zu Offenbarung 21,1-7
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„Ich habe keine Zeit für Gefühle“, sagt das Mädchen mit leerem Blick. „Ich muss mich um Omar kümmern“. Omar, das ist ihr Bruder, knapp ein Jahr jünger als sie. Die Gefühle, für die sie keine Zeit hat, sind Trauer und Wut und Verzweiflung. Denn ihr anderer Bruder, der schon erwachsen war, ist gestorben. Gerade noch hat er sich um sie beide gekümmert. Jetzt ist er ums Leben gekommen. Auf komplett unsinnige Weise. Aber darüber kann das Mädchen jetzt nicht nachdenken. Und sie will es auch gar nicht. Womöglich würde sie anfangen zu weinen und nie mehr damit aufhören.
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„Ich habe keine Zeit für Gefühle“, sagt das Mädchen mit leerem Blick. „Ich muss mich um Omar kümmern“. Omar, das ist ihr Bruder, knapp ein Jahr jünger als sie. Die Gefühle, für die sie keine Zeit hat, sind Trauer und Wut und Verzweiflung. Denn ihr anderer Bruder, der schon erwachsen war, ist gestorben. Gerade noch hat er sich um sie beide gekümmert. Jetzt ist er ums Leben gekommen. Auf komplett unsinnige Weise. Aber darüber kann das Mädchen jetzt nicht nachdenken. Und sie will es auch gar nicht. Womöglich würde sie anfangen zu weinen und nie mehr damit aufhören.
Eine Szene aus dem Roman „Britt-Marie war hier“ von Fredrik Backman. Britt-Marie ist eine ältere Frau. Sie ist bei den Kindern geblieben in den Tagen und Nächten, seit der große Bruder gestorben ist. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie es schmerzt, wenn du einen Menschen verloren hast. Wenn du nicht schlafen kannst. Die Frau und das Mädchen treffen sich nachts in der Küche. Britt-Marie will dem Mädchen zeigen: Ich bin dir nahe. Aber „ihre Hände zögern noch in der Luft hinter ihren zitternden Schultern. Die Finger biegen sich, doch berühren sie nicht“. Britt-Marie drängt sich nicht auf. Das Mädchen beißt die Zähne zusammen. Räumt auf und putzt und funktioniert. Bei der Beerdigung bleibt sie stumm. Auch beim anschließenden Beisammensein mit den Nachbarn und Freunden. Später kommen die Tränen. Draußen, auf dem Parkplatz, wo sie sonst immer Fußball spielen. Die Kinder aus der Nachbarschaft sind da. Der Ball rollt auf das Mädchen zu und „legt sich vor ihren Füßen zurecht. Ihre Zehen berühren ihn durch die Schuhe. Sie beugt sich nach vorn und fährt mit ihren Fingerkuppen über die Nähte im Leder. Dann weint sie hemmungslos“.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Der intimste Moment im Predigttext. Ansonsten wird da eine gewaltige Vision gemalt. Die Offenbarung des Johannes. Bilder im Großformat. Die erste Verfolgung der Christen. Der Seher Johannes ist selbst verfolgt worden. Jetzt sitzt er auf der Insel Patmos fest. Ob verbannt zur Strafe oder freiwillig ins Exil geflüchtet – das ist nicht sicher. Nur, dass er großartige Visionen empfängt. Er schreibt sie auf. Für die anderen, die in Bedrängnis sind. Auch für uns heute. Die Bilder lassen uns in Gottes Zukunft schauen. In die Ewigkeit.
Siehe, ich mache alles neu. Es wird nichts repariert,. Das Alte ist vergangen. Himmel, Erde und Meer, die Hoffnung ist vergangen, der Boden unter den Füßen weggezogen, auch der Abgrund des Meeres. Alles verschwunden. Ein neuer Himmel kommt, eine neue Stadt zum Leben, das himmlische Jerusalem, herausgeputzt wie eine Braut am schönsten Tag ihres Lebens. An diesem neuen Lebensort gibt es keinen Schmerz, keinen Tod, keine Gewalt. Der Boden unter den Füßen trägt, es ist Luft zum Atmen - komplett anders als das, was wir hier erleben. Siehe, das Alte ist vergangen.
