Predigtgedanken zum Lesen und Hören

Worte zum Fühlen. Nähe zum Schmecken. Segen von Gott - Predigt am 20.10.2024 von Annika Weise

Worte zum Fühlen. Nähe zum Schmecken. Segen von Gott - Predigt am 20.10.2024 von Annika Weise

1. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.
 
2. Das Wort Gottes für die heutige Predigt steht geschrieben im 4.Buch Mose im 6.Kapitel: 
22   Und der HERR redete mit Mose und sprach:
23   Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet:
24   Der HERR segne dich und behüte dich;
25 der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
26 der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
27 Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.
 
3. Liebe Gemeinde!
Es gibt Worte, über die kann man nicht sprechen. Man kann sie sagen und empfinden. Man kann sie empfindsam sagen und auch so, dass der Körper etwas davon zeigt, was der Mund sagt. Man kann Worte auch fühlen. Aber es gibt Worte, über die kann man nicht sprechen.
 
4. Geheimnisse kann man nennen, aber meistens nicht erklären, sonst wären sie keine Geheimnisse. Das Wesen Gottes bleibt ein Geheimnis, auch wenn wir von der dreierlei Weise sprechen können, in der Gott wirkt: Als der Vater und Schöpfer allen Lebens; als die Liebe seines Sohnes, der zu den Menschen kommt und sie befreit; als der Geist, der Tote erweckt und alles Dunkel erhellt. Mit seinem Wort wirkt Gott; und doch sind manche Gottesworte nicht erklärbar. Sie sind nur zu empfinden und nur möglichst empfindsam zu sagen. Dann sind sie auch zu erfühlen. Dann sind sie manchmal auch zu verstehen in ihrem Glanz, der viel höher ist als unsere Vernunft. Und das ist ja alles viel mehr, als über diese Worte nur zu sprechen. 
 
5. Sehr alte Worte wollen uns heute mitten im Herzen erreichen. Sie gehören zu den ältesten geschriebenen Worten im Alten Testament. Es sind von jüdischen Gläubigen festgehaltene Worte. Während der Wanderung des Volkes Israel durch die Wüste können sie zum ersten Mal erklungen sein. Die Alten, die die Worte zuerst gehört hatten, sagten sie ihren erwachsenen Söhnen und Töchtern weiter; die wieder sagten sie ihren Kindern und Enkeln. Die Tempeldiener sagten sie den Gläubigen, manche sagten sie auch Fremden – bis die Worte schließlich aufgeschrieben wurden, sogar auf kleine Silberplatten. Es sind Worte wie Edelsteine, die man keinesfalls vergessen oder verlieren wollte.
 
6. So schöne Worte; wir alle kennen sie, natürlich auch auswendig. Kein Wunder, beenden sie fast doch jeden unserer Gottesdienste. Das war allerdings nicht immer so. In der alten Kirche, im Mittelalter, und auch überhaupt in der katholischen Kirche war und ist es so nicht üblich. Martin Luther war es, der in seinem Modell des Gottesdienstes darauf Wert gelegt hat. Eine weise Entscheidung. Das, was Israeliten gesagt wurde und wird, das soll auch uns Christen gelten dürfen. Wir dürfen uns hinter und neben sie stellen und dürfen erfahren, wie eng wir zusammengehören. Leben wir doch von eben dem gleichen Segen, von der gleichen Zuwendung des Herrn zu seinen geliebten Menschen.
 
7. Ja, das sind mehr als Worte. Ihr Klang ist immer wie ein Aufleben der ganzen Schöpfung und ihrer Menschen. Wenn diese Worte erklingen, dann ist das so, als würde der Herr selbst seine so schöne und so geschundene Welt umarmen: Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden. 
 
8. Dieser Klang ... dieser Frieden ... diese große und stille Liebe des Schöpfers zu jedem einzelnen Wesen seiner Schöpfung. Segnen… behüten ... leuchten ... sein Angesicht... Frieden. Es ist sicher verständlich, dass Menschen allein wegen dieser Worte in einen Gottesdienst kommen und es gar nicht abwarten können, bis diese Worte endlich am Schluss den Gottesdienst krönen. Ja, bis wir mit diesen Worten in die neue Woche entlassen werden. Wir wollen ja behütet sein; wir wollen, dass uns Licht leuchtet und erleuchtet; wir wollen doch den Frieden. Alles, was ein Mensch dringend braucht, wird in diesen Worten, in dieser Umarmung der Welt versprochen. 
 
9. Jeder Segen ist ein Versprechen. Die Menschen des Alten Testamentes hatten solch ein Versprechen dringend nötig. Das Alte war vergangen, das Neue bisher nur ein Luftschloss; eine Verheißung, der sie in der Wüste nicht mehr trauen wollten und sich zurücksehnten nach der Sklaverei. Nun brauchten sie wenigstens eine Gewissheit für ihren so ungewissen Weg.
Segen ist eine Gewissheit in den Augenblicken, in denen andere und neue Räume betreten werden müssen, neue Lebenszeiten begonnen werden. Wir brauchen Schutz, wir brauchen Licht und Frieden, wir brauchen Gottes Angesicht in unserer Nähe – wenigstens die Zusage desselben. Nur mit einer Zusage kann überhaupt eine Wirklichkeit beginnen. Jede Wirklichkeit beginnt mit einem Wort.
 
10. Wir sagen und wünschen einander Worte, die Wirklichkeit werden sollen. So segnet Gott die Kinder, die Eltern, die Menschen, die zusammenleben, die Sterbenden, die Trauernden. Er verspricht seine Gegenwart. Das wenigstens ist gewiss. Er umarmt die Menschen; er umarmt seine so schöne und seine so geplagte Welt. Und es leuchtet auf, wie es sein kann, wenn Gottes Liebe Menschen ergreift.
Das brauchen sie, das brauchen wir mehr als alles andere auf dieser Welt voller Kälte, Hass und Gewalt. So können wir die schwere Welt wieder ertragen – in der wir leben und auf der Gottes Geschöpfe leiden müssen.
Es gibt sie, diese Kriege in Gottes einzigartiger Schöpfung. Ein paar, die Macht haben, beglücken sich an der Machtlosigkeit anderer und jagen sie, schlagen sie, foltern sie.
Die Schritte auf dieser Erde werden uns zu manchen Zeiten furchtbar schwer. Da ist es zum Leben nötig, dass wir erhoben werden, dass wir sanft aufgehoben werden. Dann muss es einfach sein, dass laut gesagt wird: Der Herr segne dich und behüte dich.
 
11. Segen ist ein sanftes Aufgehobenwerden vom harten Boden.
Denn Gott ist den schweren Weg mit seinem Volk in der Wüste mitgegangen, ER selbst war da und litt mit seinem Sohn Jesus Christus Kreuz. Auch jetzt ist er da und hüllt uns ein in diese Worte seiner Gegenwart, damit wir fest mit ihm rechnen können. Er hüllt uns ein, sagt seinen Schutz zu; und sein Licht; und seinen Frieden. Gott erklärt uns nicht die Welt und nicht den Schrecken an der Weit. Das tut er nicht. Leider nicht. Noch nicht. Wir werden die Welt nicht verstehen und noch weniger erklären. Wir müssen es auch nicht. Wenn wir nur gesegnet werden und erwarten, fest darauf bauen dürfen, dass er selber mitgeht. Das erklärt nicht die Welt, sondern schenkt eine Geborgenheit, die keine Erklärung mehr braucht.
 
12. Es gibt Worte, über die kann man nicht sprechen. Man kann sie empfinden und empfindsam sagen. Man kann Worte auch fühlen, manchmal körperlich fühlen. Damit wir sie wieder ertragen, umarmt Gott seine Welt, seine so schöne und so geplagte Welt:
Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Amen.

Spüren, dass ich lebe - Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 15.9.2024

Spüren, dass ich lebe - Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 15.9.2024

zu Psalm 16,5-11 von Charlotte Scheller
5 Der HERR ist mein Gut und mein Teil; du hältst mein Los in deinen Händen! 6 Das Los ist mir gefallen auf liebliches Land; mir ist ein schönes Erbteil geworden. 7 Ich lobe den HERRN, der mich beraten hat; auch mahnt mich mein Herz des Nachts. 8 Ich habe den HERRN allezeit vor Augen; er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht. 9 Darum freut sich mein Herz, und meine Seele ist fröhlich; auch mein Leib wird sicher wohnen. 10 Denn du wirst meine Seele nicht dem Tode lassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe. 11 Du tust mir kund den Weg zum Leben: Vor dir ist Freude die Fülle und Wonne zu deiner Rechten ewiglich. 
 
Ein Psalm als Predigttext. Ein Gebet. Ein Selbstgespräch. Mal wird Gott angeredet. Du hältst mein Los in deinen Händen! Dann wird über Gott gesprochen. Er steht mir zur Rechten, so wanke ich nicht. Der Beter bezieht Gott unmittelbar in seine Überlegungen ein. Er hat ihn im Herzen. Wie man einen Menschen im Herzen hat, den man liebt. Du gehst durch den Tag und teilst in Gedanken mit ihm, was du erlebst. Eine stumme Zwiesprache. Wie gut du es getroffen hast. Wie schön das Land ist. Wie köstlich der Wein. Wie groß deine Sehnsucht nach ihm.
 
Ein Psalm Davids. Der Hirte. Nomade. Liederdichter. König. So, wie er es hier sagt, ist er glücklich und zufrieden mit seinem Los. Das Schicksal meint es gut mit ihm. Das Land, das er bekommen hat, ist lieblich. Ein schönes Erbteil. Aber es geht um mehr als ein gutes Stück Land. Um anderes. Es geht um Lebensraum. Es geht darum, zu Hause zu sein in deinem Leben. Da, wo du bist, frei atmen zu können. Dich sicher zu fühlen, körperlich und seelisch. Freude und Glück zu spüren. Einen Weg für dich zu sehen oder wenigstens den nächsten Schritt. 
 
Das ist offenbar auch für den großen Psalmdichter nicht selbstverständlich. Er schläft nicht ruhig, jedenfalls nicht jede Nacht. Sein Herz mahnt ihn. Wörtlich steht da: Ja, in den Nächten mahnen mich meine Nieren. Etwas geht ihm also an die Nieren. Lässt ihn wach liegen. Wie ich das kenne. Nachts wach werden. Oder gar nicht erst einschlafen. Die Gedanken fahren im Kreis. Das Unerledigte. Die Sorgen. Die Erinnerungen, von denen ich nichts mehr wissen will. Dabei brauche ich den Schlaf dringend, um am Tag zurechtzukommen mit all dem, worum ich mich sorge. Und mit mir selbst. Manchmal hilft mir ein Psalm. Ich kann ihn auswendig seit meiner Konfirmandenzeit. Ich spreche ihn in Gedanken. Ein Psalm Davids. Der Herr ist mein Hirte. Der Psalm ist wie ein Schutzraum. Ich wiederhole die alten Worte. Lege meinen Atem hinein. Meine verknoteten Gedanken. Meinen erschöpften Körper. Und nein, ich schlafe nicht sofort ein. Aber es wird ruhiger in mir. Ich hab keine Ahnung, Gott, wie es weitergeht. Aber ich habe die Hoffnung, dass du einen Weg weißt für mich. Bewahre mich, Gott; denn ich traue auf dich.
 
Herz oder Nieren. Es geht um das Innerste. Du hast meine Nieren bereitet, heißt es in Psalm 139. Hier, im Innersten, wirkt Gott ein. Hier findet die tiefste Zwiesprache statt. Der Konflikt. Gott sieht, wo ich im Unreinen bin mit mir und mit ihm. Wo ich keinen Raum sehe für mein Leben. Wo ich ihn aus den Augen verloren habe und vergessen, dass er mir zur Seite steht. Wo ich Gott nicht verstehe! 
 
