsfuß stehe. Zu mir selbst. Zu Gott. Am Ende der Zeit, so verkünden es die Propheten, werden alle Völker zum Gottesberg und in die heilige Stadt kommen. Das Krumme wird gerade. Das Zerbrochene heil. Das Geknickte wird aufgerichtet. Unversöhnliche Gegner werden zu Nachbarn. 
 
Wo ist mein Wallfahrtsort, frage ich mich. Was ist mein heiliger Ort, an dem ich mich an Gottes Gegenwart erinnere und an die Zukunft, die auf mich wartet? Ich nehme mir einen Moment Zeit. Schicke meinen Kopf, mein Herz auf Pilgerreise an einen Ort, an dem ich Gottes Gegenwart gespürt habe. 
 
3 Segenswunsch
Stellen Sie sich vor, Sie sind zu Gast gewesen. Sie waren unterwegs und haben bei Freunden ein Dach überm Kopf gefunden. Einen Platz zum Schlafen. Ein Tischgebet, eine gemeinsame Mahlzeit. Am Ende, zum Abschied, wünschen Sie der Gastgeberin Glück und den Hausbewohnern Frieden und Gesundheit. Wünschet Jerusalem Frieden! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! Fünfmal klingt das Wort „Frieden“ an im letzten Teil des Psalms. Shalom, das reimt sich auf Jerushalajim. Shalom bedeutet Wohlergehen, Zufriedenheit, Unversehrtheit, Sicherheit. „Jehi Shalom“, „Möge Friede sein“ ist ein Friedensgruß, ein jüdisches „Ave“ oder „Grüß Gott“. Friede in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen. Wir hören die Nachrichten aus dem heutigen Israel, sehen die Bilder. Wie weit entfernt ist die Heilige Stadt in Palästina vom Frieden. Wie dringend nötig das Gebet um Frieden und Glück. Wie nötig war es immer schon, denn es war ja nie wirklich Frieden in seinen Mauern. Es waren nie wirklich selbstlose Herrscher in seinen Palästen, die der Stadt Bestes suchten anstatt den eigenen Vorteil. Auch in unserer Stadt ist kein Friede, hinter so vielen Mauern herrscht Unglück, unter jedem Dach ein Ach. Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen. Alleine schaffen wir es nicht. Allein kriegen wir nicht mal in unseren Häusern den Frieden hin, nicht in der Stadt und nicht in unserem Land und schon gar nicht auf der ganzen Erde. Darum tut es gut, dass wir zusammenkommen in Gottes Haus. Dreimal im Jahr oder dreißigmal oder auch nur einmal im Leben. Gott danken für das Gute, das er uns sehen lässt. Nach seinem Willen für uns fragen. Uns nach seinem Segen ausstrecken. Und einander in Gottes Namen Frieden wünschen. Danach können wir wieder losgehen. Hinuntersteigen in unseren Alltag. Und weitergehen im Licht unseres Gottes. Amen. 

Unterwegs. Predigtgedanken am 28.8.2022 zu Psalm 122

von Charlotte Scheller

2022-08-07 Josefs Lied. Matthäus 1,18-25 gereimt und nacherzählt

Inspiriert durch Herman van Veens Lied "Was man tut und wo man steht - Du kannst ja wählen". Daraus wurde auch die erste Hälfte des Kehrverses übernommen.

1 Der Satz „Empfangen / durch den Heil'gen Geist“,
ihr sprecht ihn meist / unbekümmert mit.
Ich frag mich nun, / könnt ihr das einfach tun,
ich mein', es ist doch klar, / dass da einer litt.

Wenn du verliebt bist 
und dich für sie aufhebst,
sie höchstens mal küsst,
dann bist du hilflos, 
du fragst dich, was soll das, wie geht das, 
dass sie schwanger ist?

Refr.: Was man tut und wo man steht,
wie man's wendet, wie man's dreht, 
eins ist klar, das Leben geht / so oder so vorbei.
Ob du nach dem Schöpfer fragst, 
ob du Ja zu Jesus sagst,
ob du Mut hast oder zagst, / ist nicht einerlei.
 
2 Mit der Geburt / von Jesus war das so,
es machte mich nicht froh, / dass Maria schwanger war.
Was sollt ich tun, / ich überlegte nun,
dass am wenigsten mies / wär', wenn ich sie verließ‘.
 
