Sehen und gesehen werden - Predigt zum Sonntag Lätare

Sat, 13 Mar 2021 16:13:06 +0000 von Charlotte Scheller

zu Johannes 12,20-25 von Charlotte Scheller
20 Es waren aber einige Griechen unter denen, die heraufgekommen waren, um anzubeten auf dem Fest. 21 Die traten zu Philippus, der aus Betsaida in Galiläa war, und baten ihn und sprachen: Herr, wir wollen Jesus sehen. 22 Philippus kommt und sagt es Andreas, und Andreas und Philippus sagen's Jesus. 23 Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Stunde ist gekommen, dass der Menschensohn verherrlicht werde. 24 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. 25 Wer sein Leben lieb hat, der verliert es; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird's bewahren zum ewigen Leben.
 
Alle Empfänge sind abgesagt. Seit einem Jahr kein Abiball, kein Neujahrsempfang, kein Fest zum Abschied oder Neuanfang. Hochzeiten und Taufen werden verschoben. Trauerfeiern im engsten Familienkreis. Wer in diesem Jahr ein Jubiläum hat, kann es nicht mit vielen feiern. Kein großer Bahnhof. Sehen und gesehen werden – Fehlanzeige! Dabei ist Gesehenwerden lebenswichtig. Nicht gesehen zu werden, lässt einen regelrecht verhungern. Ein „Guten Morgen“, ohne dass dein Gegenüber dich anschaut. Ein Gruppenbild, auf dem du nicht drauf bist. Eine Adressenliste, in der dein Name fehlt. Als Kind habe ich mir manchmal vorgestellt - ich glaube, das tun viele Kinder - wie es wäre, wenn ich tot wäre. Meine Eltern, die heute so unzufrieden mit mir waren, würden weinen. Mein Bruder müsste traurig allein spielen. Geradezu lustvoll malte ich mir aus, wie sie mich vermissten. Und mich nie, niemals wieder sehen würden. Wir brauchen die Aufmerksamkeit anderer. Einen Menschen, der sich freut, wenn wir kommen. Einen, dem etwas fehlt, wenn wir fehlen. Eine, die fröhlich sagt: Lange nicht gesehen. Wie geht‘s dir? Eine, die deinen Blick sucht und festhält, ein Lächeln schickt, mit den Augen sagt: Ich seh‘ dich. Ich will wissen, wer du bist.
 
Wie wollen Jesus sehen, sagen ein paar Leute, die zum Fest gekommen sind. Passah in Jerusalem. Griechen, berichtet Johannes, die zum Beten hier sind. Offenbar Leute, die zum jüdischen Glauben übergetreten sind. Gottesfürchtige werden sie genannt. Sie dürfen im Vorhof des Tempels beten. Aber nicht das Passalamm mitessen. Auf der Liste steht nur, wer von Geburt an zum Gottesvolk gehört.
 
Sie haben von Jesus gehört. Unerhörtes offenbar. Es wird geredet in Jerusalem. Jesus soll Lazarus auferweckt haben. Einen Toten ins Leben zurückgerufen. Und andere Dinge getan haben, in denen manche Gottes Gegenwart ahnen. Viele glauben jetzt an ihn. Man müsste ihm das Handwerk legen. Bevor der Jesus-Glaube endemisch wird. Bevor die römischen Besatzer es mitkriegen und Ärger machen. Sie befürchten Aufruhr, den Aufstand der kleinen Leute. Aber man kriegt ihn nicht zu fassen, diesen Jesus.
 
Wir wollen Jesus sehen! Die Griechen sprechen Philippus an. Einen aus dem Kreis um Jesus. Er sagt Andreas Bescheid. Die einzigen beiden aus dem Jüngerkreis, von denen wir keinen hebräischen Namen kennen. Die Griechen sprechen die Jünger mit den griechischen Namen an. In der Hoffnung, dass sie ihre Sprache sprechen. Wie wollen Jesus sehen heißt: Wir wollen wissen, wer er ist. Was sich hinter seinen Zeichen und Wundern verbirgt. 
 
Philippus sagt es Andreas und der sagt es Jesus. Und Jesus ignoriert sie. Redet über sie hinweg, als ob sie nicht da wären. Wir können sie ab jetzt nicht mehr sehen. Wir sehen nur Jesus mit seinen Jüngern. Hören ihn reden, was auch die nicht verstehen können: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es ein einzelnes Korn. Wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht. Klare Sache. Wer etwas ernten will, muss säen. Muss eine bestimmte Menge an Getreide opfern und in die Erde legen. Statt es jetzt zu mahlen und zu Brot zu backen, damit es den Hunger stillt. Es dauert seine Zeit, bis man sehen kann, ob es keimt. Noch länger, bis es, wenn Sonne und Regen und Wind günstig sind, Frucht bringt.  
 
