zu Hebräer 11,1-2; 12,1-3 von Charlotte Scheller
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Sie schließt die Haustür auf, betritt die Wohnung. Ein warmer Duft weht ihr entgegen. Sie späht in die Küche. Die Tochter dreht ihr den Rücken zu. Kopfhörer in den Ohren, bemerkt sie die Mutter nicht. Sie bückt sich, öffnet die Herdklappe, nimmt mit topflappenbewehrten Händen die Form aus dem Ofen. Ein knappes Hallo, sie schaut an der Mutter vorbei. So macht sie es seit Tagen. Das fühlt sich fremd an. Dampfend steht der Kuchen da. Goldgelb. Der Duft ist überwältigend. Darf ich probieren? – Ich hab ihn wohl kaum für mich allein gemacht, sagt die Tochter und verlässt den Raum.
Liebe braucht Ausdauer. Genau wie der Glaube. Es gibt Zeiten der Gewissheit und des Vertrauens. Wir gehören zusammen, haben uns lieb, verstehen uns. Und Zeiten des Zweifelns und des Misstrauens. Du schweigst dich aus, ich weiß nicht mehr, wer du bist, verstehe dich nicht mehr. Kann ich dir noch vertrauen?
Liebe hat ihre Durstrecken. Dann braucht es Zeichen, die man sehen und schmecken kann. Ein Kuchen für dich, auch wenn wir im Moment nicht reden können. Greifbare Hoffnung. Auch der Glaube braucht solche Zeichen. Leidvolle Erfahrungen stellen mein Gottvertrauen auf die Probe. Schicksalsschläge. Eine Krankheit. Gibt es überhaupt einen Gott? Ich merke nichts von ihm jetzt, wo ich ihn so dringend bräuchte. Aber auch der Alltag kann einen mürbe machen. Wenn ich nicht sehen kann, wohin mein Weg führt. Oder wann es ein Ende hat mit dem Durchhalten, mit den Einschränkungen, mit dem Aufschieben all dessen, worauf ich mich gefreut habe. Wenn mir die Worte fehlen angesichts all der Not, die durch die Pandemie entstanden ist oder noch größer geworden. Wenn ich schon alle Gebete gebetet habe und mir nichts mehr einfällt, weil ich müde bin. Der Glaube selbst kann eine Anfechtung sein.
Das gehört offenbar zum Christsein dazu: Angefochten sein. Zweifeln. Müde werden im Glauben und im Leben. Deshalb sind wir hier. Wir wollen andere Leute sehen, wollen die Lieder hören von Verzweiflung und Hoffnung und die Worte, die Mut machen. Im Hebräerbrief lesen wir (Hebräer 11,1-2): Was ist denn der Glaube? Er ist ein Rechnen mit der Erfüllung dessen, worauf man hofft, ein Überzeugtsein von der Wirklichkeit unsichtbarer Dinge. Weil unsere Vorfahren diesen Glauben hatten, stellt Gott ihnen in der Schrift ein gutes Zeugnis aus.
Wer sind diese Glaubensvorfahren? Noah, der eine Arche baute um die Tiere zu retten, obwohl es nicht nach Regen aussah. Abraham, der seine Zelte abbrach und loszog. Ohne den Weg zu kennen und ohne zu wissen, wo es hingehen sollte mit ihm und seinen Leuten. Im versprochenen neuen Land war er fremd. Wieder vorübergehend, in Zelten, auf Abruf, aber voller Erwartung auf die feste Stadt, die Gott baut. Sara, die keine Kinder hatte und bloß trocken lachen konnte, als die drei Männer kamen und ihr eine Schwangerschaft in Aussicht stellten. In ihrem biblischen Alter! Aber dann – Hoffnung hin, Glaube her – wurde sie unglaublich spät noch Mutter und machte ihren Mann Abraham zum Vater der Glaubenden. Vater der Vielen bedeutet sein Name. Wie Sterne am Himmel seine Nachkommen, wie Sand am Meer. Oder Mose, der in seiner Jugend im Jähzorn einen ägyptischen Aufseher umgebracht hat. Ausgerechnet ihn berief Gott, sein Volk durchs Rote Meer zu führen.
