zu Sacharja 9,9-10 von Charlotte Scheller Audio zum Nachhören weiter unten auf dieser Seite Ein großer Auftritt. Manche sind weit gereist, um dabei zu sein. Barack Obama im November 2008, nach seiner Wahl zum Präsidenten der USA, in Chicago. Zigtausend Menschen im Sportpark. Hunderttausende draußen vor den Toren. Hinter dem Sieger wehen amerikanische Flaggen. Er kommt, eine Minute vor Mitternacht, mit seiner Frau und den Töchtern. Jung, gutaussehend, strahlend. Er winkt den Menschen zu. Sie jubeln, lachen und weinen. Zwanzig Minuten dauert seine Rede. „Dies ist unsere Zeit“, verkündet er, „unseren Menschen wieder Arbeit zu geben und unseren Kindern die Türen der Möglichkeiten zu öffnen.“ Yes we can. Handy-Displays leuchten, Tausende kleiner Fahnen werden geschwenkt und die Menschen antworten im Chor: Yes we can. Obama erinnert an die großen Siege der Vergangenheit, Sklaverei und Rassentrennung wurden besiegt, die Weltwirtschaftskrise, und der Sieg im Zweiten Weltkrieg. Jetzt gibt es andere Herausforderungen. Neue Kriege. Der gefährdete Planet Erde. Die Spaltung der Gesellschaft. „Ich werde niemals vergessen“, sagt er, „wem dieser Sieg tatsächlich gehört. Er gehört euch“.
Ein anderer großer Auftritt. Jesus zieht in Jerusalem ein. Hunderte sind da, viele weit gereist zum Fest, sie drängen sich in den engen Straßen der Stadt, schwenken Palmzweige, jubeln ihm zu, werfen Mäntel und Kleider vor ihm auf die Straße wie einen roten Teppich. Eine Eskorte von Begeisterten läuft vor und hinter ihm her. Hosianna dem Sohn Davids!, rufen sie. Gelobt sei er, denn er kommt im Namen des Herrn! Sieht er gut aus? Wir wissen es nicht. Er reitet auf einem Esel, die Kleider seiner Jünger polstern den spitzen Eselsrücken. Seine Beine schlackern um die Eselsflanken, die Füße berühren fast den Kleiderteppich am staubigen Boden. Er hat viele Reden gehalten in den vergangenen 36 Monaten. Aber vor allem ist er selbst die Botschaft gewesen. Gott ist hier, ganz nah bei uns. Jesus ist selbst die Botschaft, denn er hat mit Verachteten am Tisch gesessen und gefeiert. Hat dem Gelähmten die Schuld vergeben. Mit den Frommen über den Sabbat gestritten. Dem Blinden seinen Speichel auf die Augenlider gestrichen. Den Fünftausend zu essen gegeben. Sich der Ausländerin zugewendet. Den Sohn des römischen Hauptmanns geheilt. Er hat den Armen von Gottes Reich erzählt und den Jüngern die neue Ordnung gepredigt: Die Letzten sind die Ersten bei Gott. Und wer der Erste sein will, soll allen anderen dienen.
Jetzt ist er still. Er sagt nichts. Er lässt sich das Lob gefallen. Hosianna! Er weiß, was nach dem Fest kommt. Dann werden andere Stimmen laut. Die jubeln nicht. Die sind enttäuscht über diesen König, diese Jammergestalt. Die fordern seinen Tod und würfeln um seine Kleider.
Aber jetzt jubeln sie. Sie sehen den Retter in ihm. Jetzt ist der Tag, den der Prophet Sacharja angekündigt hat. Die Prophetenworte sind ihnen gut im Ohr, denen, die zum Fest nach Jerusalem kommen. Der Prophet Sacharja ruft sie zur Freude. Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.
Dein König kommt. Einer wie der legendäre König David, der das Land groß gemacht hat. Dessen Lieder wir heute noch singen und dessen Gebete wir immer noch beten. Ein Retter. Eigentlich müsste er auf einem Pferd kommen, hoch zu Ross, mit Rüstung und Schwert und Soldaten. Aber er reitet auf einem Esel. Der hat seine eigene Würde. Eine andere als ein Pferd. Esel sind keine Fluchttiere. Sie spüren, wenn Gefahr droht, und bleiben stehen. Sie sind standhaft und zäh. Sie können viel tragen. Einen Propheten zum Beispiel wie Bileam. Der ist in Gefahr geraten und hat Gottes Stimme nicht gehört. Aber seine Eselin sah den Engel und blieb stehen und rettete ihm das Leben.