Manches, was wir durchmachen, was andere durchmachen müssen, ist wie eine endlose Nacht. Ein Tunnel, ein finsteres Tal, ohne dass du Licht siehst am Ende. David kann ein Lied singen davon. Er hat bei all seinen Erfolgen auch jede Menge schwere Zeiten gehabt. Da waren Menschen, die ihn verfolgten und umbringen wollten. Und er hat selbst schwere Schuld auf sich geladen. Er musste mehrere seiner Kinder sterben sehen. Das mag das Allerschwerste gewesen sein. Andere seiner Söhne wandten sich gegen ihn und bekämpften ihn. David hat Angst und Bedrohung erlebt. Schuld. Selbstvorwürfe. Trauer. Enttäuschung. Krankheit. In alldem hat er an Gott festgehalten. Denn du wirst mein Leben nicht dem Tod überlassen und nicht zulassen, dass dein Frommer die Grube sehe. 
 
Was macht ihn fromm? Offenbar nicht, dass er immer richtig handelt. Oft hat er Gottes Rat ausgeblendet. Aber er ist darin fromm, dass er an Gott festhält. Er sieht sich, bei aller Schuld, in all dem Leid, immer noch an Gottes Seite. Er findet seinen Lebensraum in Gottes Nähe, sieht einen Weg für sich, sieht Freude und Erfüllung bei Gott. Die Erfahrung eines Einzelnen. Niedergeschrieben im Buch der Psalmen. Somit auch eine Einladung an uns. Bloß ist es ja nicht so, dass Glaubende vor Krankheit, persönlichen Anfeindungen, Krieg und Tod geschützt sind. Das Grab und die Grube, die Todesschatten in der Welt und in mir neigen dazu, sich auszudehnen und mich zu sich hinunterzuziehen. Dann bleibt mir nichts, als Gott hinzuhalten, was mir an die Nieren geht. Ich entscheide immer noch selbst, wer mich berät. Ich habe mich längst entschieden. Ich will mit Gott unterwegs sein. Und ich bin gut beraten, mir Gott vor Augen zu halten, wenn ich nachts wach liege. Gott, sei du mein Wegweiser, denn ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Lass mich Licht sehen, denn die Todesschatten wollen mich ganz und gar beherrschen.
 
Wie kann ich fühlen, dass ich in Gottes Gegenwart bin? Wie spüre ich etwas von der Freude und Wonne, von dem Glück an Gottes Seite? Manchmal nimmt mich die Musik mit in Gottes Nähe. Ein Kirchenlied im Gottesdienst. Oder für mich allein gesummt bei einem Spaziergang. Ein alter Hit, zu dem ich schon als Teenager getanzt habe, im Radio oder bei einem Konzert auf dem Kirchplatz. Ich spüre mit Leib und Seele: Ich lebe. Manchmal kann ich meinen Kummer und meine Hoffnung in einen Psalm legen. Manchmal sagt mir ein Mensch in meiner Nähe: Ich verstehe deinen Zorn, deinen Neid, deine Bitterkeit. Aber sie passen nicht zu dir. Manchmal fragt mich eine Freundin, per Textnachricht im Handy fragt sie: Was war heute schön? Mir fällt nichts ein, aber ich will ihr eine Antwort schicken. Ich überdenke den Tag. Ich prüfe, was war, auf Herz und Nieren und finde etwas, das ich ihr schreiben kann. Einen Grund, Gott zu danken. 
 
In Gottes Gegenwart erweist sich das Leben stärker als der Tod. Der Psalmdichter begreift Gottes Nähe als ein Gut. Ein schönes Land. Sein Erbteil. Von den Vätern und Müttern im Glauben weitergegeben. An seinem Bett gesungen. Er hat das Erbe angetreten. Sein Lebensraum ist unter Gottes Augen. Die Augen des Schöpfers haben ihn gesehen, bevor er bereitet war, schon vor seiner Geburt waren alle seine Tage in den Himmels-Kalender eingetragen. Er sitzt oder steht und Gott weiß es, Gott kennt seine Gedanken von ferne. Er kann sich nicht verstecken vor Gottes Gegenwart. Er kann sich nicht im Finstern verlieren, weil Gott ihn im Blick behält. Zwar kann er nicht begreifen, was Gott mit ihm vorhat. Er wird wirr im Kopf bei dem Versuch, Gottes Gedanken zu zählen. Aber am Ende, sagt er zu Gott, bin ich noch immer bei dir. 
 
Die Hoffnung ist in den Psalmen ganz diesseitig. Sie ist für das Leben in dieser Welt. Am Ende des finsteren Tals, am Morgen nach der Nacht bist du, Gott. Und ich bin in deiner Nähe. Du lässt mich Freude schmecken und Glück, solange ich lebe. 
 
Im späteren Judentum wächst die Vorstellung, dass die Verbindung über den Tod hinaus besteht. Als Christinnen und Christen bezeugen wir: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt. Wir feiern seine lebendige Gegenwart in Brot und Traubensaft. Wir hören von Gottes Liebe, die uns verbindet in Tod und Leben. Von ihr will ich mich stärken lassen für die Tage, die Gott mich sehen lässt auf dieser Erde. Will dem Tod nicht die letzte Macht einräumen. Will die volle Lebensfreude schmecken und, wo ich kann, andere etwas spüren lassen von Gottes Nähe. In ihr bin ich zu Hause für immer und ewig. Amen. 

Sorgt euch nicht! - Predigt zum Abschluss des Projekts "SOMMER auf dem Platz" am 8.9.2024

zu Matthäus 6,25-34 (Charlotte Scheller)
Sorgt euch nicht! Wir haben zusammengesessen. Eine Vision gehabt von einem Zelt, einem Sommer auf dem Platz. Wir haben einen Plan geschrieben. Viele Mails. Ein Programm. Und dann haben wir uns gesorgt. Was, wenn es regnet? Wenn keiner kommt? Oder wenn mehr Leute als Stühle da sind? Wenn der Kuchen nicht reicht? Wenn das Sofa nirgends Platz findet? Wenn die Nachbarn sich beschweren, wenn nachts die Zeltschnüre durchgeschnitten werden und die Pflanzen geklaut? Was, wenn die Technik versagt oder, Gott bewahre, im Team jemand krank wird?
 
Sorgt euch nicht! Mancher von uns hat nachts wachgelegen und ist den Plan durchgegangen. Für den nächsten Tag. Unmöglich, dass alles klappt! Der Umbau vom Café zur Konzertbühne in fünfzehn Minuten. 
 
Sorgt euch nicht! Oft haben wir unser Herz in die Hand genommen und scheinbar Unmögliches geschafft. Die komplette Musiktechnik aufbauen in fünf Minuten. Vierzig Stühle stapeln in zwei Minuten. An jedem einzelnen Tag sind wir beschenkt worden. Kostbare Begegnungen. Mitten im Programm und am Rand. Nachbarn, die zu Gesprächen bleiben. Initiativen, an die wir anknüpfen können. Bewohnerinnen der Diakonie, die beim Tanzen zuschauen und mitklatschen. 
 
„Sie sind toll“, schreit eine Frau mir ins Ohr beim Konzert der Punkband Over Your Head und ich nicke begeistert. Eine Künstlerin-Mutter. „Sie haben ihrem Fanclub nicht Bescheid gesagt, weil sie Sorge hatten, hier draußen nicht gut rüberzukommen“. Kenne ich, diese Sorgen. Sie sind überflüssig. Die Band kommt gut rüber, die Kommoden in den benachbarten Wohnungen vibrieren und hier, auf dem Platz, tauen Erstarrte jeden Alters auf und tanzen. Handytaschenlampen leuchten in der Abenddämmerung.
 
Manchmal waren wir auf viele eingestellt und es kamen wenige. Mehr als einmal haben wir gehört: So lebendig muss Kirche sein. Ich habe Lust bekommen dazuzugehören. Wir haben aber auch erlebt, dass Menschen auf der Schwelle kehrtmachten. Geschichten hören und Lieder singen auf dem Platz, zwischen Straße und Häusern: Ja. Lieder und Geschichten in einer Kirche: Nein. Malen lernen mit Acryl auf Leinwand: Ja. Eine christliche Legende erzählt bekommen: Nein. Deshalb haben wir uns rausbewegt aus unserem wetterfesten Kirchenzelt aus Stein und Holz. Haben uns weit vorgewagt. Wir wurden mit Lachen und Tanzen belohnt und mit Solidarität überrascht. Manche haben sich auch hineingetraut ins Gebäude. Haben mit dem ständigen Team, das zu haben wir gar nicht geplant hatten, ein paar Tage mitgelebt, mitgegessen, Sorgen und Hoffnungen geteilt, ein bisschen geweint und gelacht.
 
Überhaupt haben wir viel gelacht in diesen 29 Tagen. Und nun? Das Zelt wird uns fehlen. Die Bühne, auf der die Kinder der Förderklassen für zehn Minuten die Stars waren. Eine kleine Kinderschar sich nachmittags um die Vorleserin drängte. Spielende aus sich herausgingen. Vorübergehende einen Schluck Wasser tranken und ein paar Worte wechselten. Was bleibt? Sorgt euch nicht! Seht die Vögel unter dem Himmel. Die Lilien auf dem Feld. Gott gibt ihnen Nahrung und Kleidung. Wie sollte Gott nicht für uns sorgen, seine Kinder?
 
Natürlich müssen wir uns weiterhin sorgen. Abbauen. Aufräumen. Kochen und essen und schlafen und unsere Nachbarn dazu anhalten. Und weiter schauen, in Gottes Namen, was sie brauchen, unsere nächsten Menschen, unsere Nachbarn im Stadtteil und in der großen Welt. Was ihnen fehlt. Wonach sie sich sehnen. Essen. Gesellschaft. Singen und Sinn. Es geht nicht darum, dass wir uns um nichts sorgen. Das Sorgen macht ja unsere Menschlichkeit aus. Auch die Vögel sorgen für ihre Brut, selbst Kuckuckseltern suchen eine gute Pflegefamilie aus. Es geht um unser „Trachten“. Um mein Ziel. Um das, was mich im Griff hat. Seit ich zu Hause ausgezogen bin, sorge ich mehr oder weniger für mich selbst. Regel meine Angelegenheiten. Familie, Beruf, Freizeit, Ehrenamt. Aber das Entscheidende kann ich nicht regeln. Ob ich einen Platz habe in meinem Leben, jedenfalls für heute. Ob es meinen liebsten Menschen gut geht. Ich habe nicht im Griff, ob Frieden wird in der Ukraine oder im Nahen Osten. Und auch nicht, ob die Kinder hier in der Grundschule etwas von Gott erfahren. Ich spüre eine brennende Sehnsucht. Und komme an meine Grenzen. Ich sehe die wunderbaren Menschen hier im Viertel und in der Gemeinde und ahne ihre Sehnsucht. 
 
Euer Vater im Himmel weiß, dass ihr all dessen bedürft. Eigentlich ganz einfach. Lass dich darauf ein, Kind des himmlischen Vaters zu sein. Sorge für dich, für deine Lieben, für die Schöpfung und für den einen, der bei dir anklopft. Den Rest kannst du in Gottes Hände legen. 
 
In Sorgen verlieren sollen wir uns nicht. Unsere Sorgen auf Gott werfen aber schon. Bitten dürfen wir Gott um alles. Wirklich um alles! Gott all unseren Mist vor die Füße werfen. Das Schweigen. Die Starre. Den Zorn. Die Hilflosigkeit. Das Unerledigte. Das Versagen. Wir dürfen Gottes bedingungslose Liebe einatmen. Jetzt, hier, in deinen Augen, bin ich gut.
 
Und wie merke ich, dass Gott weiß, was ich brauche? Ich denke an die Kinder, die wiederkommen und eine neue Geschichte hören wollen. Auch wenn sie nicht im Programm steht. An die Sonnenblume auf meinem Tisch, die, als wir die anderen verteilten, noch nicht aufgeblüht war. An die Vierkant-Spaghetti, die Musiklehrer Stefano nach dem Punk-Konzert servierte. An die Kollegin, die für mich eingesprungen ist. Dass Gott weiß und sorgt, merkst du womöglich am besten, wenn du gar nichts machen kannst. Gebrochenes Handgelenk. Gebrochenes Herz oder andere Verletzungen an Leib und Seele. Dann kannst du nicht mal für dich selbst sorgen. Zeit, im Beet zu stehen als Ringelblume oder als Lilie auf dem Feld oder als Wildkraut am Wegrand. Und nichts zu machen als dich von Gott liebhaben zu lassen. 
 