Unklar ist, warum Jesus das jetzt erzählt von dem Weizenkorn. Die Zeit ist da, sagt er zu Andreas und Philippus. Die Stunde ist gekommen. Jetzt wird der Menschensohn in Gottes Herrlichkeit aufgenommen. Das Weizenkorn muss in die Erde fallen und sterben, damit es Frucht bringen kann. Wem sein Leben über alles geht, sagt er weiter, der verliert es. Aber wer sein Leben nicht für das Wichtigste hält, der bewahrt es zum ewigen Leben. 
 
Betrübt ist er, sagt Jesus weiter. Erschüttert über das Bevorstehende. Verrat. Einsamkeit. Schmerzen. Ein grausamer Tod. Aber er wird nicht zu Gott sagen: Vater, rette mich aus dieser Stunde! Denn dazu ist Jesus doch gekommen. Jetzt ist es Zeit, jetzt ist der entscheidende Moment, in dem etwas ganz Neues gepflanzt wird. Gott will nicht allein bleiben in seiner Größe. Er will nicht weit oben sein im Himmel, wenn seine Kinder ganz unten sind. Er hat seinen Sohn geschickt. Einen Menschen. Einen Hirten, der sein Leben einsetzt für seine Schafe. Eine Tür, durch die wir eintreten können in Gottes Haus.
 
Die Umstehenden mögen nur Bahnhof verstehen. Viele sind da, die haben Zeichen und Wunder gesehen. Jesus hat Wasser in Wein verwandelt. Gekrümmte aufgerichtet. Blinden die Augen geöffnet. Beladenen die Schuld vergeben. Tote aufgeweckt. Gottes Kraft ist in ihm. Wie sollen sie begreifen, dass er nun von seinem Tod spricht, dass seine Mission sich ausgerechnet in seinem Sterben erfüllt?
 
Später haben seine Leute sich erinnert. So wie wir es heute tun. Und immer noch nicht begriffen, so wie wir es nicht begreifen können. Und haben doch die Früchte geerntet. Wäre Jesus nicht gestorben, er wäre allein geblieben in seiner Herrlichkeit. Einer, der Gott besonders nahe war. Der heilte und Sünden vergab und so lebte, wie Gott es eigentlich gedacht hat. Aber so war es nicht. Jesus ist der Stunde nicht ausgewichen. Er ist mitten hinein gekommen in die dunkelste Zeit, die ein Mensch erleiden kann. Freunde haben sich abgewandt. Feinde haben ihn verspottet. Und Gott hat ihn da unten gelassen in der tiefsten Verlassenheit. Damit wir da nicht allein sind.
 
Nach seinem Tod bleibt es dunkel. Grabesstille. Schweigen. Nichts zu sehen, nicht zu erkennen, was Gott mit ihm wollte. Und dann die Auferstehung. Das leere Grab und der unverschämte Glaube, dass der Tod nicht das Letzte ist. Dass uns allen am Ende das Leben blüht. Das sind die Früchte. Jesus stirbt. Aber Gott hat ihn zu sich gezogen. Und in diese Gemeinschaft zieht Jesus uns alle mit hinein. Von Gottes Herrlichkeit aus ist er für alle Menschen da. Keiner muss draußen bleiben vor der Tür. Jede kann reinkommen, egal woher sie kommt und was sie mit sich herumschleppt. Jesus kommt hinein in die Stunden der absoluten Unsichtbarkeit, der tiefsten Betrübnis der Seele. So teilt Gott sie mit uns. Das ist nicht zu fassen. Auch die ersten Jünger haben daran gezweifelt, auch nach Ostern noch. Und doch hat ihr Glaube Kraft. Ihre Gemeinschaft hat Bestand, sie wächst und trägt Früchte bis heute. Auch wenn immer noch Männer und Frauen ihr Leben lassen für ihren Glauben oder für andere, die ihnen anvertraut sind. Auch wenn wir keine Märtyrer sind: Wer im Glauben an seine lebendige Gegenwart unterwegs ist, stellt sein Leben nicht über das eines anderen. Wir fragen nach Jesus und finden die Antwort in dem, was von seinem ganzen Weg erzählt wird. Leben und Lieben, Beten und Feiern, Freundschaft und Verrat, Sterben und Auferstehen. Wir erzählen es weiter, jeder in seiner Sprache.
 
Bin ich Griechin oder Jüngerin? Gehör ich zum engeren Kreis oder bin ich hier, weil ich Jesus einfach erstmal sehen will? Mal das eine, dann wieder das andere. Fest steht: Gott will jeden von uns bei sich haben. Aus dem einem Weizenkorn sind viele Körner erwachsen. Sie geben Nahrung und bringen neue Früchte. Männer und Frauen, die sich von Gott angesehen wissen. 
 
Gott hat uns auf der Liste, selbst wenn wir uns bei ihm abgemeldet haben. Er behält uns im Blick. Mit einem unendlichen Vorschuss an Wohlwollen. So angesehen, können wir die anderen sehen neben uns. Amen. 
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