zu Jesaja 52,13-53,12 (gehalten in der Klosterkirche Nikolausberg)
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt (Jesaja 53,4-5).
Auf Abstand
Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt (Jesaja 53,4-5).
Auf Abstand
Abendbrot. Seit sie den Kindern von ihrer Krankheit erzählt haben, sitzt der Junge auf einem anderen Platz. Es ist nicht ansteckend, hat die Mutter erklärt. Es wird schwer, es wird ihr manchmal schlecht gehen, sie wird schwach sein lange Zeit, aber zusammen schaffen sie das. Die Geschwister haben nachgefragt. Er nicht. Er ist auf Abstand gegangen, als ob der Stuhl, der jetzt frei bleibt zwischen ihnen, ihn schützen könnte vor der Gefahr, in der sie schwebt. Die ihrer aller Leben bedroht. Einmal, nach der Schule, hat er sich vorgewagt. Sie haben Witze gemacht über die Mütze, die die Mutter neuerdings trägt, eine Glatze hat sie jetzt, sie selber hat auch gelacht. Er hat sehen wollen, hat ihr blitzschnell die Mütze von Kopf gezogen. Sie ist erstarrt. Es war totenstill. Dann hat sie ihn angeschrien, mit Tränen im Gesicht vor Zorn und Scham. Er ist aus dem Zimmer gegangen. Stumm. Die Augen auf den Boden geheftet, die Zähne zusammengebissen. Er hat nicht geweint. Jetzt sitzt er wieder am Tisch mit ihr. Warum kann sie nicht gesund sein und hübsch wie die Mütter seiner Freunde?
Für nichts geachtet
Siehe, mein Knecht. Das vierte Gottesknechtslied. Der Knecht ist Gottes Bote. Er ist selbst die Botschaft. Aber er ist nicht prächtig, wie man es von einem Gottesboten erwarten könnte. Er kann ein Lied singen vom Leid. Er ist so hässlich, so vom Unglück gezeichnet, dass andere den Blick abwenden von ihm. Er ist wie ein dürrer Zweig, eine krumme Wurzel auf trockenem Boden, ohne Saft und Kraft. Er leidet unter Krankheit und Schmerzen. Lieber schaut man woanders hin oder wechselt die Straßenseite, als ihn anzusehen. Denn er ist vom Schicksal geschlagen, von Gott gestraft, wer weiß wofür. Der Allerverachtetste und Unwerteste, wir haben ihn für nichts geachtet.
Das kennt sie auch. Seit sie nicht mehr zur Arbeit kommt. Seit sie die Mütze trägt und manchmal tagelang nicht raus kann. Menschen machen einen Bogen um sie. Freundinnen rufen nicht an. Die Nachbarin huscht vorbei, ohne zu grüßen. Bis sie, die Kranke, ihr laut hinterherruft. Hallo? Lange nicht gesehen. Wie geht es dir? Die Nachbarin bleibt stehen. Starrt auf die Mütze. Dann in ihr Gesicht. Ohne Augenbrauen, ohne Wimpern. Aber mit einem Lächeln: Ich hab dich vermisst. Die Nachbarin murmelt etwas, dann sagt sie: Gut, dass du mich angesprochen hast. Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Ob du reden willst und jemanden sehen. Jetzt bin ich froh!