Sie haben Zweifel gehabt. An sich selbst und an Gott. Sie waren keine Helden. Und sind trotzdem vorwärts gegangen nur auf sein Wort hin und sind so zu Zeug/innen geworden. Wir erzählen immer noch von ihnen, sind mit ihnen verbunden in der Hoffnung auf Gottes Macht.
Hebräer 12,1-3: Wir sind also von einer großen Schar von Zeugen umgeben, deren Leben uns zeigt, dass es durch den Glauben möglich ist, den uns aufgetragenen Kampf zu bestehen. Deshalb wollen auch wir – wie Läufer bei einem Wettkampf – mit aller Ausdauer dem Ziel entgegenlaufen. Wir wollen alles ablegen, was uns beim Laufen hindert, uns von der Sünde trennen, die uns so leicht gefangen nimmt, und unseren Blick auf Jesus richten, den Wegbereiter des Glaubens, der uns ans Ziel vorausgegangen ist. Weil Jesus wusste, welche Freude auf ihn wartete, nahm er den Tod am Kreuz auf sich, und auch die Sch
ande, die damit verbunden war, konnte ihn nicht abschrecken. Deshalb sitzt er jetzt auf dem Thron im Himmel an Gottes rechter Seite. Wenn ihr also in der Gefahr steht, müde zu werden, dann denkt an Jesus! Wie sehr wurde er von sündigen Menschen angefeindet, und wie geduldig hat er alles ertragen! Wenn ihr euch das vor Augen haltet, werdet ihr nicht den Mut verlieren.
Der Autor hat mit uns zurückgeschaut, auf den Weg des Gottesvolkes. Jetzt lenkt er unseren Blick nach vorn. Dem Ziel entgegen. Wie Läufer in einem Wettkampf sind Christenmenschen auf ihrem Weg. Die Athleten in der Arena legen alle Kleidung ab, die sie beim Laufen beschweren würde. Und wir: Zu einer Wanderung oder Radtour nehmen wir nur das Nötigste mit, damit uns die Last nicht herunterzieht. Und dann kommt es darauf an, das Ziel im Blick zu haben. Sicher, wir müssen einen Schritt nach dem anderen machen. Aber wer dabei nur nach unten schaut, wird schnell müde. Ein ehemaliger Rennfahrer, Tour de France, hat mir mal erklärt: Mein Vorteil war das Kopfsteinpflaster. Die anderen hatten davor Angst. Die wurden langsamer und kamen ins Schlingern. Ich habe an das Ende der Straße gedacht, bin schnell über die buckeligen Steine gefahren und ans Ziel gekommen.
Nehmen wir es also sportlich. Das Leben ist ein Lauf. Eine Herausforderung, manchmal auch ein harter Kampf. Wenn wir nach unten starren, machen wir es uns zu schwer. Wenn wir nur Augen für das Beschwerliche haben, bremsen wir uns selbst aus. Kann sein, wir wissen nicht, wohin es geht, wie Abraham. Oder wir sind eingesperrt auf unbestimmte Zeit, auf die Familie und die Haustiere beschränkt, wie Noah. Kann sein, wir haben Schuld auf uns geladen wie Mose. Oder wir trauen Gott nicht zu, unser Leben noch fruchtbar zu machen, wie Sara. Aber Gott, der die Welt gemacht hat, lässt uns nicht los. Dass Gott mitgegangen ist, auch auf den holprigsten Strecken, dass er da war, als wir in den Fluten trieben, merken wir oft erst im Nachhinein. Der Weg, auch wenn er schwer war, selbst wenn er schwer bleibt, ist Gottes Weg mit uns.