Ich geh klammheimlich,
dann wird's nicht so peinlich 
für sie und für mich.
Sie würd' verlassen,
doch würd‘ man sie nicht hassen, 
sie wahrt‘ das Gesicht.

Refr.: Was man tut und wo man steht,
wie man's wendet, wie man's dreht, 
eins ist klar, das Leben geht / so oder so vorbei.
Ob du nach dem Schöpfer fragst, 
ob du Ja zu Jesus sagst,
ob du Mut hast oder zagst, / ist nicht einerlei.
 
3 Kein schlechter Plan, / ich fasste wieder Mut,
doch ging es mir nicht gut / und ich lag lange wach.
Ja, ich schlief kaum, / doch war da dieser Traum,
das heißt, mir ist nicht klar, / was es wirklich war.

Da war ein Lüftchen,
ein winziger Windhauch,
ein Feuer, ein Licht,
War das ein Engel,
ein stiller Begleiter,
ein Fürchte-dich-nicht?
 
4 Der Engel sagt, / ich weiß, du fühlst dich schlecht,
doch hast du nicht ganz recht, / denn du wirst hier gebraucht.
Du bist gefragt / bei dem, was hier beginnt,
weil Jesus, Gottes Kind, / auf Erden Menschen braucht. 

Du wirst jetzt Vater,
Beschützer, Berater,
Vertrauter und Mann.
Wirst beide lieben,
wirst sie nicht betrüben,
nimm Gottes Plan an! 
 
5 Ich sagte Ja, / auch wenn’s nicht einfach war,
weil ich nur Nebel sah / in diesem Gottesplan.
Ich hatte Scheu, / es war alles so neu,
zwar war Maria treu, / doch ich rührte sie nicht an.

Bis dann die Nacht kam,
wo Gottes Sohn zur Welt kam,
zwei Hände voll Leben.
Ein kleines Menschlein,
so zart und vollkommen,
ich hab‘ mich ergeben. 
 
Refr.: Was man tut und wo man steht,
wie man's wendet, wie man's dreht, 
eins ist klar, das Leben geht / so oder so vorbei.
Ob du nach dem Schöpfer fragst, 
ob du Ja zu Jesus sagst,
ob du Mut hast oder zagst, / ist nicht einerlei.

(Charlotte Scheller)

Josefs Lied. Matthäus 1,18-25 gereimt und nacherzählt

Josefs Engels-Traum. Predigtgedanken am 7. August 2022 von Charlotte Scheller und Johanna Bierwirth

Klartext (Charlotte Scheller)
 „Träume sind Schäume“, geht eine Redensart. Wer von uns hat nicht schon mal ein Kind in den Armen gehalten, zitternd, schwer atmend, und in sein verschwitztes Haar gemurmelt: Es ist alles gut. Du hast nur geträumt. Auch als Erwachsene kennen wir Alpträume, die wir nicht leicht abschütteln. Und schöne Träume, die wir festhalten wollen an der Schwelle zum Aufwachen. Die zerplatzen dann oft wie Seifenblasen, werden fortgetragen vom Tag, bloß ein Gefühl bleibt, eine Sehnsucht, nichts Bestimmtes.
 
Josef träumt. Er hat lange wach gelegen. Hat sich hin und her gewälzt in seinem Bett. Nun, da er weiß, seine Verlobte ist schwanger. Eins ist sicher, das Kind ist nicht von ihm. Josef ist fromm und gerecht, der Glaube ist seine Richtschnur. Was soll er tun? Er könnte sich offen von Maria trennen. Dann steht sie als Ehebrecherin da. Im schlimmsten Fall wird sie gesteinigt. Josef fasst einen Plan. Er wird sie heimlich verlassen. Dann kann sie zu ihren Eltern zurück. Sitzen gelassen mit einem Kind. Das wird seinen Heiligenschein als Gerechter trüben, aber ihr wird es das Leben retten. 
 
Der Mensch denkt, aber Gott lenkt. Ein Engel erscheint ihm. Er kennt Josef mit Namen, mit seinem königlichen Stammbaum, er sagt „Josef, du Sohn Davids“ zu ihm und damit ist klar, wo die Reise hingehen soll. Zu Gottes Sohn. Dem wahren König. Er sagt „Fürchte dich nicht“, denn man kann das Fürchten kriegen, wenn es nicht so geht, wie man es sich ausgedacht hat in schlaflosen Nächten. „Fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, denn was sie empfangen hat, das ist vom Heiligen Geist“. Einen Sohn wird sie gebären. Und er, Josef, soll ihm den Namen Jesus geben, das heißt „Gott rettet“. Das ist dann genau der, den die Propheten an-gekündigt haben, Immanuel, der Gott-Mit-Uns. 
 