Aber immer noch Tränen. Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Die Tränen sind noch da. Auch im neuen Himmel wird offenbar geweint.
Viele von uns haben geweint in den vergangenen Monaten und Wochen. Am Krankenbett. Am Grab. Im Verborgenen oder sichtbar für andere. Still und leise oder laut und heftig. Tränen aus Schmerz. Aus Zorn. Oder vor Erleichterung, weil das unerträgliche Leiden vorbei ist. Tränen der Verzweiflung: Wie soll es weiter gehen? Tränen um versäumte Momente, um all das, was nun nicht mehr sein kann. Tränen, die reichlich fließen. Oder nicht nach draußen können.
Die Tränen helfen, im Schmerz lebendig zu bleiben. Viele Tränen sind geflossen und fließen noch. Wir fragen: Warum dieser Tod? Was sagst du dazu, Gott des Lebens? Ich will abwischen alle Tränen, lässt Gott uns sagen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (Jes 66,13).
Wie sich das wohl anfühlt, wenn Gott mir die Tränen abwischt? Wenn Gott mich in den Arm nähme, ganz sanft und behutsam, wenn er mich fragte, wie meine Mutter es tausendmal gemacht hat: Warum weinst du? Der Ball käme wohl ins Rollen, der Schmerz käme aus den Tiefen meines Herzens heraus. Mit den Tränen löste sich all das, was mich so lange festgehalten hat. Und nicht eine einzige Träne ginge verloren. Jede einzelne würde von Gott gesehen. Auch die Tränen, die ich noch keinem gezeigt habe. Auch die noch nicht geweinten.
Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen. Schau mal. Gott richtet sich bei uns ein. In einer Hütte. Wörtlich steht da: in einem Zelt. Gott schlägt hier bei uns sein Zelt auf. Durch eine Zeltwand kann ich sogar Atemgeräusche hören. Der nebenan hört, wie ich atme. Mein Schluchzen, und sei es noch so leise. Näher geht es eigentlich nicht. Näher kann mir Gott nicht kommen.
Der Seher Johannes sitzt weit weg, auf der Insel, bedrängt und traurig. Aber genau von dort schaut er in den neuen Himmel und auf die neue Erde. Er sieht, wie Gott sein Zelt nebenan aufschlägt. Er spürt, wie Gott die Hand ausstreckt und seine Tränen abwischt. Und seine verletzten Menschenkinder in den Arm nimmt.
Das Mädchen in der Geschichte streicht über den Ball. Über die Nähte. Mit den Fingerkuppen. Was kaputt gegangen ist, lässt sich nicht reparieren. Aber der Ball ist angerollt gekommen. Sie hat geweint. Und sich dann in das Spiel gestürzt. Die anderen spielen mit. „Zuerst nur abwartend, als entstehe jede Bewegung aus der Trauer, doch bald spielen sie, als sei es ein ganz normaler Abend. Spielen mit ausgeschalteter Erinnerung, denn eine andere Art zu spielen kennen sie nicht“. Noch mehr Kinder tauchen auf. Die Hosen, die Herzen zerrissen wie die des Mädchens. Sie spielen, weil sie nebenan wohnen, da, wo das Mädchen wohnt.
Gott wohnt bei uns. Jetzt schon, in diesem Leben, er ist hier mittendrin, ob ich nun weine oder stumm bin oder mich wieder ins Leben stürze. Er weiß, wie es mir geht, genau jetzt. Er hat sein Ohr an meiner Zeltwand und wohnt direkt neben mir. Bis ich am Ende ankomme in seiner neuen Stadt.
Zitate aus: Fredrik Backman, Britt-Marie war hier, Fischer Verlag 2017