Unser Zelt ist offen. Der Wind weht rein. Menschen aller Art. Musiker. Songwriterinnen. Graue Panther. Theaterleute. Künstlerinnen von vier bis vierundneunzig Jahren. Hilfesuchende. Fürsorgliche.  Schmetterlinge, Marienkäfer, eine Libelle. Ein Ort zum Ausruhen. Um die neben mir wahrzunehmen mit ihren eigenen Sorgen und Freuden. Mit ihrer Schönheit als Gottes Kinder. So träume ich, mit und ohne Zelt, meine Kirche. Amen. 

Zelt-Predigt zur Eröffnung des Programms "SOMMER auf dem Platz" am 11. August 2024

zu 2 Samuel 7,1-7 (Charlotte Scheller)
 
Liebe Nachbarinnen und Nachbarn, liebe Mit-Zeltende!
Wer in der Stadt, auf einem gepflasterten Platz, ein Zelt aufstellen will, muss den einen oder anderen Pflasterstein rausreißen. Das Zelt muss verankert werden. Es ist ja nichts als ein großes, festes Tuch. Dicke Masten tragen das Tuch, so dass es sich über den Platz spannt. Seile halten die Masten. Eiserne Nägel halten die Seile am Boden. Und dazu mussten ein paar Platten raus. Weil der Boden weich sein muss, wenn du einen Erdnagel einschlagen willst, so tief, dass er das Seil und die Masten sicher halten kann und das Zelt nicht wegfliegt im Sturm. Ein Nagel allein kann das natürlich nicht. Es müssen schon mehrere sein. Und mehrere Seile. Und mehrere Leute, die sie aufeinander ausrichten. Jedes genau in der richtigen Länge. Genau richtig gespannt. Nicht zu fest und nicht zu locker. Alle Seile zusammen halten das Zelt über dem Boden. Der Sturm zerreißt es nicht. Es steht gut und bewegt sich leicht im Wind. Es gibt Schatten und macht, dass unsere Worte und unsere Lieder nicht gleich verfliegen. 
 
Mitten in der Stadt haben wir ein Zelt aufgestellt. Neben unserer schönen Kirche. Weil wir frische Luft atmen wollen. Weil wir bei den Menschen sein wollen, die hier wohnen oder spazieren gehen, Mittag essen, telefonieren, Kinder abholen oder jemanden zum Reden suchen. Weil wir da sein wollen, wo Gott ist. Natürlich steht das Zelt nicht für immer hier, das tun Zelte ja nie. Es ist vorübergehend. Nach ein paar Wochen wird es wieder abgebaut. Seile abgespannt. Erdnägel raus. Masten runter. Zeltplane eingeholt, gefaltet, verstaut und weggefahren. Ich mag noch nicht daran denken. 
 
Wir wollten ein Zelt. Obwohl wir ein festes Haus haben. Aus Steinen und Holzbrettern. Mit bunten Glasfenstern und einem verlässlichen Dach. Mit einer Tür, die fast den ganzen Tag offen steht und sich gar nicht leicht schließen lässt. Viele von uns sind gern drinnen in der Kirche. Mit anderen zum Singen und Beten. Oder allein in der Stille, einfach nur, um zu atmen. Trotzdem wollten wir das Zelt.
 
König David, vor dreitausend Jahren, wollte es genau umgekehrt. Der große König ist auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Gott hat ihm Ruhe vor seinen Feinden geschenkt, Frieden und Wohlstand. David wohnt einen Palast aus edelsten Hölzern. Und Gott wohnt immer noch in einem Zelt. David wünscht sich einen angemessenen Ort zum Beten. Er wünscht sich ein Haus für Gott, mindestens genauso prächtig wie sein eigenes. Einen Gottespalast. Einen Tempel, der zeigt: Mein Gott ist stark. Stärker als die Götter der anderen Völker. Mächtiger als alle Herrscher der Welt. 
 
Ich kann David verstehen. Sowas wünsche ich mir auch. Die anderen, die mich wegen meines Glaubens oder meiner Suche nach Gott belächeln, sollen sehen: Gott gibt es. Gott ist hier. Eine Kraftquelle. Ein Schutzschild gegen die Mächte, die mir Angst machen. In dieser verrückten Welt und in mir drinnen. Ein festes Haus, eine Burg, in der ich sicher bin. 
 
Guter Plan, mein König, sagt Natan, der Hofprophet. Er hat besondere Antennen für Gottes Wort. Mach es so, sagt Natan zum König, denn Gott ist mit dir. Das sagt er am Tag. In der Nacht kommt die neue Sicht. Gott kommt zu dem Propheten. Ein Gedanke. Eine Stimme, die ihn nicht schlafen lässt. Er muss seinen Rat an den König überdenken. Muss wieder hingehen und ihm sagen, was Gott sagt: So nicht, mein Lieber! Oder willst du jetzt entscheiden, wo ich künftig wohnen soll? Ich habe doch noch nie in einem Haus gewohnt! Ich bin mit euch gegangen auf dem langen Weg durch die Wüste. Bis hierher. Ich bin genau wie ihr in einem Zelt umhergezogen, heute hier, morgen dort, und habe mich nicht beschwert. Jetzt habt ihr euch niedergelassen. Und ja, ein paar von euch sind aufgestiegen. Sie haben jetzt mehr Verantwortung. Und meinetwegen eine bessere Ausstattung. Küche und Schlafzimmer. Salon und Eckbadewanne und goldene Türklinken. Einige haben ein festes Haus. Aber Gott, dem Herrn, wird ganz sicher kein Mensch vorschreiben, wo Gott wohnen soll! 
 
Ich hab noch nie in einem Haus gewohnt, sagt Gott. Ich bin immer mit euch mitgegangen. Nur eingrenzen auf einen Ort lässt Gott sich nicht. Auch nicht auf einen einzigen Namen. Mose hat Gott ja nach dem Namen gefragt. Beim brennenden Dornbusch. Um Gott irgendwie zu fassen zu kriegen. Was soll ich meinen Leuten sagen, meinte Mose, wenn sie fragen, wer mich schickt, warum ausgerechnet ich sie aus der Unterdrückung ins Freie führe? Gott antwortet: „›Ich werde sein, der ich sein werde.‹ Das sollst du den Israeliten sagen: Der ›Ich-werde-sein‹ hat mich zu euch geschickt. Oder willst du jetzt bestimmen, wie ich heißen soll und wer ich für euch bin?“ Ich werde sein, sagt Gott. Ich bin zu jeder Zeit da. Direkt bei euch. In der Gefangenschaft. In der Wüste. In der Freiheit. 
 
Am Ende dreht Gott den Spieß um. Der Herr will dir ein Haus bauen, lässt er David sagen. Aus Davids Familie werden noch mehr Könige hervorgehen. Davids Sohn Salomo darf einen Tempel bauen. Nicht um Gott da fest einzuquartieren. Aber um Gottes Namen zu preisen. Um seinen Lobpreis zu singen und Freude daran zu haben. Um Gottes Wort zu hören und einen Wegweiser darin zu finden, wo es langgehen soll mit ihnen und ihren Beziehungen. Den Nächsten anerkennen als Gottes Kind, wie du selbst eins bist. Fremde aufnehmen. Den Armen geben, was ihnen nach Gottes Willen zusteht. 
 
Unsere Christophoruskirche ist wie ein Zelt gebaut. Sie macht sich nicht groß. Sie wirkt nicht wie für die Ewigkeit gemacht. Sie duckt sich hier ins Viertel und sagt: Ich will ein Haus für die Menschen sein. Meine Türen sollen offenstehen. Leute sollen hier zusammenkommen. Ein Zuhause finden, einen Ort, an dem sie atmen können und so sein, wie sie sind. Suchend oder sicher oder mal das eine und mal das andere. Indem ich ein Haus für die Menschen bin, sagt sie, bin ich Gottes Haus. 
 
Aber nun ist Sommer. Vorübergehend sind wir aus den Mauern ausgezogen. Alleine hätten wir uns nicht herausgewagt. Viele haben geholfen. Sich aufeinander eingestellt. Den Platz vermessen. Die Planen ausgerollt. Masten aufgestellt. Nägel eingeschlagen. Seile gespannt. Essen zubereitet. Stühle geschleppt. Worte und Lieder geprobt, dass sie nicht verfliegen. Wir wollen im Freien sein. Einander nahe. Mit dem Himmel über uns und dem Wind im Gesicht. Offen für Neue und Neues. Wohin die Reise geht für unsere Gemeinden, für die Menschen im Stadtteil, für die ganze ungeborgene Welt, wissen wir noch nicht. Wir halten uns aber an Christus fest. Gottes Wort wurde Mensch, heißt es am Anfang des Johannesevangeliums, und zeltete unter uns. Es wohnt mal hier und mal da. Gott lässt sich nicht festlegen. Auf nichts anderes als darauf, bei den Menschen zu sein. So zelten wir auch. Wohnen eine Zeitlang in einem Haus ohne Wände. Schauen, wo uns Gott begegnet. Und wie wir uns verändern. Wie sich dieser Platz verändert. Bis es Herbst wird und wir wieder einziehen in unsere Kirche. Sie ist auch bloß ein Zelt. Auch bloß eine vorübergehende Unterkunft. Einmal, wenn es Zeit ist, werden wir im Frieden wohnen mit allen Nachbarn der Welt.

Es ist noch Platz im Saal. Predigt zur Einführung des Kirchenvorstands am 9. Juni 2024 von Charlotte Scheller

zu Lukas 14,16-24

Es ist noch Platz im Saal. Predigt zur Einführung des Kirchenvorstands am 9. Juni 2024 von Charlotte Scheller

zu Lukas 14,16-24
 
Liebe Schwestern, liebe Brüder, ein Fest, von dem man noch lange reden wird. Der Saal soll voll werden, die Tische sollen sich biegen. Der Wein soll in Strömen fließen. Der Raum soll erfüllt sein vom Duft nach Brot und einer köstlichen Suppe, von Gesprächen und Gelächter, Musik und Gesang. In der Küche soll man sich drängeln, auf der Terrasse und im Flur. Lange hast du geplant, die Gäste eingeladen, das Menü zusammengestellt, die Weine probiert. Jetzt ist es so weit. Nur noch wenige Stunden. Hoffentlich werden alle satt, denkst du. Hoffentlich finden alle Platz!

Dann kommen die Absagen. Kurz und entschieden die einen. Weitschweifig und zerknirscht die anderen, am liebsten wär ihnen, ihr würdet ihnen selbst abraten, mit euch zu feiern, so erkältet sind sie, so beschäftigt.

Was nun? Die Tische sind gedeckt. In der Küche warten die Helferinnen. Der Inhaber eines bekannten Weingeschäfts hat seine besten Flaschen entkorkt. Wie, wenn du einfach andere Leute einlädst? Hauptsache, das Haus wird voll! Wie damals dieser Gastgeber. Jesus hat von ihm erzählt. Was macht er? Er schickt seine Leute raus. Sie sollen andere einladen. Wer so da ist. Egal wen? Ja. Geht raus und ladet alle ein!
 
Ich stelle mir vor, ich bin eine von den Mitarbeiterinnen des Gastgebers. Frauen sind nicht im Blick des Erzählers von damals. Aus Gewohnheit wahrscheinlich, Frauen mitgemeint. Heute sind es viele Frauen im Team des Großen Gastgebers. Auch solche, die rausgehen und andre einladen. Die Erinnerungen schicken, Briefe einwerfen, Mails schreiben. Die andere anrufen. Hör mal. Es geht los. Heute ist der große Tag. Du kommst doch?
 