Gewandelt
Krankheit, die man sehen kann. Offene Wunden und Verletzungen. Sie verunsichern. Die anderen. Den Kranken selbst. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg. Wir haben ihn für nichts geachtet. Wer spricht? Die Israeliten, Männer und Frauen, die nach Gott fragen in einer unübersichtlichen Zeit. „Wir“. Sie haben gelitten, das Volk ist gespalten, ein Teil ist im Exil gewesen, verschleppt in Feindesland, ein anderer in die Diaspora geflüchtet, als die Babylonier die Herrschaft übernommen haben im Land, einige haben im Land ausgeharrt. Alle haben es schwer. Die Heimkehrer sind verändert und fühlen sich fremd, kein Stein ist auf dem andern geblieben, kein vertrautes Zuhause, kein Tempel zum Beten, kein Ort, an dem du wirklich mit Gottes Gegenwart rechnen kannst. Nur ein Mensch, der offenbar Grauenhaftes erlebt hat. Er ist entstellt, sieht fast nicht mehr menschlich aus, er ist von allen verlassen. Dass sie ihn meiden, ist verständlich. Es entspricht ihrem Glauben. So haben sie es gelernt. Krankheit und Schmerzen kommen von Gott. Wer so vom Herrn geschlagen ist, kann ihm auf keinen Fall nahe stehen. Man nimmt sich in Acht, schützt sich und andere, man sieht ihn nicht an.
Wenn ich anders gelebt hätte, fragt sich die Mutter, wäre ich dann gesund geblieben? Hätte ich meinen Kindern den Schrecken erspart, meinem Mann die Angst?
Siehe, mein Knecht, sagt Gott. Ihm wird’s gelingen. An ihm wird sichtbar, was Gott für seine Leute plant. Gott will, dass sie hinsehen, dass „wir“ ihn ansehen. Wir sehen hin, gezwungenermaßen, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Darum haben wir ihn für nichts geachtet. Aber. Beim Ansehen des leidenden Knechts wandelt sich etwas. In denen, die ihn ansehen. Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Jetzt erkennen sie: Sein Leiden ist nicht selbst verschuldet. Es ist unsere Krankheit, die er trägt. Unsere Schmerzen. Er nimmt unsere Gottverlassenheit auf sich, damit wir Gott wieder finden!
Schärfer gesehen
Was habe ich falsch gemacht, dass ich krank bin, dass das Schicksal mir einen Menschen geraubt hat, meine Arbeit genommen, meinen Lebensplan zerstört? So zu denken, liegt nahe. Auch für uns. Meinten wir doch, wie haben es selbst in der Hand. Mag sein, dass wir hadern mit dem Schicksal, mit Gott. Aber im Leiden, in der Nähe des Todes wird uns auch unser eigenes Versagen bewusst. Selbst wenn wir dem Tod nur in Gedanken nahe sind. Wir sehen schärfer, was uns trennt von den Menschen um uns herum. Von uns selber. Von Gott. Wir sehen, wo wir schuldig geworden sind. Aber: Gott schickt seine Botschaft. In Menschengestalt. Er schickt seinen Knecht, damit seine Leute sehen, damit wir begreifen: Er nimmt die Schuld von uns weg und versenkt sie im äußersten Meer, damit wir geheilt werden!
Sie ist im Krankenhaus. Eine Freundin kommt zu Besuch. Sitzt an ihrem Bett. Sie schweigen lange. Als die Freundin geht, lässt sie eine Karte da. Auf die eine Seite hat sie geschrieben: Ich verstehe den da oben nicht. Aber ich bete, dass er dir beisteht. Auf der anderen ist ein Bild. Eine Ikone. Christus, das Gesicht zerfurcht, die Augenbrauen bilden eine Linie, gekreuzt von der senkrechten Stirnfalte. Er hat die Arme ausgebreitet. Lange steht die Karte auf ihrem Nachttisch. Wenn es ihr schlecht geht, wenn sie keinen sehen will und von keinem gesehen werden, denkt sie: Du weißt, wie das ist. Du hast selbst Schmerzen gelitten. Bist allein gewesen, von Gott verlassen. Du trägst das mit mir.