Unglaublich. Gottes Engel redet Klartext in diesem Traum und Josef weiß es. Er wacht auf und schmeißt seine klug ausgedachten Pläne über Bord. Der Traum krempelt ihn um, alles, was recht ist, Josef steckt zurück aus Liebe zu Maria, aus Gehorsam zu Gott, wer weiß das schon. Er steht zu Maria. Er hält sich offen für weitere von Gottes seltsamen Wendungen. Er wird nochmal träumen und mit Mutter und Kind nach Ägypten fliehen und ihr Leben retten. Mir geschehe, wie du gesagt hast, sagt Josef und ergibt sich dem Willen Gottes. Legt seine Tatkraft in diesen Willen. Stellt seine Vorbehalte zurück und seine Bedürfnisse. Bis das Kind geboren wird, berührt er Maria nicht. Später wird er selbst noch Vater, sechs Kinder werden ihm und Maria noch geboren und die ganze Zeit bleibt Josef im Hintergrund. 
 
Das möchte ich von Josef lernen. Mich zurücknehmen mit dem, was ich für recht und billig halte. Auf Gottes Stimme hören. Seinen Engel wahrnehmen, nachts im Schlaf, wenn meine Gedanken zur Ruhe kommen. Oder vielleicht auch am Tag. Diesen Engel, der seifenblasenzart meinen Namen sagt und „Fürchte dich nicht“.
 
Innere Stimme (Johanna Bierwirth)
 Am Tag ist alles super laut. So viele Eindrücke, die auf mich einprasseln. Ich kann die eigenen Gedanken gar nicht hören. Wenn ich schlafe, ist die Welt leiser. Die ganz leisen Gedanken, die ich am Tag gar nicht gehört habe, können nun zu Wort kommen. Und manchmal bringen sie mich damit auf eine ganz neue Spur. 
Ein Beispiel: Ich gehe durch die Göttinger Innenstadt, ich muss schnell noch einige Besorgungen machen. Plötzlich läuft mir eine alte Schulfreundin über den Weg, ich nenne sie mal Nina. Ich halte kurz an, will aber eigentlich schnell weiter. Ich frage sie, wie es ihr geht. Ja, ganz gut. Ach ja schön. Na ja, man sieht sich! Und weg. 
 
In der Nacht habe ich einen Traum: Ich gehe durch die Göttinger Innenstadt. Nina liegt auf dem Boden. Ich versuche den Notruf anzurufen, aber meine Finger sind wie gelähmt, ich kriege es irgendwie nicht hin. Ich laufe weg und als ich wiederkomme, ist Nina weg. Ich wache wieder auf. Und denke nach. Hatte Nina nicht viel blasser ausgesehen als sonst? Ich schreibe ihr bei Instagram, ob es ihr wirklich gut geht. Nein, tut es nicht. Studium abgebrochen. Unterbewusst habe ich vielleicht gemerkt, dass es ihr nicht gut geht. Aber in der Eile wollte oder konnte ich es gar nicht wahrhaben. Aber die leisen Stimmen haben mich im Traum daran erinnert.
 
Ich weiß gar nicht, ob dieser Impuls von Gott kommt. Vielleicht ist es ja auch mein Gewissen oder irgendein Teil meines Unterbewusstseins. Irgendwie kommt mir die Vorstellung seltsam vor, dass Gott wie ein Untermieter in meinem Bewusstsein sitzt. Wie frei bin ich dann noch in meinen Entscheidungen? Ich glaube eher daran, dass ich Gottes Botschaft verinnerlicht habe: Achtet aufeinander, helft einander. Als ich von Nina träumte, ist mir kein Engel begegnet und Gott hat auch kein Machtwort gesprochen. Aber eine leise Stimme in mir hat mich an sein Wort erinnert: Achtet aufeinander, helft einander. Und auf diese Stimme habe ich gehört. Und wenn ich so darüber nachdenke, dann war Gott eben dadurch doch in allem gegenwärtig.