Der Diener in der Geschichte geht zu Fuß. Er klopft. Gleich an der ersten Tür eine Abfuhr: „Leider passt es heute Abend doch nicht. Ich habe Land gekauft. Es war die Gelegenheit. Ich muss es angucken gehen. Gern ein andermal, in Ordnung?“
Jetzt klopft er an der nächsten Tür. Sie wird aufgerissen. „Ah. Du bist’s! Ähm, war das heute mit dieser Essens-Einladung?“ Der Diener kann es nicht fassen. Seit Tagen redet er von nichts anderem! Der Nachbar sieht ihn nicht an. Er schnürt sich die Arbeitsstiefel zu, nimmt die Wetterjacke vom Haken. „Muss los. Zum Stall. Grad ein Joch Ochsen angekommen. Muss sehn, wie sie sich machen. Du weißt ja. In der Landwirtschaft bist du vierundzwanzig-sieben im Dienst. Arbeit geht vor.“ Er greift sich ein Seil vom Haken und schiebt sich an dem Boten vorbei. 
Er versucht es an der dritten Tür. Er hat kaum noch Lust zu klopfen. Freut sich hier überhaupt jemand auf das Fest? Ich mein: Essen und singen, lachen und, wer weiß, vielleicht Tanz! Hinter dieser Tür ist Musik. Lachen. Stimmengewirr. Eine ganze Weile steht er da, bis die Tür aufgeht: „Ach, die Einladung! Nett, dass Sie kommen. Tja, also, ich hab geheiratet. Genau heute. Tut mir Leid, aber wir feiern selbst.“ 
 
An jeder Tür läuft es ähnlich. Jedem ist es ein bisschen peinlich. Niemand hat Zeit, alle haben Besseres zu tun. Bloß. Was könnte besser sein als diese Einladung? Der Weg zurück ist viel zu kurz. Wie soll er seinem Chef beibringen, dass nicht mal ein einziger kommt? Der Bote lässt den Kopf hängen. 
 
Hier in Christophorus könnte ihm das nicht passieren. Hier versteht man zu feiern. Tauffest. Tischreden. Mittag bei Christophorus. Goldene Konfirmation. Orgel-Einweihung und bald endlich wieder ein Christophorus-Fest. Eine Bühne in der Grünen Mitte. Lokale Stars. Da wird mitgesungen und abgetanzt. Ganz Göttingen feiert hier! Himmelfahrt auf dem Faßberg. Zwei-, dreihundert kommen zusammen, auch ökumenisch, witzige Predigt, Kinderprogramm und man sitzt lange beisammen. Klar, es bleiben auch Plätze frei. 
Dann hätten wir mehr Werbung machen müssen. Einen besseren Termin wählen. Fahrgemeinschaften organisieren. Vegetarisches Essen. Eine Tombola. Klassische Musik. Moderne Musik. Schriftliche Einladungen. Schon ein halbes Jahr vorher. Und mehr Mundpropaganda. Oder sollen wir es so machen wie der Herr, von dem Jesus erzählt? Der hat ja ziemlich speziell reagiert.
 
Er schickt den Diener wieder los. Nicht an die Haustüren der Geladenen. Sondern in die Straßen und Gassen der Stadt. An den Kirchen vorbei. Auf die Plätze, wo die sitzen, die nichts Dringendes zu tun haben. Die sich keinen Acker kaufen können, nicht mal ein Zimmer mieten. Da hin, wo die abhängen, die keinen Job bekommen haben. Nicht mal zum Mindestlohn. Die nicht arbeiten wollen oder können. Er soll alle einladen, die er trifft. Wirklich alle. Arme und Krüppel. Lahme und Blinde. Ich stelle mir vor, dem Boten ist mulmig. Wie soll er die auf der Straße ansprechen, und was ist das überhaupt für ein Auftrag? Klar, die Leute da draußen haben ein schweres Leben. Er möchte nicht in ihrer Haut stecken. Aber muss man sich deswegen gleich mit ihnen an den Tisch setzen?
 
Der Rückweg. Ein seltsamer Zug, den er da zum Haus des Herrn führt. Die Blinden wissen nicht, wo es langgeht. Die Krüppel und die Lahmen hinken die Straße entlang. Die Armen setzen zögernd einen Fuß vor den anderen. Echt jetzt, eingeladen? So viele, die auf Hilfe angewiesen sind und es nicht verbergen können. Oder es nicht verbergen wollen. 
 
Sie setzen sich. Lassen die schmutzigen Bündel neben den Stuhl fallen. Lehnen die Gehstöcke an den Tisch. Im Saal ist noch Platz. Der Bote wird noch einmal losgeschickt. Ich will, sagt sein Chef, dass jeder Stuhl besetzt ist! Und plötzlich weiß er: Die Sache endet nicht an diesem Abend. Er wird mich immer wieder losschicken. Zu Bettlern und Obdachlosen. Zu Arbeitslosen und Workaholics. Zu den Erfolgreichen, die fest im Leben stehen. Zu anderen, die darauf hoffen, dass es irgendwann besser wird. Sogar zu solchen, die die Hoffnung schon aufgegeben haben. 
 
Die Sache ist noch lange nicht zu Ende! Wir hören von dem Boten und seine ganze Geschichte ist eine Einladung. Wir sind ihr gefolgt. Und haben unsererseits eingeladen. Geplant und geschmückt. Kaffee, Sekt und Kuchen vorbereitet als Speise für den Magen. Die Worte von Jesus und das Abendmahl als Nahrung für die Seele. Kommt, alles ist bereit. Die Einladung des Hausherrn verbindet uns. Sie hält die Türen des Festsaals aber auch offen. Es ist immer noch Platz! Mancher hat schon erfahren, wie gut es tut, eine offene Tür zu finden in der Gemeinde.  
 
Vier Menschen sind hier, die sich entschieden haben, dafür Verantwortung zu tragen, dass die Tür offen bleibt. Katharina Latuska, Tim Schunke, Annika Weise, Reinhart Wilfroth. Ihr werdet diese Gemeinde mit mir zusammen weiter leiten. Ihr bringt unterschiedliche Erfahrungen mit und unterschiedliche Gaben. Ihr seid bereit, unserer Gemeinde eure Zeit zu schenken. Eure Ideen. Eure Aufmerksamkeit und Liebe. Es sind keine leichten Zeiten in der Kirche. Viele wenden sich ab. Haben Besseres zu tun. Haben Gott aus dem Blick verloren oder mit den Dienern schlechte Erfahrungen gemacht. Der Gastgeber hält an seiner Einladung fest. 

Gott will alle bei sich haben. Aber ganz besonders die Mühseligen und Beladenen. Die, bei denen es jeder sieht. Und jene, die ein unsichtbares Bündel tragen. Er braucht Dienerinnen und Diener, die entscheiden und planen und rausgehen und sagen: Komm. Du bist eingeladen. Wir wollen dich dabei haben. Nicht, weil wir so großzügig wären. Sondern weil Gott es ist, so unglaublich großzügig.

Übrigens müssen nicht nur die Armen und Hilflosen gebeten werden, Platz zu nehmen, sondern gerade die, die immer alles machen. Langjährige Kirchenvorstandsmitglieder und Neuankömmlinge. Menschen, die Lust haben, Leitungsaufgaben zu übernehmen, und andere, die ihnen den Rücken freihalten. Leute mit der Vision von einem schönen Garten, einer grünen Oase mitten in der Stadt. Und Leute, die gern den Tisch decken für andere. Kommt, alles ist bereit. Der Herr erwartet euch. Er will auf keine und keinen von euch verzichten. Wir sind alle Dienerinnen des Hausherrn. Und zugleich seine Gäste. Amen. 

Gottes Nähe suchen. Impuls für die Stille im Taizégottesdienst am 2. Juni 2024

von Thomas Plate zu Jeremia 23,16-29

Gottes Nähe suchen. Impuls für die Stille im Taizégottesdienst am 2. Juni 2024

von Thomas Plate zu Jeremia 23,16-29

16 So spricht der Herr Zebaoth: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die Euch 
weissagen! Sie betrügen Euch; denn sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen
und nicht aus dem Mund des Herrn.17. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten:
Es wird euch wohlgehen – und allen, die nach Ihrem verstockten Herzen wandeln, sagen sie: Es wird kein Unheil über Euch kommen.

Ich, ja ich sage: Ich erkenne wohl die scheinbar klaren und einfachen Lösungen 
der Populisten und auch die ideologisch geprägten Sonntagsreden der sich selbst als Heilsbringer Sehenden.

18 Aber wer hat im Rat des Herren gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte?

Wer hat sein Wort vernommen und gehört?
Habe ich gehört und gesehen? - Ich muss aufmerksam werden, nicht nur hören durch all das Getöse und Geschrei, sondern auch sehen, was geschieht, worauf Gott mich auf die eine oder andere Art aufmerksam macht. Hinter die Selbstdarstellungsschauspiele, hinter die Fassaden schauen, manchmal die eindimensionalen Kulissen einreißen.

19 Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm und ein schreckliches 
Ungewitter wird auf den Kopf der Gottlosen niedergehen 20 und des Herrn Zorn wird nicht ablassen, bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat; zur letzten Zeit  werdet ihr es klar erkennen.

Starkregen und Fluten, Hitzewellen und Trockenheit - der Zorn Gottes oder die 
Nonchalance des Menschen gegenüber der Natur und Welt, Gottes Schöpfung?
Wir forschen und erweitern täglich, stündlich unser Wissen. Wissenschaft, das Allheilmittel für alle Probleme dieser Welt?

21 Ich sandte die Propheten nicht und doch laufen sie; ich redete nicht mit ihnen und doch weissagen sie. 22 Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten, so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt, um es von seinem Bösen Wandel und von seinem 
bösen Tun zu bekehren.

Ist Ausländerhass, Antisemitismus, Gewalt generell oder gegen Minderheiten, 
ein shitstorm, Beleidigungen, bevorzugt unter der sogenannten Gürtellinie, Drohungen gegen Familienmitglieder bis hin zum Mord neuerdings eine übliche gesellschaftliche Umgangsform? Wo finde ich heute die Richtung auf dem ethisch- moralischen Kompass? Oder dreht die Nadel sich schon haltlos wie in einem Magnetsturm?

23 Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?

Ja, Gott kann fern sein, wenn ich mich von Ihm entferne, mir Beziehungen zu Ihm
und den anderen Menschen unwichtig, lästig werden; ich mich nur mit Menschen und Meinungen umgebe, die meiner Bequemlichkeit dienen und meinem Ego schmeicheln.

24 Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe?, spricht der Herr. Bin ich es nicht , der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der Herr.

Gott, du bist mein Schöpfer, mein Herr, mein Gott! Lass mich das nicht vergessen und dir stets nahe bleiben in meinem Leben, Handeln, Beten und Denken.

Wir suchen gemeinsam Deine Nähe in der Stille. 

Wie war das eigentlich am ersten Ostermorgen? Ostererzählung und Mini-Predigt zu Markus 16,1-8, Ostersonntag 2024

von Charlotte Scheller

Wie war das eigentlich am ersten Ostermorgen? Helft mir, die Geschichte zu erzählen. Auf den Altarstufen wird ein Bild entstehen aus Tüchern und Gegenständen. Es erinnert uns daran, was damals geschah.

Jesus zieht in Jerusalem ein. Auf einem Esel. Die Leute rufen "Hosianna! Du sollst unser König sein". Dann sitzt er mit seinen Freunden beim Abendmahl. Jesus bricht das Brot auseinander und segnet es. Er reicht den Kelch herum. So sollt ihr es auch machen, wenn ihr mich nicht mehr sehen könnt. Ich bin bei euch, immer und überall! 

Andere Leute finden, Jesus macht nur Ärger. Sie nehmen ihn gefangen. Schlagen ihn. Lachen über ihn. Spucken ihn an. Ein König, ha! Sie setzen ihm eine Dornenkrone auf. Hängen ihn ans Kreuz. Jesus hat große Schmerzen. Er muss sterben. Er wird begraben. Seine Freunde legen seinen toten Körper in eine Höhle aus Stein. Ein großer schwerer Stein wird davor gerollt. 