Das Beschwerliche dürfen wir ablegen wie Kleidung, die uns beim Laufen behindert. Und, so geht es weiter, uns von der Sünde trennen, die uns so leicht gefangen nimmt. Das ist wohl noch schwieriger als den Blick vom Boden hochzunehmen: Mich von meinen Sünden zu trennen. Also loszulassen von der Vorstellung, ich hätte alles im Griff. Wie oft kreisen meine Gedanken um einen Vorwurf. Um das Gefühl, nicht das Richtige gesagt oder getan zu haben. Um eine Schuld. Was mich belastet, kann ich Christus hinhalten. Ihm kann ich aufladen, was mich an mir selbst beschwert. Er trägt es für mich und bringt es ans Kreuz. Ich darf unbeschwert weitergehen. Eine Wanderin ohne Gepäck.
Wohin schauen wir? Auf Jesus, den Wegbereiter des Glaubens, der uns ans Ziel vorausgegangen ist. Wir sind nicht auf uns allein gestellt. Jesus ist uns vorangegangen. Wir haben vom Einzug in Jerusalem gehört. Wie die Leute in Massen zusammenlaufen. Ihre Kleider vor Jesus ausbreiten. Hosianna schreien. Das heißt: Hilf doch, Gott! Zu Recht erwarten sie Hilfe von ihm. Die Rettung aus ihrer Verlorenheit. Sie spüren, Jesus kommt im Namen des Herrn. Ein Höhepunkt seines Weges. Eine Bergkuppe, ein Aussichtspunkt. Unmengen von Leuten jubeln ihm zu. Kurze Zeit später rufen sie: Kreuzige ihn! Er leidet und stirbt, verlassen von allen Freunden und scheinbar auch von Gott. Er wehrt sich nicht. Er nimmt die Demütigung hin, die Schande. So läuft sein Weg ins Ziel. Jetzt ist Gott ganz unten angekommen. Bei den Müden, bei den Beladenen, bei denen, die nicht mehr weiter wissen, bei den Sterbenden. Bei uns, wenn wir erschöpft sind vom Lieben, vom Arbeiten, vom Alleinsein, vom Glauben.
Wie gut, dass das so sein darf. Dass wir müde sein dürfen. Am Kreuz ruft Jesus: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ein einziges Wort, eine Silbe reicht aus: mein. Du bist mein Gott. Lässt mich nicht los, nicht mal, wenn ich das Vertrauen verloren habe. Du hast deinen Sohn hier runter geschickt, damit er an meiner Seite ist. Und am Ende hast du ihn auferweckt von den Toten, damit wir sehen, wo es hingeht mit uns, wo unser Leben an sein Ziel kommt.
Wenn ihr also in der Gefahr steht, müde zu werden, dann denkt an Jesus! Wie sehr wurde er von sündigen Menschen angefeindet, und wie geduldig hat er alles ertragen! Wenn ihr euch das vor Augen haltet, werdet ihr nicht den Mut verlieren. Allzu oft vergesse ich, mir das vor Augen zu halten. Dann brauche ich andere, die mich daran erinnern. Starke Zeuginnen aus alter Zeit und von heute. Oder Suchende wie ich selbst. Kein Mensch sollte allein auf eine Bergwanderung gehen. Ich brauche die Gemeinschaft der anderen, die mit mir laufen im Wettkampf. Wir laufen nicht gegeneinander. Müssen die anderen nicht ausstechen. Wir haben schon gewonnen. Jesus ist für uns ins Ziel gelaufen. Deshalb können wir einander jetzt aufbauen. Uns gegenseitig anspornen, erzählen, gut zureden. Miteinander schweigen. Einander aufwecken aus der Lähmung. Kuchen backen. Den Duft der Hoffnung einatmen und gemeinsam standhalten. Im Vertrauen auf Gottes Geist. Amen.