Josefs Engels-Traum. Predigtgedanken am 7. August 2022 von Charlotte Scheller und Johanna Bierwirth

Karfreitag: Psalm, Evangelium, Predigt, Gebet und Segen

von Superintendent i.R. Heinz Behrends, Nikolausberg

Mahlfeier zu Hause am Tisch

Gründonnerstag

Der Tag, der an das letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Freunden erinnert. Andachten und Gottesdienste können wir am Fernseher oder im Internet mitfeiern, aber Abendmahl ist nicht virtuell. Es ist leiblich und gegenständlich, zu schmecken und zu sehen, wenn auch nicht zu begreifen: Jesus mitten unter uns. Ich bekomme etwas in meine ausgestreckte Hand, kaue das Brot, schlucke den Wein. Dieses Jahr feiern wir Gründonnerstag so nicht.

Sie können sich zuhause bei einer Mahlzeit an das Abendmahl erinnern. 
  • Sie decken Ihren Tisch einfach und festlich für sich allein oder für die Familie. Vergessen Sie Blumen und Kerzen nicht!
  • Vielleicht haben Sie ein Kreuz oder Sie basteln eins aus Zweigen aus dem Wald oder Garten.
  • Sprechen Sie ein Tischgebet, das Sie kennen, z.B.:
„Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“

  • Jede/r am Tisch zündet eine Kerze oder ein Teelicht an und sagt dazu einen Dank.
  • Eine/r liest die Geschichte des letzten Abendmahls, Matthäusevangelium Kapitel 26, Vers 18-30:
18 Jesus sagte zu seinen Jüngern: »Geht in die Stadt zu dem und dem Mann – richtet ihm aus: ›Der Lehrer lässt dir sagen: Die Zeit, die Gott für mich bestimmt hat, ist da. Ich will bei dir das Passamahl feiern zusammen mit meinen Jüngern.‹« 19 Die Jünger machten alles so, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte. Und sie bereiteten das Passamahl vor. 
20 Als es Abend geworden war, ließ sich Jesus mit den zwölf Jüngern zum Essen nieder. 21 Während sie aßen, sagte er zu ihnen: »Amen, das sage ich euch: Einer von euch wird mich verraten.« 22 Die Jünger waren tief betroffen. Jeder einzelne von ihnen fragte Jesus: »Doch nicht etwa ich, Herr?« 23 Jesus antwortete: »Der sein Brot mit mir in die Schale taucht, der wird mich verraten. 24 Der Menschensohn muss sterben. So ist es in den Heiligen Schriften angekündigt. Wie schrecklich für den Menschen, der den Menschensohn verrät. Er wäre besser nie geboren worden!« 25 Da sagte Judas, der ihn verraten wollte, zu Jesus: »Doch nicht etwa ich, Rabbi?« Jesus antwortete: »Du sagst es!« 26 Beim Essen nahm Jesus ein Brot. Er lobte Gott und dankte ihm dafür. Dann brach er das Brot in Stücke und gab es seinen Jüngern. Er sagte: »Nehmt und esst! Das ist mein Leib.« 27 Dann nahm er den Becher. Er sprach das Dankgebet und gab ihn seinen Jüngern. Er sagte: »Trinkt alle daraus! 28 Das ist mein Blut. Es steht für den Bund, den Gott mit den Menschen schließt. Mein Blut wird für die vielen vergossen werden zur Vergebung ihrer Schuld. 29 Das sage ich euch: Ich werde von jetzt ab keinen Wein mehr trinken.  Erst an dem Tag werde ich mit euch neu davon trinken, wenn mein Vater sein Reich vollendet hat.« 30 Jesus und seine Jünger sangen die Dankpsalmen. Dann gingen sie hinaus zum Ölberg. [Basisbibel]

Sie denken an Abendmahlsfeiern oder tauschen sich darüber aus: 
    •  Mein erstes Abendmahl …
    • Wo war es?
    • Wer hat mit mir vor dem Altar gestanden?
    • Ein Abendmahl, das mir viel bedeutet hat.

  • Sie essen dabei gemeinsam, bedienen sich gegenseitig, achten darauf, was wer braucht, lassen sich Zeit für Gedanken und Gespräch.
  • Zum Schluss sprechen Sie ein Dankgebet, z.B.:
  „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich. Amen.“   

(Quelle: Amelie zu Dohna, Pastorin in Bardowick)

Musik am Mittwoch: Lobe den Herren!