Dann trauen die Freunde sich gar nicht mehr aus dem Haus. Drei lange Tage. Weißt du, wie lang ein einziger Tag dauert, wenn dein Herz schwer wie ein Stein ist, wenn du Angst hast? Klar, das wissen wohl alle hier! 
 
Ein langer Tag. Eine Nacht. Ein zweiter Tag. Noch eine Nacht. Es wird wieder Morgen. Die Sonne geht auf. Drei Frauen gehen los. Sie haben Jesus lieb gehabt. Sie wollen ihrem toten Freund noch etwas Gutes tun. Seinen Körper eincremen. Ihn noch einmal anfassen. Damit sie begreifen, er ist wirklich tot. Da gehen sie mit einem Kännchen Salb-Öl. Der Tod riecht schlimm. Das Öl duftet gut. Hier kommen die Frauen und fragen sich: Wie kriegen wir den Riesen-Stein weg? Aber der Stein ist schon weg. Das Grab ist offen. Jesus ist nicht darin. Bloß ein paar weiße Binden liegen da, in die war der tote Jesus eingewickelt. Und da ist der Stein. Neben dem Grab. Und darauf sitzt einer. Ein Mann oder ein Engel, wer weiß? Sein Kleid ist weiß wie Schnee. Durchscheinend und heller als die Sonne. Er sagt: Fürchtet euch nicht. Ihr sucht Jesus. Er lebt. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden. Ihr werdet ihn wiedersehen. Geht und erzählt es allen seinen Freunden!
 
Erst sind sie starr vor Schreck. Sie können gar nichts sagen. Aber dann geht ihr Herz auf. Sie werden froh. Jesus ist lebendig! Sie laufen schnell zu den Freunden. Sie erzählen es allen. Sie kommen alle zusammen und brechen das Brot. So wie Jesus es gemacht hat. 
 
So machen wir es auch. Wir brechen das Brot und essen alle davon. Wir teilen die Trauben. So wie sie es mit Jesus gemacht haben. Kinder, helft mir das Brot und die Trauben verteilen, so dass alle etwas abkriegen. Kinder und Erwachsene. Das Brot ist kräftig. Die Trauben schmecken gut. Ja wirklich, Jesus ist bei uns. Immer und überall! 

Ihr Kinder habt eine Blume bekommen am Eingang. Vielleicht habt ihr die Blütenblätter bunt gemalt. Jetzt könnt ihr sie nehmen und hier in das Taufbecken legen. Legt die Blume auf das Wasser und schaut, was passiert. Beobachtet eure Blume. Seid ganz still, denn ich will den Erwachsenen noch etwas sagen. 
 
Und wir Erwachsenen. Wie sollen wir erzählen von der Auferstehung? Der Engel am Grab sagt: Fürchtet euch nicht. Geht hin und sagt seinen Jüngern. Aber das tun die Frauen nicht. Jedenfalls nicht gleich. Seltsam. Die Wunder, die Jesus tat, haben sich immer ganz schnell herumgesprochen. Wie er den Taubstummen geheilt hat zum Beispiel. Damals sollten sie nicht darüber sprechen und in Windeseile wussten alle Bescheid. Jetzt sollen sie reden, aber sie sagen erstmal niemandem etwas. Ich kenne das. Wenn mich etwas quält. Der Stein ist noch zu schwer. Er verschließt mein Herz wie ein Grab. Er lässt mich stumm sein, ich will die Last nicht teilen. Aber wie die Frauen bin ich an die anderen gewiesen, die zu ihm gehören. Geht, befiehlt der Engel ihnen, und sagt seinen Jüngern und Petrus. Petrus wird extra genannt. Er hat Jesus mit dem Schwert verteidigt, als die Soldaten ihn gefangen nahmen. Später hat er feige abgestritten, ihn zu kennen. Bevor der Hahn krähte. Keiner ist perfekt darin, sich zu Jesus zu bekennen. Deshalb sind wir aufeinander angewiesen. Wir sollen einander darin unterstützen, unsere Sorgen zu Gott zu bringen. Wir sollen aufeinander achtgeben. Eine sagt dir: Bleib nicht im Grab. Das Osterlicht scheint schon. Geh in deinen Alltag zurück. Jesus ist vorausgegangen. Er weiß einen Weg für dich. 
 
Wie sollen wir reden von der Auferstehung? Wir können nicht sagen, wie sie geschehen ist und wie sie weiter wirkt. Wir wissen nicht, wen Gott erreicht auf seinem Menschenweg - und wer sich selbst ausschließt aus seinem Reich. Vielleicht ist es angemessen, eine Zeitlang zu schweigen. Irgendwann wird die Furcht weichen und wir werden reden. Ein Weg wird erkennbar. Wir werden ihn gehen.
 
Das Ende bleibt offen im Markus-Evangelium. Auch wenn spätere Leser ihren Schluss dort hineingeschrieben haben. Markus kann unseren Schluss nicht für uns schreiben. Es gibt viele Ausgänge aus der dunklen Höhle. Mit jedem und jeder findet Gott einen Weg ins Licht. Der Herr ist auferstanden! 

Anders als die Spötter dachten. Predigt am Karfreitag, 29. April 2024, von Charlotte Scheller

zu Mt 27,33-56
Alle vier Evangelisten berichten, wie Jesus gestorben ist. Am meisten verstört mich der Bericht von Matthäus. Er ist uns heute zum Nachdenken gegeben. Ich lese aus Matthäus 27:
 
33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 
37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38 Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied. 51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52 und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! 55 Und es waren viele Frauen da, die von ferne zusahen; die waren Jesus aus Galiläa nachgefolgt und hatten ihm gedient; 56 unter ihnen war Maria Magdalena und Maria, die Mutter des Jakobus und Josef, und die Mutter der Söhne des Zebedäus.
 

Spott und Schmach ohne Ende. Vorher haben die Soldaten des Statthalters den Gefangenen schon umringt, eine komplette Abteilung treibt ihre sadistischen Spiele mit ihm. Sie haben ihm eine Dornenkrone aufgesetzt, ein Purpurkostüm angezogen, ein Schilfrohr als Zepter in die Hand gelegt und einen höhnischen Tanz um ihn aufgeführt. Sei gegrüßt, König der Juden! Angespuckt haben sie ihn, das Rohr wieder aus seinen Händen gerissen und damit auf seinen Kopf eingeschlagen. Als sie fertig waren mit Foltern und Verhöhnen, haben sie ihm seine eigenen Sachen wieder angezogen. Später werden sie drum würfeln, wer sie mitnehmen darf. Sie haben ihm den Kreuzbalken aufgeladen, bis er zusammengebrochen ist und sie einen andern finden mussten, der seinen Galgen schleppt, Simon von Kyrene. 
 
Jetzt sind sie in Golgatha angekommen. Schädelstätte. Schreckensort. Draußen vor der Stadt, der Hinrichtungsplatz. Nur Schwerverbrecher tötet man so am Kreuz. Zwei andere, die weiß Gott was verbrochen haben, werden mit ihm hingerichtet. Stumm alle drei, jeder in seiner eigenen Verlassenheit. Eine fragwürdige Wohltat haben sie noch für Jesus, bevor sie ihn seinem Todeskampf überlassen. Wein. Möglich, dass das gnädig ist, um ihm die Sinne zu vernebeln, um den Körper gegen die Schmerzen zu betäuben. Oder ein weiteres Detail der Unmenschlichkeit. Der Wein ist mit Galle vermischt. Bitter wie die Schmerzen, wie das Sterbenmüssen, wie das Ende überhaupt. Jesus lehnt ab. Will er wach bleiben, alles spüren, einen Rest Würde bewahren? Von dem Wein muss er nicht trinken. Den Kelch des Leidens kann er nicht vorübergehen lassen. Er hat darum gebetet, nachts im Garten Gethsemane, nach dem Abendmahl, mein Vater, wenn möglich, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber. Nicht wie ich will, sondern wie du willst.
 

Das Ende hat nichts Versöhnliches. Kein „Vater, vergib ihnen“. Kein „Es ist vollbracht“. Kein Sinn, keine Moral, kein Trost. Bloß sinnloses Sterben. Es zieht sich hin. Die Bewacher sitzen herum. Und immer noch kommen Leute vorbei und zerreißen sich die Mäuler und schütteln die Köpfe. Da hängt einer, genannt Gottes Sohn. Ha. Angeblich kann er den Tempel abreißen und in drei Tagen wieder aufbauen. Aber er kann nicht runtersteigen vom Kreuz. Andern hat er geholfen und sich selbst lässt er hängen. Ha. König von Israel, er steige herab. Ha. Er hat Gott vertraut. Nun werden wir ja sehen, ob Gott kommt und ihn rettet, seinen lieben Sohn. Die Lehrer und Priester der Gemeinde höhnen und die Ältesten. Niemand darf sich anmaßen, sich Gottes Sohn zu nennen. Auch die Mitgekreuzigten stimmen ein. Dass er hier hängt, dass sie hier hängen, straft jeden Gottesglauben Lügen. Das Bisschen Glauben, das sie vielleicht gehabt haben, bis sie, Gott weiß weswegen, hier geendet sind. Jetzt sieht man, wo das hinführt mit dem Gottvertrauen. Wenn du wirklich in Not bist, hilft dir niemand. 
 
Wenn du Gottes Sohn bist, dann steig herab! Zu Beginn seines Weges hat der Versucher das gesagt. Auf die höchste Spitze des Tempels hat er ihn geführt. Gott hat seinen Engeln befohlen, dich auf Händen zu tragen. Spring runter. Er fängt dich auf! Hey, steig vom Kreuz, dann glauben wir an dich. 
 
Aber das ist kein Glauben, wenn du Beweise brauchst. Wenn du ein Wunder sehen musst, um zu vertrauen. Jesus setzt keine Superkraft ein. Er betäubt den Schmerz nicht und redet nichts schön. Er geht den ganzen schweren Weg. Die Sonne verfinstert sich mitten am Tag. Das ganze Land wird dunkel, während ein Unschuldiger stirbt. Wie es zu jeder Zeit dunkel wird und in jedem Land, wo Unschuldige und Wehrlose verfolgt werden, gefoltert, ermordet. Wie es in uns drinnen dunkel wird, wenn wir unseren eigenen Schmerz ertragen müssen und nicht wissen, warum.
 

Jesus sagt nichts. Aber er schreit. Nach sechs Stunden qualvollen Leidens schreit er, mit den Worten eines vertrauten Psalms schreit er: Eli, Eli, lama asabtani? – Ein paar, die herumstehen, sagen: Der ruft nach Elia. Das heißt, es geht zu Ende, denn nach jüdischer Tradition hilft Elia den Sterbenden. Und einer rennt los, irgendeiner, der noch einen Rest Anstand im Leib hat, und holt einen Schwamm mit Essig und will ihm die Lippen anfeuchten. Aber die andern halten ihn zurück. Lass erstmal sehn, ob Elia ihm hilft. Ich seh mich in ihm, in dem Helfer, der sich von seinem Mitgefühl bewegen lässt, impulsiv, betroffen, und dann auf halbem Weg stehen bleibt. Wie oft lasse ich mich davon abhalten, menschlich zu handeln. Ich denke, es wäre doch bloß ein Tropfen auf dem heißen Stein. Ich denke, andere sind zuständig, Elia oder der Fachdienst Soziales oder die Bahnhofsmission. Ich höre, es wird schon mehr als genug gemacht für die, deren Elend alle sehen können. Wie oft geht die Mitmenschlichkeit eines Einzelnen unter im Geschrei vieler. 
 
Auch Jesus schreit. Er legt sein ganzes Leiden in das alte Gebet, wahrscheinlich betet er den ganzen Psalm. Gott weiß, wie viele Male so ein Psalm in eine qualvolle Stunde hineinpasst. Auch heute. Gerade heute. Warum hast du mich verlassen? Unsere Praktikantin Meret hat übersetzt: Warum hast du mich plötzlich zurückgelassen? Immer hat mich deine Hand gehalten. Und jetzt, im entscheidenden Moment, spüre ich sie nicht. Mein Gott, warum?
 