In alter Zeit waren Esel die Reittiere der Vornehmen. Daran mögen die Jubelnden denken, als Jesus in Jerusalem einzieht. Oder auch nicht. Die nicht daran denken, sehen einen schwachen Auftritt. Keine Fanfaren. Keine Banner. Nur einen Mann, dicht über dem Boden. Ohne Rüstung und Waffen. Arm und reitet auf einem Esel.Und als wär das noch nicht niedrig genug: auf dem Füllen der Eselin. Das Gegenteil von einem Schlachtross. Weil Gott genug hat von den Kriegen. Gott will alles Kriegsgerät zerbrechen und die Kriegsfahrzeuge abschaffen und die Schlachtrösser arbeitslos machen. Er schickt den armen König. Der muss nicht mit einem Heer kommen und nicht groß auftrumpfen. Sein Wort genügt. Es ist das Wort des lebendigen Gottes. Er bringt den Frieden. Hier in Jerusalem, in Gottes Stadt, wird er zuerst sichtbar. Aber er ist nicht nur für sein Volk gedacht, sondern für die ganze Welt. Weil Frieden nur Frieden ist, wenn er für alle gilt. Von einem Meer zum andern. Von hier, wo die Quelle des Lebens entspringt, bis ans Ende der Welt. Freue dich, Tochter Zion, und jubele laut, Jerusalem!
Wer ist dieser König? Ein Gerechter und ein Helfer. Sein Königtum verdankt er nicht einem großen Wahlkampf. Auch nicht militärischer Stärke. Er verdankt es überhaupt nicht sich selbst. Er verdankt es Gott. Im hebräischen Text steht: Er ist ein Geretteter. Weil Gott ihm geholfen hat, kann er jetzt seinem Volk ein Helfer sein. Weil er selbst Gottes Gerechtigkeit erfahren hat, wirkt er jetzt Gerechtigkeit für die Menschen.
Wie kann das gehen? Wie kann die Freude, die da entsprungen ist, weitergetragen werden? Die ersten christlichen Gemeinden haben in Jesus den König gesehen. Er ist selbst die Botschaft vom Frieden. Gottes lebendiges Wort an der Seite der Kleinen, der Unscheinbaren, der Schwachen. In diesen Zeiten sehnen wir uns eher nach einem Machtwort. Nach einem großen Sieg. Nach Versöhnung im Heiligen Land. Nach einem Friedensfest in Äthiopien. Nach dem Impfstoff für alle. Nach Weihnachtsmarkt, Gedränge und langen Tischen. Nach Bigband und Chor und gemeinsamen Liedern. Nach dem ganz großen Bahnhof. Statt dessen schickt Gott diesen armen König. Auf einem Esel. Er kommt mitten in der Nacht, eine Minute vor zwölf. Er rennt nicht weg, er hält mit uns stand.
So werden die wirklichen Siege errungen. Am Ende auch der über den Tod. Vielleicht ist das die richtige Haltung in diesem Advent: Nicht rennen und machen und tun. Sondern einfach da sein, wenn wir gebraucht werden. Wenn es etwas zu tragen gibt. Eine Last. Einen Menschen. Vielleicht erlauben wir uns sogar, mal gar nichts zu tun außer zu atmen. Auf das Kind zu warten, das da geboren werden soll. Und das Freudenlied mitzusummen.
gelesen und kommentiert von Katharina C. Raddatz Audio und Lied "Herr, ich komme zu dir" weiter unten auf dieser Seite
Psalm 118,1-8 Preist den HERRN; denn er ist gut, denn seine Gnade währt ewig.
Es sage Israel: Ja, seine Gnade währt ewig.
Es sage das Haus Aaron: Ja, seine Gnade währt ewig.
Es sagen, die den HERRN fürchten: Ja, seine Gnade währt ewig.
Aus der Bedrängnis rief ich zu Jah; Jah antwortete mir in der Weite.