Evangelisches Gesangbuch Nr. 317, Choralbearbeitung von Johann Gottfried Walter und Strophe 4, eingespielt in St. Jacobi von Martin Begemann 4 Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet. Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet. Text: Joachim Neander 1680, Mel.: Halle 1741

Ein Versprechen. Mittwochsgedanken von Thomas Plate

Aus dem Labyrinth ins Freie. Predigt zum Ostersonntag 2023

zu 1. Korinther 15,19-26 (Charlotte Scheller)

Ein Mosaik im Fußboden der gewaltigen Kathedrale in Frankreich. Zwölf Meter im Durchmesser, eine Christophorus-Kirchenlänge in etwa. In der Kreisfläche ein Weg aus 273 Steinen. Es geht hin und her, in kleinen Schleifen und großen Kurven. Wenn du in die Mitte willst, musst du jedes Viertel des Kreises mehrmals durchwandern. Es bleibt dir kein Schritt erspart. Immer wieder denkst du, jetzt kommst du zum Ziel, und dann geht es ganz nach außen. Die Strecke ist ungefähr so weit wie der Weg von der Kirche bis zu Kuskas Blumengeschäft. Es geht nur in eine Richtung. Verlaufen kann man sich nicht. Höchstens vor der Zeit schlapp machen. Bist du erst in der Mitte angekommen, geht es auf demselben Weg wieder nach draußen. Im Mittelalter, heißt es, haben der Bischof und seine Kirchenleute den Weg durchs Labyrinth getanzt. In der Kathedrale, jedes Jahr am Ostertag. 
 
In Knossos auf Kreta soll in alter Zeit ein gemauertes Labyrinth gewesen sein. In der Mitte hauste der Minotaurus, ein Ungeheuer, dem Menschen geopfert werden mussten. Jedes neunte Jahr, sieben Jungfrauen und sieben junge Männer. Ist das Leben so, ein unüberschaubarer Weg, und in der Mitte oder am Ziel lauert ein Ungeheuer, das einen verschlingt? - Ein Mann pflegt seine Frau. Immer haben sie alles geteilt, Schönes und Schweres, haben sich geliebt und sind zusammen alt geworden. Nun lässt ihr Gedächtnis sie im Stich. Sie versinkt in ihrer eigenen Welt und lässt ihn allein mit der Verantwortung für sie beide. Wo ist der eine Mensch, der mich versteht, wo ist Gott, dem ich vertrauen kann? - Eine Mutter ist mit ihren vier Kindern geflohen. In der Heimat ist Krieg und Gewalt. Aber hier, in der Flüchtlingsunterkunft, ist es trostlos, sie versteht das Land und die Leute nicht, ein Kind ist krank, hilflos steht sie vor Behörden und Ärzten. Ich habe keine Freude mehr, sagt sie. Wo ist Hoffnung zu finden?
 
An die Gemeinde in Korinth schickt der Apostel Paulus einen kräftigen Brief. Die Themen sind: Glaube, Liebe und Hoffnung. Die Hoffnung hat nur einen einzigen Grund: Jesus Christus ist vom Tod auferstanden. Die Hoffnung kennt keine Grenzen, sie hofft einfach mal alles. Für alle Menschen. Paulus schreibt:
 
Wenn wir nur für dieses Leben auf Christus hoffen, sind wir bedauernswerter als alle anderen Menschen.Nun ist Christus aber vom Tod auferweckt worden, und zwar als Erster der Verstorbenen. Denn durch einen Menschen kam der Tod in die Welt. So bringt auch ein Mensch die Auferstehung der Toten. Weil wir mit Adam verbunden sind, müssen wir alle sterben. Weil wir aber mit Christus verbunden sind, werden wir alle lebendig gemacht.
Das geschieht für jeden nach dem Platz, den Gott für ihn bestimmt hat: Als Erster wird Christus auferweckt. Danach, wenn er wiederkommt, folgen alle, die zu ihm gehören.Dann kommt das Ende: Christus übergibt Gott, dem Vater, seine Herrschaft. Zuvor wird jede andere Herrschaft, jede Gewalt und jede Macht vernichtet. Denn Christus muss so lange herrschen, bis Gott ihm alle seine Feinde zu Füßen gelegt hat. Der letzte Feind, den er vernichten wird, ist der Tod (1. Korinther 15,19-26)
 
Was für eine Aussicht! Der Tod wird vernichtet. Darauf läuft alles hinaus. So hat Gott es gewollt von Anfang an, als er die Welt erschuf, als er die Menschen ins Leben rief, als er seinen Sohn auf die Erde schickte, Christus, die lebendige Kraft seines Wortes. Die Frauen kommen zum Grab und sind erschrocken: Das Grab ist leer. Ein Engel ist vom Himmel gekommen. Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden! Ihr Herz zittert noch vor Furcht, dann bricht die Freude sich Bahn. Sie stürzen davon und erzählen es weiter. Der Herr ist auferstanden! In die Einsamkeit wird eine unwiderstehliche Zuversicht eingelassen. Die letzte Macht des Todes ist gebrochen!
 