Er steigt herab. Er kommt doch runter zu uns, Gottes Sohn. Bloß anders, als die Spötter gedacht haben. Er kommt in jeden elenden Moment, in dem wir uns quälen und Gottes Hand nicht spüren. Er kommt in jede verdammte Hölle, die Menschen einander bereiten, und hält das Unerträgliche mit aus. Er schreit mit uns, schreit mit ihnen: Mein Gott! Warum spüre ich nichts von dir? Ich kann die Worte mitsprechen. Kann mit Jesus meine Gottverlassenheit dem Vater im Himmel vor die Füße werfen und das sinnlose Leiden der anderen, dessen Bilder mich fluten und überfordern. Meine Klage hat eine Adresse. Mein Gott! 
 

Vor der Stadt geschieht das Unrecht. Es soll draußen gehalten werden. So ist es ja immer noch. Viel Elend vor der Stadt, das wir lieber nicht sehen wollen. Aber nach Gottes Willen läuft es anders. Denn drinnen, in der Stadt, im Tempel, reißt der Vorhang von oben bis unten entzwei. Gottes Allerheiligstes wurde angetastet. Die Erde bebt. Felsen zerreißen. Drinnen geht alles kaputt, wenn das Unrecht, das Menschen widerfährt, außer Sichtweite bleibt. Die Schutzbefohlenen, die sexuelle Gewalt erlitten haben von Fürsorgenden, auch in der Kirche. Die Unschuldigen, die in Butscha gefoltert wurden und ermordet. Die Kinder, die in Dnipro im Bunker spielen und lernen und schlafen. Die Geiseln, aus Gaza verschleppt, und ihre Angehörigen, die um ihr Leben bangen. Die anderen, die in Gaza zu Hause waren und nun krank sind und hungrig und auf der Flucht und nirgend sicher. Sonnenfinsternis. Keine Spur von Gott. Außer vielleicht da, in diesem verlassenen Menschen am Kreuz. Gottes Allerheiligstes wird sichtbar in ihm.
 

Was geschieht, bleibt nicht ungesehen. Der Tempel und die Felsen schreien, als Jesus stirbt. Ein römischer Hauptmann, einer, der gar nicht drinnen ist in den Glaubensfragen und gar nichts weiß vom Gott Israels, der sieht das Erdbeben auch. Und ausgerechnet er bekennt: Dieser hier ist Gottes Sohn. Frauen, die Jesus gedient haben, und solche, deren Söhne mit Jesus unterwegs waren, lassen ihn in den schlimmsten Stunden nicht aus den Augen. Sie sehen nicht weg. Sie sehen hin. Maria und Maria und die Mutter der Söhne von Zebedäus. Sie werden beim Namen genannt und werden künftig in Jesu Namen für das Leben einstehen. Leben vor dem Tod. Mit Gottes Reich vor Augen. Bis heute lassen sich manche nicht abhalten von ihrer Mitmenschlichkeit. Enissa Amani streitet in Deutschland gegen Rassismus und kämpft mit den Frauen in ihrem Heimatland Iran für ihre Rechte. Viele gehen in diesen Tagen hier auf die Straßen und nehmen Stellung für Vielfalt und Offenheit in unserem Land. 
 

Mitten in der Gottverlassenheit ist Menschlichkeit zu finden. Menschen lassen sich mit ihrem Namen ansprechen. Sehen genau hin. Hören zu. Bringen eigenes und fremdes Leid vor Gott. Halten Schweigen aus. Halten die Sehnsucht wach: Gott, der seinen Sohn in die tiefste Finsternis der Welt geschickt hat, lässt es am Ende hell werden für alle Menschen. Amen.

Plan W wie Widder - Predigt am Sonntag Judika, 17.3.2024, von stud. theol. Meret Seehafer

zu 1. Mose 22,1-14

Plan W wie Widder - Predigt am Sonntag Judika, 17.3.2024, von stud. theol. Meret Seehafer

Gnade sei mit euch und Friede von G*tt unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus!
 
Der heutige Predigttext steht im 1. Buch Mose Kapitel 22, es sind die Verse 1-14. Ich lese aus eigener Übersetzung:
 
1Und es geschah nach diesen Ereignissen, da stellte G*tt Abraham auf die Probe. Und er sagte zu ihm: „Abraham!“ Und er sagte: „Siehe mich.“ 2Und er sagte: „Nimm doch deinen Sohn deinen einzigen, den du liebst, den Isaak und geh für dich in das Land Morijah und opfere ihn dort zum Brandopfer, auf einem der Berge, den ich dir sagen werde.“ 3Da machte sich Abraham am morgen früh auf, schirrte seinen Esel an und nahm seine zwei Knechte mit sich und seinen Sohn Isaak. Und er spaltete Hölzer für das Brandopfer und stand auf und ging zum Ort, den G*tt ihm gesagt hatte. 4Am dritten Tag, da erhob Abraham seine Augen und sah den Ort von Ferne. 5Da sagte Abraham zu seinen Knechten: „Bleibt für euch hier mit dem Esel und ich und der Junge wollen dorthin gehen und uns niederwerfen, dann werden wir zu euch zurückkehren. 6Da nahm Abraham die Hölzer für das Brandopfer und legte sie auf Isaak seinen Sohn. Und er nahm in seine Hand das Feuer und das Messer und sie gingen beide zusammen. 7Da sagte Isaak zu Abraham, seinem Vater: „Mein Vater.“ Und er sagte: „Siehe mich, mein Sohn.“ Und er sprach: „Siehe, das Feuer und die Hölzer für das Brandopfer, aber wo ist das Schaf zum Brandopfer?“ 8Da sagte Abraham: „G*tt wird für sich das Schaf zum Brandopfer sehen.“ Und sie gingen beide zusammen. 9Und sie kamen zum Ort den G*tt ihm gesagt hatte und Abraham baute dort einen Altar und er richtete die Hölzer zum Brandopfer her und er band seinen Sohn Isaak und er legte ihn auf den Altar auf die Hölzer. 10Da schickte Abraham seine Hand und er nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten. 11Da rief zu ihm ein Bote des Herrn vom Himmel, und er sagte: „Abraham, Abraham!“ Und er antwortete: „siehe mich.“ 12Da sagte er: „Schicke deine Hand nicht zum Knaben und tue ihm nichts! Denn jetzt habe ich erkannt, dass du Gott fürchtest und mir nicht vorenthalten hast deinen einzigen Sohn.“ 13Da erhob, Abraham seine Augen, und er sah: und siehe hinten ein Widder, der sich mit seinen Hörnern im Dickicht verfangen hatte. Da ging Abraham und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer anstelle seines Sohnes. 14dann nannte Abraham den Namen jenes Ortes „der Herr wird sehen“ daher sagt man heute auf dem Berg wird der Herr sich sehen lassen.
 
Ich habe meine eigene Übersetzung vorgelesen. Mir sind an dieser Geschichte einige Dinge wichtig, die in der Lutherübersetzung anders klingen. Es geht an diesen Stellen ums Sehen. G*tt sieht Abraham und Abraham wird G*tt neu sehen lernen. Gott ruft Abraham. Der antwortet: „siehe mich“. Luther übersetzt Abrahams Antwort mit „Hier bin ich“. Im Hebräischen steht הנני.  Das drückt eine Haltung der Aufmerksamkeit und Empfänglichkeit aus. Wenn ich sage: „siehe mich“, stehe  ich meinem Gegenüber mit allem, was ich habe, zur Verfügung. Abraham sagt: „siehe mich, sieh meine ganze Person.“
G*tt befiehlt Abraham dann: „Geh für dich“. Genau wie damals, als G*tt Abraham befahl, in ein unbekanntes Land zu ziehen. Damals in der alten Heimat und jetzt, auf dem Weg zum Opferberg, geht es um ein Hingehen ins Unbekannte. Und um und das völlige Vertrauen in G*tt. Gleich zu Beginn lesen wir: G*tt stellte ihn auf die Probe. Das bedeutet aber nicht, dass das Ende offen ist. G*tt hat das Ergebnis bereits im Blick, „er macht [Abraham] [also] erprobt.“
 
Den Hintergrund dieser Geschichte bildet ein alter Ritus zum Eintritt ins Erwachsenenalter. Ein Gottesdienst. Ein Opferfest, damit Gott den jungen Erwachsenen segnet. Ein Tier wird Gott zum Opfer dargebracht. Es wird anstelle des Jungen geschlachtet. Ein alter Brauch. Unsere Geschichte räumt mit diesem Brauch auf. Wir können G*tt nicht zwingen, etwas zu tun. Wir können Gottes Segen nicht herbeizwingen. Auch nicht durch ein Opfer. Nicht einmal dadurch, dass wir G*tt das Liebste opfern, das wir haben. G*tt sagt hier klar, er möchte diese Opfer nicht mehr. Für Isaak schickt er ein anderes Opfer, einen Widder. Aber nicht als Ersatz, nicht als Symbol für ein Menschenopfer! Obwohl dies damals ein akzeptierter Ritus war, sagt G*tt: „Nein, ihr müsst das nicht mehr tun, ihr sollt eure Kinder nicht mehr opfern, auch nicht im übertragenem Sinn, ihr braucht das nicht, damit ich euch sehe!“
 
Es ist eine schwere Aufgabe, die G*tt von Abraham verlangt, eine bei der uns schon als Leser*innen ganz anders zumute wird. Das, was uns am liebsten ist, zu opfern fällt schwer. Aber so eine Aufgabe kennen wir alle. Wie oft wollen wir uns selbst opfern, um diese eine Aufgabe für die Arbeit noch zu schaffen, anderen eine Freude zu machen oder weil wir ihnen versprochen haben, diese eine Aufgabe noch zu erledigen und machen uns infolgedessen selbst zum Opfer?
 
Sich in diese Erzählung hereinzudenken ist schwierig. Vor allem, weil G*tt hier die Grenzen des Gehorsams strapaziert. Infolge dieses Textes muss man sich also fragen, wo Gehorsam aufhört und wo meine Grenzen anfangen? Denn wir übergehen unsere Grenzen gerne, da wir glauben, dass G*tt, unsere Vorgesetzten oder Freund*innen schon wissen, was sie tun. Sie haben uns ja vorher nicht auf falsche Wege geführt, warum sollten wir ihnen nicht auch hier vertrauen?
Und was ist mit G*tt in dieser Geschichte? Schaut er nur zu, ist ihm gleichgültig was diese Prüfung gefühlsmäßig mit Abraham und Isaak macht? Nein, auch wenn die Geschichte über Gefühle schweigt, bin ich überzeugt, dass G*tt gewusst hat, wie verzweifelt sich beide gefühlt haben. Denn die Aufgabe, die Abraham zum Glück nicht zu Ende bringen musste, hat G*tt mit dem Tod Jesu zu Ende bringen müssen.
 
„Mein G*tt, mein G*tt, warum hast du mich verlassen?“ Jesus schreit am Kreuz. Genauso wie so viele seiner Leidensgeschwister versteht Jesus nicht, wie G*tt in dieser Situation ferne sein kann, wie und warum er ihn komplett verlassen hat, wo er G*ttes Nähe doch so dringend brauchte. Aber trotz dieses Gefühls der G*ttesferne wurde Jesus am Sonntag morgen auferweckt. Wie so oft kommt die Rettung, egal ob durch G*tt oder Menschen, erst in allerletzter Minute. Jesus muss sterben. Er gibt sein Leben hin. Für uns gilt aber glücklicherweise, dass wir nicht Jesus sein müssen!! Ja, wir sollen ihm folgen, aber G*tt weiß, dass wir Menschen und somit fehlbar sind. Der große Akt der Aufopferung ist bereits mit Jesu Tod geschehen.
 