Der HERR ist für mich, ich werde mich nicht fürchten;
was könnte ein Mensch mir tun?
Der HERR ist für mich unter denen, die mir helfen;
ich werde herabsehen auf meine Hasser.
Es ist besser, sich bei dem HERRN zu bergen,
als sich auf Menschen zu verlassen.
In so ungewissen Zeiten wie diesen fällt es mir sehr schwer, mich nicht zu fürchten. Ich bin umringt von Angst, überall verfolgt sie mich. Von den Nachrichten zu meinen Gedanken, zu Gesprächen mit Freunden. Dieser Text gibt mir so viel Kraft und erinnert mich daran, dass ich nicht alleine bin und dass Gott für mich kämpft.
Herr, ich komme zu dir und ich steh vor dir, so wie ich bin. Alles, was mich bewegt, lege ich vor dich hin. Herr, ich komme zu dir und ich schütte mein Herz bei dir aus. Was mich hindert, ganz bei dir zu sein, räume aus!
Meine Sorgen sind dir nicht verborgen, du wirst sorgen für mich. Voll Vertrauen will ich auf dich schauen, Herr, ich baue auf dich!
Gib mir ein neues, ungeteiltes Herz. Lege ein neues Lied in meinen Mund. Fülle mich neu mit deinem Geist, denn du bewirkst dein Lob in mir. Text und Musik: Albert Frey 1992
zu Offenbarung 21,1-7 Audio mit Lesung und Musik direkt unter diesem Beitrag „Ich habe keine Zeit für Gefühle“, sagt das Mädchen mit leerem Blick. „Ich muss mich um Omar kümmern“. Omar, das ist ihr Bruder, knapp ein Jahr jünger als sie. Die Gefühle, für die sie keine Zeit hat, sind Trauer und Wut und Verzweiflung. Denn ihr anderer Bruder, der schon erwachsen war, ist gestorben. Gerade noch hat er sich um sie beide gekümmert. Jetzt ist er ums Leben gekommen. Auf komplett unsinnige Weise. Aber darüber kann das Mädchen jetzt nicht nachdenken. Und sie will es auch gar nicht. Womöglich würde sie anfangen zu weinen und nie mehr damit aufhören.
Eine Szene aus dem Roman „Britt-Marie war hier“ von Fredrik Backman. Britt-Marie ist eine ältere Frau. Sie ist bei den Kindern geblieben in den Tagen und Nächten, seit der große Bruder gestorben ist. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie es schmerzt, wenn du einen Menschen verloren hast. Wenn du nicht schlafen kannst. Die Frau und das Mädchen treffen sich nachts in der Küche. Britt-Marie will dem Mädchen zeigen: Ich bin dir nahe. Aber „ihre Hände zögern noch in der Luft hinter ihren zitternden Schultern. Die Finger biegen sich, doch berühren sie nicht“. Britt-Marie drängt sich nicht auf. Das Mädchen beißt die Zähne zusammen. Räumt auf und putzt und funktioniert. Bei der Beerdigung bleibt sie stumm. Auch beim anschließenden Beisammensein mit den Nachbarn und Freunden. Später kommen die Tränen. Draußen, auf dem Parkplatz, wo sie sonst immer Fußball spielen. Die Kinder aus der Nachbarschaft sind da. Der Ball rollt auf das Mädchen zu und „legt sich vor ihren Füßen zurecht. Ihre Zehen berühren ihn durch die Schuhe. Sie beugt sich nach vorn und fährt mit ihren Fingerkuppen über die Nähte im Leder. Dann weint sie hemmungslos“.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Der intimste Moment im Predigttext. Ansonsten wird da eine gewaltige Vision gemalt. Die Offenbarung des Johannes. Bilder im Großformat. Die erste Verfolgung der Christen. Der Seher Johannes ist selbst verfolgt worden. Jetzt sitzt er auf der Insel Patmos fest. Ob verbannt zur Strafe oder freiwillig ins Exil geflüchtet – das ist nicht sicher. Nur, dass er großartige Visionen empfängt. Er schreibt sie auf. Für die anderen, die in Bedrängnis sind. Auch für uns heute. Die Bilder lassen uns in Gottes Zukunft schauen. In die Ewigkeit.