Aber es ist Streit entstanden über diese Aussicht. Manche denken, wir brauchen Gott nicht zur Überwindung des Todes. Der moderne Mensch kann das selbst. Die Medizin arbeitet daran, den Tod hinauszuschieben, ihn eines Tages ganz zu überwinden. Auch wenn jetzt noch nicht alles möglich ist. Es ist eine verbreitete Vision: Der Tod ist der letzte Feind, aber eines Tages überwinden wir ihn. 
 
Daran glaube ich nicht. Mensch zu sein heißt sterblich zu sein. Mitten im Leben tritt der Tod uns entgegen. Wer ihn verdrängt, verabschiedet sich von der Wirklichkeit. Das Starke an unserem Glauben ist aber: Ich muss den Tod nicht leugnen. Ich werde ihn auch nicht überwinden. Aber ich werde auch nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass am Ende Leben ist. Wie am ersten Ostermorgen. Das leere Grab, dessen Anblick die Frauen zum Zittern bringt und sie dann alles hoffen lässt. Einfach alles! Es gibt ihn noch, den Tod. Aber er wird nicht mehr der Bestimmer sein in unserem Leben. Gott ist der Bestimmer. Er bringt uns das Leben.
 
Das feiern wir an Ostern. Das soll uns bestimmen! Der gekreuzigte Jesus bleibt nicht im Tod. Gott nimmt ihn zu sich auf. Der Tod ist immer noch schrecklich real. Jesus ist wirklich gestorben. Er wurde wirklich begraben. Aber sein Tod behält nicht das letzte Wort. Jesus lässt ihn hinter sich. Er besiegt das Ungeheuer, vor dem wir uns zu Recht fürchten. Damit nimmt er vorweg, was für uns alle verheißen ist. Der Weg führt aus dem Labyrinth hinaus. 
 
Unsterblich werden wir nicht durch Ostern. Aber es braucht auch niemand dem Tod eine letzte Macht einzuräumen. Die Seele darf jubeln und tanzen, wie die Frauen, die vom Grab wegrennen, wie die Gläubigen, die auf dem Labyrinth tanzen. Wie die Christenmenschen in aller Welt, die heute wieder singen, allem Leid zum Trotz: Christ ist erstanden! Vielleicht kennen Sie auch dieses Lied: Lord of the dance. „They cut me down and I leapt up high“, beginnt die letzte Strophe. – Sie haben mich umgeworfen und ich bin wieder aufgesprungen. Hochgeschnellt. Die Seele jubelt und tanzt, denn Ostern ist das Fest des Lebens. 
 
Es gibt ja einen Ausgang aus dem Labyrinth. Manchmal brauchen wir andere, um ihn zu sehen. Ich denke an den Mann, dessen Frau sich schon weit von ihm entfernt hat auf dem Weg des Vergessens. Einmal in der Woche legt er eine alte Schallplatte auf, „ihr Lied“. Er zieht sie aus dem Sessel hoch, nimmt sie in die Arme und wagt, ungeachtet des Rollators, ein Tänzchen mit ihr. Sie ist selig, in dem Moment ist die Vergesslichkeit vergessen und die Liebe ist ewig. Ich denke an die Frau, die der vierfachen Mutter den Rücken stärkt. Sie spricht für sie bei den Behörden. Fährt die Kinder zum Arzt. Hält der Mutter die Hand. Organisiert für Flüchtlinge und Nachbarn ein Fest in der Unterkunft und feiert mit ihnen, allem Leid zum Trotz, fröhlich. 
 
Der aufrechte Gang gehört zu Ostern. Der Tanz aus dem Labyrinth. Jeder von uns darf erhobenen Hauptes gehen. Jede kann schauen, ob sie einer andern dabei helfen kann, sich aufzurichten und der Zukunft entgegen zu gehen. Oder zu tanzen. Denn Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!