Und gerade, weil G*tt diesen Weg mitgegangen ist, stellt er klar, dass du nicht mehr alles opfern musst, um ihm zu gefallen. Du musst dich nicht selbst zu Tode quälen, um eine Aufgabe zu erfüllen, die du von Anfang an nicht bestehen kannst!! G*tt schaut in mein Innerstes. Er sieht, was an Gutem in mir ist. Er hat auch eine Aufgabe bereit, die ich bewältigen kann. Zu Samuel sagt G*tt, als er unter Isais Söhnen einen zum König salben soll: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist, G*tt aber sieht das Herz eines Menschen an!“
 
Jesus und Isaak haben ihren Eltern vertraut, wie so viele Kinder heute auch. Und auch heute wenden sich Eltern gegen ihre Kinder, tun ihnen Gewalt an, auch wenn sie wissen, dass ihre Kinder von ihnen abhängig sind und ihnen vertrauen. G*tt sieht diese Gefühle, auch wenn wir es in diesen Momenten oft nicht spüren. 
 
G*tt erkennt in diesem Text an, dass es Grenzen gibt, die Menschen nicht überschreiten wollen oder können. Und meistens eröffnet er uns einen Plan B. Oder Plan W, wie Widder. Dies sind vielleicht Pläne, die erst nicht erkennbar sind und wie in der Erzählung aus einem Dornengestrüpp gezerrt werden müssen, aber am Ende viel besser sind, als der ursprüngliche Plan, den wir vorgesehen hatten.
Manchmal erscheint uns im Zuge dieses Planes von G*tt  vielleicht auch der Engel, der im denkbar letzten Moment eine scheinbar ausweglose Situation rettet in der Gestalt von Menschen, die mit ihrer anderen Sichtweisen auf ausweglose Situationen, Menschen, die zuhören und Lösungen anbieten, die wir nicht gesehen haben. 
Wichtig ist in dieser Situation, die Hilfe anderer anzunehmen und sich in seinem falschen Eifer bremsen zu lassen. Solche Hilfe kann ein Segen sein, auf das zukünftig Gutes passiert.
 
Amen.

Angesehen. Predigt am Sonntag Lätare, 10.3.2024, von Charlotte Scheller

zu Lukas 22,54-62
54 Sie ergriffen ihn aber und führten ihn ab und brachten ihn in das Haus des Hohenpriesters. Petrus aber folgte von ferne. 55 Da zündeten sie ein Feuer an mitten im Hof und setzten sich zusammen; und Petrus setzte sich mitten unter sie. 56 Da sah ihn eine Magd im Licht sitzen und sah ihn genau an und sprach: Dieser war auch mit ihm. 57 Er aber leugnete und sprach: Frau, ich kenne ihn nicht. 58 Und nach einer kleinen Weile sah ihn ein anderer und sprach: Du bist auch einer von denen. Petrus aber sprach: Mensch, ich bin’s nicht. 59 Und nach einer Weile, etwa nach einer Stunde, bekräftigte es ein anderer und sprach: Wahrhaftig, dieser war auch mit ihm; denn er ist auch ein Galiläer. 60 Petrus aber sprach: Mensch, ich weiß nicht, was du sagst. Und alsbald, während er noch redete, krähte der Hahn. 61 Und der Herr wandte sich und sah Petrus an. Und Petrus gedachte an des Herrn Wort, wie er zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. 62 Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich.
 
Liebe Gemeinde, es gibt Zeiten, in denen ist der Satan wirksam. So sagt es jedenfalls der Evangelist Lukas. Wenn Satan wirkt, dann sind gute Vorsätze schnell vergessen.Anstand, Loyalität und Treue haben Pause. Die Spielregeln werden umgeschrieben. Ein Freund liefert den andern aus. Oder bestreitet, je mit ihm gesprochen zu haben. Vom Glauben wird abgelassen. Zumindest wird davon geschwiegen. Aus Sicherheitsgründen. Besser, du gibst dich nicht als Christ zu erkennen. In gefährlichen Zeiten ist jeder sich selbst der Nächste. Wie soll man da bei Jesus bleiben?
 
Petrus möchte nichts lieber als das. Bei Jesus bleiben. Er hat alles aufgegeben damals am See. Ein gestandener Mann. Ein erfahrener Fischer. Nach dieser einen durchwachten Nacht, als sie am Ufer lagen mit ihren leeren Netzen, ist er Jesus gefolgt. Auf sein Wort hin und gegen jede Fischer-Vernunft ist er wieder rausgefahren aufs Wasser. Hat sein Vertrauen vorgeschickt und die Netze nochmal ausgeworfen. Und ist reich beladen wieder an Land gekommen. Volle Netze. Volles Herz. Ab jetzt wirst du Menschen fangen, hat Jesus zu ihm gesagt. Petrus hat alles stehen- und liegenlassen und ist mitgegangen.
 
Jetzt ist Land unter. Jesus ist verhaftet und abgeführt worden. Die Freunde sind in alle Winde zerstreut. Vorhin, im Garten, haben sie geschlafen, während Jesus gebetet hat. Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir. Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Dass er leiden und sterben muss, wollten sie nicht wahrhaben. Lieber haben sie die Augen zugemacht. Ein Engel ist gekommen und hat Jesus Kraft gegeben. Und Jesus, von allen Freunden verlassen, hat sich noch um die Jünger gesorgt. Was schlaft ihr, hat er sie angefahren. Steht auf und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallt!
 
Aber natürlich fallen sie in Anfechtung. Es ist die größte denkbare Anfechtung, wenn der Mensch, mit dem du zusammen gelebt und gearbeitet hast, plötzlich weg ist. Wenn er verhaftet und gefoltert wird. Wenn er leiden muss und stirbt. Auch wenn er es tausendmal vorhergesagt hat. Wenn er seinen Nachlass geregelt hat und seine Anordnungen getroffen für die Zeit danach. Du wolltest es nicht wahrhaben. Und jetzt, wo er dich verlassen hat, musst du zusehen, wie du dich rettest. 
 
Petrus hat Angst vor den Soldaten, die Jesus festgenommen haben. Er möchte sich retten. Aber er will auch in der Nähe von Jesus bleiben. Muss wissen, was sie mit ihm machen. Würde so gern seinem Versprechen treu bleiben: Herr, mit dir bin ich bereit auch ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Und ist doch Lichtjahre davon entfernt. Wie gut, dass es diesen Petrus gibt. Mit seiner Treue, seinem Mut und seiner Art, übers Ziel hinauszuschießen. Mit diesem verrückten Vertrauen, als er aus dem Boot klettert, um Jesus auf dem Wasser entgegenzugehen. Und dann fast in den Fluten versinkt. Mit seinem Eifer, als er dem Soldaten ein Ohr abschlägt, obwohl das rein gar nichts ändert. 
 
Wir möchten auch in Jesu Nähe bleiben. Deshalb sind wir hier. Hören Gottes Wort. Klagen ihm unser Leid. Singen sein Lob. Deshalb stellt ihr euch als Kirchenvorstandskandidaten zur Wahl. Wir kommen als Jesu Gemeinde zusammen. Wir möchten seinem Wort vertrauen und seinen Frieden weitertragen. Wir möchten auch Menschenfischer sein und andere für seine Liebe einnehmen. In unseren Räumen sollen Rastlose geborgen sein, Einsame Anschluss finden und Suchende einen Sinn finden. In Jesu Namen. Aber nicht selten verfehlen wir unsere Ziele, überschätzen uns selbst oder trauen uns zuwenig zu. Wir verschlafen den entscheidenden Moment oder liegen nächtelang voller Angst wach. Es sind verwirrende Zeiten. Wie können wir unsere Kircheglaubwürdig und die Gemeinde lebendig erhalten? Wie können wir zum Frieden beitragen angesichts der grausamen Kriege in der Ukraine und in Nahost? Was ist unser Beitrag zum Schutz von Wasser und Luft für alle Lebewesen auf dieser Erde? Oft wollen wir das Gute und tun doch das Falsche. Oft bin ich so mit mir selbst beschäftigt, dass ich das Leid des Menschen neben mir nicht sehe. 
 
Petrus folgt Jesus von ferne. Das ist besser als nichts. Das ist im Zweifel entscheidend. Dass er sich nicht ganz außer Sichtweite von Jesus begibt. Er hat Angst. Ist schrecklich allein. Ihm ist kalt. Im Innenhof des Hauses, wo Jesus gefangen gehalten wird, brennt ein Feuer. Ein paar Leute sitzen da zusammen. Petrus setzt sich dazu. Ein Dienstmädchen beobachtet ihn, mustert sein Gesicht im flackernden Licht. Der da war auch mit ihm zusammen. – Frau, sagt Petrus, ich kenne ihn gar nicht! Das Wort einer Frau gilt nicht viel in jenen Tagen. Aber dann sprechen andre ihn an. Einer sofort, einer nach einer Stunde. Du gehörst doch auch zu diesem Jesus. Ganz bestimmt, du kommst doch auch aus Galiläa! Er ist überführt. Einer von diesen Jesus-Leuten. Zwei Männer genügen nach Moses Gesetz als Zeugen vor Gericht. Petrus wehrt sich. Mensch, ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht, wovon du sprichst!
 
Mensch. Die kenn ich nicht mal. So verleugnet zu werden von einem Freund, tut weh. Es ist, rein menschlich betrachtet, unverzeihlich. Eine Freundin, die mich, wenn ich in Not bin, nicht kennt, kann mir gestohlen bleiben. Ich werde alle Brücken abbrechen, wenn ich davon erfahre. Mit einem Freund, der sagt, er gehört nicht zu mir, will ich nichts mehr zu tun haben. 
 
Irgendwo kräht ein Hahn. Genau in dem Moment dreht Jesus sich zu Petrus um. Ihre Blicke treffen sich. Jesus sieht ihn an und jetzt denkt Petrus an das, was er ihm vor wenigen Stunden gesagt hat: Noch bevor heute der Hahn kräht, wirst du dreimal abstreiten, mich zu kennen. Die Nacht ist vorbei. Petrus sieht wieder klar. Sieht, wer er ist. Ein Jünger, der nicht zu seinem Herrn steht. Ein Feigling, kein Anführer. Petrus rennt aus dem Innenhof ins Freie. Er weint bitterlich. 
 
Aus menschlicher Sicht ist hier Ende. Unüberwindlich der Graben zwischen dem Freund, der in Not ist, und dem, der ihn im Stich gelassen hat. Kaum möglich, wieder Vertrauen zu fassen. Aber bei Gott ist es nicht so. Gottes Sohn überwindet den Graben. Er hat das Versagen seiner Jünger vorausgesehen, die Angst, die Feigheit, die Untreue. Trotzdem wendet Jesus den Blick nicht von Petrus ab. Er wendet sich ihm zu. Sieht ihn an. Erinnert ihn an ihr Gespräch. Am Ende wird Petrus auch das andere, das Jesus gesagt hat, wieder einfallen. Die Tränen werden die Wahrheit hervorspülen. Das, was Petrus auch ist in den Augen seines Herrn. Wozu Jesus ihn berufen hat. Was er ihm immer noch zutraut, trotz seines Versagens, vielleicht sogar gerade deswegen: Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre. Und wenn du dann umkehrst, so stärke deine Brüder.
 
Jesus beauftragt den Schwachen, die Geschwister zu stärken. Das können wir uns merken. Wir alle, die wir uns in seiner Nähe aufhalten. Oder ihm von ferne folgen. Ob wir uns ausdrücklich in seinen Dienst stellen oder erstmal nur vorsichtig seinen Blick suchen. Jesus betet für uns, dass unser Glaube nicht aufhört. Also dass wir nicht aufhören, unsere Kraft bei ihm zu suchen. Und wenn wir es trotzdem nicht hinkriegen? Manchmal traue ich mich nicht, zu Jesus zu stehen oder gar andere einzuladen. Manchmal geht meinem Glauben die Luft aus, weil Land unter ist bei der Kirche und im Staat. Oder weil ein persönliches Leid michüberflutet. Was dann? Jesus sieht meine Tränen. Die geweinten und die, die mir im Hals stecken bleiben. Er ruft mich zu sich. Zieht mich an Land. Überwindet die Distanz, die ich geschaffen habe. Vergibt mir den Verrat, den ichbereue. Uns allen traut er zu, einander zu stärken. Seine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Amen.