Siehe, ich mache alles neu. Es wird nichts repariert,. Das Alte ist vergangen. Himmel, Erde und Meer, die Hoffnung ist vergangen, der Boden unter den Füßen weggezogen, auch der Abgrund des Meeres. Alles verschwunden. Ein neuer Himmel kommt, eine neue Stadt zum Leben, das himmlische Jerusalem, herausgeputzt wie eine Braut am schönsten Tag ihres Lebens. An diesem neuen Lebensort gibt es keinen Schmerz, keinen Tod, keine Gewalt. Der Boden unter den Füßen trägt, es ist Luft zum Atmen - komplett anders als das, was wir hier erleben. Siehe, das Alte ist vergangen.
Aber immer noch Tränen. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Die Tränen sind noch da. Auch im neuen Himmel wird offenbar geweint.
Viele von uns haben geweint in den vergangenen Monaten und Wochen. Am Krankenbett. Am Grab. Im Verborgenen oder sichtbar für andere. Still und leise oder laut und heftig. Tränen aus Schmerz. Aus Zorn. Oder vor Erleichterung, weil das unerträgliche Leiden vorbei ist. Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weiter gehen? Tränen um versäumte Momente, um all das, was nun nicht mehr sein kann. Tränen, die reichlich fließen. Oder nicht nach draußen können.
Die Tränen helfen, im Schmerz lebendig zu bleiben. Viele Tränen sind geflossen und fließen noch. Wir fragen: Warum dieser Tod? Was sagst du dazu, Gott des Lebens? Ich will abwischen alle Tränen, lässt Gott uns sagen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (Jes 66,13).
Wie sich das wohl anfühlt, wenn Gott mir die Tränen abwischt? Wenn Gott mich in den Arm nähme, ganz sanft und behutsam, wenn er mich fragte, wie meine Mutter es tausendmal gemacht hat: Warum weinst du? Der Ball käme wohl ins Rollen, der Schmerz käme aus den Tiefen meines Herzens heraus. Mit den Tränen löste sich all das, was mich so lange festgehalten hat. Und nicht eine einzige Träne ginge verloren. Jede einzelne würde von Gott gesehen. Auch die Tränen, die ich noch keinem gezeigt habe. Auch die noch nicht geweinten.
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen. Schau mal. Gott richtet sich bei uns ein. In einer Hütte. Wörtlich steht da: in einem Zelt. Gott schlägt hier bei uns sein Zelt auf. Durch eine Zeltwand kann ich sogar Atemgeräusche hören. Der nebenan hört, wie ich atme. Mein Schluchzen, und sei es noch so leise. Näher geht es eigentlich nicht. Näher kann mir Gott nicht kommen.
Der Seher Johannes sitzt weit weg, auf der Insel, bedrängt und traurig. Aber genau von dort schaut er in den neuen Himmel und auf die neue Erde. Er sieht, wie Gott sein Zelt nebenan aufschlägt. Er spürt, wie Gott die Hand ausstreckt und seine Tränen abwischt. Und seine verletzten Menschenkinder in den Arm nimmt.
Das Mädchen in der Geschichte streicht über den Ball. Über die Nähte. Mit den Fingerkuppen. Was kaputt gegangen ist, lässt sich nicht reparieren. Aber der Ball ist angerollt gekommen. Sie hat geweint. Und sich dann in das Spiel gestürzt. Die anderen spielen mit. „Zuerst nur abwartend, als entstehe jede Bewegung aus der Trauer, doch bald spielen sie, als sei es ein ganz normaler Abend. Spielen mit ausgeschalteter Erinnerung, denn eine andere Art zu spielen kennen sie nicht“. Noch mehr Kinder tauchen auf. Die Hosen, die Herzen zerrissen wie die des Mädchens. Sie spielen, weil sie nebenan wohnen, da, wo das Mädchen wohnt.
Gott wohnt bei uns. Jetzt schon, in diesem Leben, er ist hier mittendrin, ob ich nun weine oder stumm bin oder mich wieder ins Leben stürze. Er weiß, wie es mir geht, genau jetzt. Er hat sein Ohr an meiner Zeltwand und wohnt direkt neben mir. Bis ich am Ende ankomme in seiner neuen Stadt.
Zitate aus: Fredrik Backman, Britt-Marie war hier, Fischer Verlag 2017