Stellvertretend
Siehe. Gott schickt einen Menschen, mit dem keiner gerechnet hat. Wer der Gottesknecht war, wissen wir nicht. Einer, der ein Beispiel gibt. Der so ist, wie Gottes Kinder alle sein könnten. Der Gottesknecht gibt sein Leben, damit sie sehen können, welches Ziel Gott mit ihnen hat. Sie haben sich verirrt wie Schafe ohne Hirten. Jeder ist seinen eigenen Weg gegangen, jede hat ihre Ziele verfolgt. Dabei haben sie Gott aus den Augen verloren. Oder die Beziehung komplett abgebrochen. Sie lassen sich das nicht anmerken. Sie halten sich gerade. Nur er geht gebeugt. Er trägt die Kosten der Trennung. Als ob Gott nicht mehr an seiner Seite wäre. Als ob es keinen Gott gäbe. Er schleppt die ganze Last. Die Scham. Die Schande. Die unendliche Einsamkeit. Er tut den Mund nicht auf. Protestiert nicht, lehnt sich nicht auf. Er gibt sein Leben hin. Ein Lamm, das geschlachtet wird. Mit Gott zu brechen, bedeutet den Tod. Er stirbt tausend Tode, stellvertretend für uns, die wir uns aus Gottes Reichweite entfernen. Er wird an unserer Stelle weggerissen aus dem Land der Lebendigen und mit den Gottlosen begraben. Wer denkt noch an ihn?
Nachfolgend
Einige aus Gottes Volk begreifen: Er ist unsere Rettung. Er gibt sich hin für uns. Gott hat ihn geschickt, damit er sein Leben für uns ausschüttet. Und damit wir die Irrwege verlassen und ihm nachfolgen. Die das Geschenk des Gottesknechts annehmen, werden selbst zu Botinnen und Boten. Sie bekennen sich zu dem Gott, der die Schuld vergibt. Der den Leidenden sieht. Der dem Schwachen aufhilft. Die Unfruchtbare segnet. Den Ausgegrenzten in die Mitte holt. Die Sünden der Älteren, wo möglich, wieder gut macht und das Land für die Jungen aufblühen lässt. Sie folgen ihm nach und handeln wie er. So kriegt der Knecht Nachkommen, auch wenn er sterben musste. So sehen alle im Land das Licht und die Fülle. Und Gottes Plan gelingt.
Verbunden
Gottes Bund mit seinem Volk Israel bleibt bestehen. Auch wenn der vollkommene Friede noch aussteht. Weil immer wieder neue Wunden aufbrechen. Weil einige Herrscher der Welt ihren Mund weit aufreißen und den Blick abwenden von den Leidenden. Weil Gerechtigkeit immer noch an vielen Orten auf der Strecke bleibt.
Christenmenschen haben in Christus den Gottesknecht gesehen. Den grünen Zweig, der vor Gott aufwächst. Heute sehen wir ihn am Kreuz. Er teilt unser Leiden, unsere Machtlosigkeit, unsere Gottverlassenheit. Er gibt sein Leben für uns hin. Nicht, um einen rachsüchtigen Gott zufrieden zu stellen. Sondern um uns die Bürde unserer Versäumnisse und Fehler von den Schultern zu nehmen. Damit wir miteinander von vorn anfangen können. Er hält mit uns aus, wenn wir noch kein Licht sehen. Sammelt uns wieder, wenn wir bloß unsere eigenen Wege verfolgt haben und in die Irre gerannt sind.
Zum ersten Mal ist sie wieder in der Kirche. Es ist Monate her. Viele hier hat sie lange nicht gesehen. Abendmahl. Anders diesmal, als sie es kennt. Jeder hat Brot und Traubensaft neben sich. Ein Stück vom Brot des Lebens. Ein Schluck vom Kelch des Heils. Sie wird gesehen. Von ihm und von allen. Sie ist bedürftig. Sie will Brot und Wein schmecken. Lebens-Zeichen Jesu, für sie gegeben und für viele zur Vergebung der Sünden. Andere nehmen teil. Eine Gemeinschaft, so verschieden sie sind. Mit ihnen lässt sie sich aufrichten. Neu ausrichten zum Leben.