Alle Register! Predigt beim Festgottesdienst zur Einweihung der renovierten und erweiterten Janke-Orgel

Alle Register! Predigt beim Festgottesdienst zur Einweihung der renovierten und erweiterten Janke-Orgel

Sonntag Reminiszere, 25.2.2024 von Charlotte Scheller
zu Kolosser 3,16-17
 
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus! Ich lese noch einmal das Wort aus Kolosser 3. Es soll heute unser Predigttext sein. 
 
16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.
 
In den letzten Wochen war die Kirche auf besondere Art belebt. Autos parkten direkt vor der Tür. Auf der Empore eine Werkstatt mit geheimnisvollen Geräten, Werkzeugen, Tinkturen. Geräusche drangen aus dem Kirchenschiff und in die übrigen Räume. Ein einzelner Ton, endlos gehalten. Klänge, die sich aneinander reiben und schließlich ineinanderfließen. Bässe, von der Schädeldecke bis in die Fußsohlen zu spüren. Zitternde Laute, die die Kehle eng machen und Tränen aufsteigen lassen. Helle Töne, erfrischend wie Quellwasser. Die Klänge verdichten sich, brechen ab, beginnen neu. Eine Tonleiter. Ein Liedvers. Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ! Ein Choralvorspiel. Die Menschen, die hier aus- und eingehen in der Kirche und auf dem Platz, Küster, Kindergartenkinder, Kirchenvorstände, Pausenbrot-Essende und Leute, die zu Stille und Gebet hereinkommen, sie hören es und können sich nicht entziehen. Die Klänge schleichen sich an, gehen unter die Haut, erreichen das Herz, den Bauch oder wo sonst die Trauer sitzt und das Seufzen und die übersprudelnde Freude. Mich hält es nicht am Schreibtisch. Es zieht mich in die Kirche. Ich will zuhören, mitsingen, im Takt durch den Mittelgang schreiten, will tanzen. 
 
Komm runter, sag ich mir dann. Nicht abheben! Lobpreis und so. Eigentlich ist das doch Sache der Engel. Gerade haben wir es ja gesungen: Alles, was dich preisen kann, Cherubim und Seraphinen / stimmen dir ein Loblied an, / alle Engel, die dir dienen, rufen dir stets ohne Ruh: »Heilig, heilig, heilig!« zu. In der Bibel singen und musizieren die himmlischen Wesen. In der Klosterkirche Nikolausberg, im Gewölbe der Vierung, sind vier Engel abgebildet mit Instrumenten, einer spielt Posaune. Mit den Konfirmanden haben wir auf dem Fußboden gelegen, jeder auf einer Matte, und zu den Engeln hochgeschaut. Ein Ausflug ins Paradies, die Dreizehnjährigen waren ganz still. 
 
Aber. Gottes lebendiges Wort ist nicht im Himmel geblieben. Es ist Mensch geworden, der Hymnus am Anfang des Johannesevangeliums singt ein Lied davon. Und der andere im Philipperbrief. Jesus hat auf alle Macht verzichtet. Hat gelitten unter Verrat und Gottesferne. Hat geschrien und gebetet und geschwiegen. Drei Tage Todesstille, bevor grau und zaghaft der Ostermorgen anbrach, bevor die Hoffnung laut wurde: Er ist auferstanden. Lebendig. Bei uns. 
 
Lebendig will sein Wort auch unter uns wohnen. Will hier zu Hause sein. Will dir Halt geben, wenn du in Not bist. Wenn ein Verrat dir den Boden unter den Füßen weggezogen hat oder ein Verlust. Wenn du Trost brauchst. Aus tiefer Not schrei ich zu dir, ach Gott, erhör mein Rufen. Luther gibt den Psalmworten eine Melodie. Die Musik macht, dass ich die Worte singen kann, dass sie mir ins Herz gehen und im Sinn bleiben. Dass sie mir wieder einfallen, wenn ich in Not bin und keine Worte habe zum Beten und keinen Mut zum Weiterleben. Wenn ich nicht weiß, wie ich Gott an seine Barmherzigkeit erinnern soll. Reminiszere! Mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott, steht in dem Brief an die Christen in Kollossae. Das Wort Jesu will reichlich Platz nehmen hier bei uns. Es will durch seine Kirche auch für andere Trost sein und Licht. Für die Kinder, die zum Musikunterricht kommen oder zur Kinderkirche hier in Christophorus. Für die Kinder in Dnipro, wo eine evangelische Gemeinde zum Gottesdienst einlädt, Spielen und Singen im Bunker. Für die jungen Erwachsenen aus der Punk-Band Pink Poison, die in unseren Räumen proben und ihr Unbehagen und ihren Zorn über diese Welt hinausschreien hier zwischen den gedämmten Wänden und auf der Bühne im Kaufpark. Das Wort Christi will bei uns wohnen, wenn wir im Gottesdienst unser Gebet in die Lieder hineinlegen und in die Atempausen zwischen den Versen. Wenn wir uns von der Musik tragen und verbinden lassen. 
 
Wir haben die Gitarren, das E-Piano, unsere Stimmen. Warum die Orgel, warum so groß? Sie gehört zu dieser Kirche. Viele haben zusammengelegt und das Projekt vorangebracht. So konnten wir unsere Janke-Orgel nicht nur wieder instandsetzen, sondern sie so ausbauen, wie sie gedacht war. Als Königin. Mit all den Möglichkeiten und Klangfarben. Rohrflöte, Trompete, Posaune. Vielseitig und gravitätisch. In alter Zeit spielte die Orgel an Königshöfen. Dann zog sie in die Kirchen ein. Die Königin der Instrumente preist den König aller Welten. Es kann gar nicht genug Schall und Klang geben, um Gott zu ehren! 
 
Die Orgel trägt auch unsere Klage vor Gott. Unsere zittrigen Seufzer. Unseren hilflosen Zorn. Den Zweifel, die Verzagtheit, das resignierte Verstummen. Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, mahnt der Briefschreiber, das tut im Namen des Herrn Jesus. Alles. Oft hören wir, auch unser Alltag soll Gottesdienst sein, aber hier steht es umgekehrt: Wir dürfen, nein wir sollen unser Alltägliches in den Gottesdienst mitbringen. All das, was uns umtreibt oder quält, was uns sehnen lässt und hoffen, sollen wir Gott hinhalten, ihm vorhalten im Namen Jesu. Die bitteren Tränen, die unbändige Freude, die klare Erkenntnis, die Ungeduld – bei Gott sind wir richtig mit all den Klangfarben in uns. 
 
In Odessa, das auch gestern wieder von russischen Drohnen getroffen wurde, wurde im letzten Sommer eine ukrainisch-orthodoxe Kirche teilweise zerstört. Die Verklärungs-Kathedrale. Es war die Nacht zu einem Sonntag. Bürgerinnen räumten die Trümmer weg. Fegten die Böden. Hoben umgefallene Statuen auf. Zündeten Kerzen an. Priester feierten vor der Kirche Gottesdienst. Der Zerstörung zum Trotz. Du siehst unsere Not, Gott. Du richtest uns auf. Wir lassen das Paradies nicht aus den Augen. Wir preisen dich!
 
Die Werkstatt auf unserer Empore ist vorerst geschlossen. Die Orgel fertig aufgebaut. Was für ein Geschenk in einer Zeit, in der so vieles abgebaut und weggeräumt werden muss. Die Orgel ist das Organ unserer Gemeinde. Wie die Stimme das Organ von uns Einzelnen. Wir sind verschieden. Alt oder jung, mit Patina oder neu im Chor, mit den andern im vertrauten Zusammenspiel oder solistisch, mit unerwarteten Klangfarben. Mit wenig oder viel Windbedarf. Manche mögen sich zurücknehmen. Andere mehr hervorgehoben werden. Öfter muss nachgestimmt werden. Dass es zusammenklingt, kann nur der Geist Jesu bewirken. „Der Heilige Geist“, haben Sie, Herr Funk gesagt, als Sie die Pfeifen unserer Orgel zusammensetzten, „muss immer dabei sein, sonst wird das alles nichts“. Lassen wir also das Wort Christi reichlich unter uns wohnen. Singen wir vom Frieden, laut und vernehmlich. Und dass er für alle Menschen ist. Singen wir von Gottes Liebe, die wie Unkraut wächst und nicht vergeht. Nein, wie ein Weizenkorn, das in die Erde fällt und stirbt und hundertfach Früchte trägt. Und dann gehn wir los, mit der Musik in uns drinnen, und schauen, wo Gott unsere Stimmen braucht. Amen. 
 
Lied EG 98 Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt

Klare Ansage oder: Gottes Wutrede. Predigt am Fastnachtssonntag, 11.2.2024, in Reimen

Klare Ansage oder: Gottes Wutrede. Predigt am Fastnachtssonntag, 11.2.2024, in Reimen

zu Amos 5,21-24 von Charlotte Scheller
Kinder und Narren sagen, heißt es ja, die Wahrheit.
Ist Amos dann ein Narr? Er redet hier mit großer Klarheit.
Er traut sich was, in Gottes Namen steigt er in die Bütt
und teilt dem satten Gottesvolk, was schief läuft, deutlich mit.
 
„Ich hasse“, lässt Gott sagen, „ich verachte eure Feste!
Mir stinken eure Gottesdienste, auch wenn ihr das Beste
vom Besten auf den Altar legt, Mastkalb und Räucherkerzen.
Ich will‘s nicht riechen, kann‘s nicht ansehn. Es kommt nicht von Herzen!
 
Lass mich in Ruhe“, tobt der Herr, „mit deinen frommen Liedern,
weil Harfen- und Gitarrenklang mich momentan anwidern.
Hör zu! In meinen Himmelsherrscher-Ohren ist das Lärm,
solange dich die Sorgen deiner Mitmenschen nicht scher‘n!“
 
Oha! Das klingt, als sei der Schöpfer nicht in Feier-Stimmung.
Kein Einzug, Umzug, Trallala, nicht geistliche Besinnung,
statt Trostwort echte Büttenrede, wie sie hier zu Land 
in Mittelalter und Neuzeit vom Bürger angewandt. 
 
Denn in der Faschingszeit
gibt es für alle Leut
ein fest verbrieftes Recht
zu sagen: Das läuft schlecht. 
Doch hättet ihr gedacht,
dass das der Herr so macht,
dass Amos übelst laut
göttlichen Zorn raushaut?
 
Wer ist denn dieser Gottesmann, der hier so tapfer predigt?
Muss er nicht fürchten, dass ihn bald des Königs Heer erledigt?
Der älteste von denen in dem Buch der zwölf Propheten, 
versteht er sich aufs Schafezüchten besser als aufs Beten. 
 
Ein Landmann, kein Gelehrter, aus dem Südreich, doch er tut,
was Gott ihm sagt. Er geht ins Nordreich, kündet Gottes Wut.
Der Herr des Himmels geht mit seinen Leuten ins Gericht.
Sie leben selber fein und sehn die Not des Nachbarn nicht. 
 
Ein Kind ist Amos nicht mehr. Sicher hat er sich gefragt,
warum er sich um Gottes Willen hier zum Narren macht. 
Von Segen hat er nichts zu melden. Bloß von Gottes Zorn.
Das Gottesvolk hat Gottes Recht längst aus dem Blick verlorn. 
 
Und doch, ich riech‘ es, liegt auch etwas Segen in der Luft.
Der Schöpfer, der auch mich und dich zu seinen Boten ruft,
hält sich aus dieser Welt nicht raus. Nimmt unbeirrt Partei
für alle Unterdrückten. Gott will die Gefang‘nen frei! 
 
Nicht nur zur Faschingszeit
Gibt es für Gottes Leut
Ein fest verbrieftes Recht
Zu sagen: Das läuft schlecht!
Der Narr tut Wahrheit kund.
Er nimmt kein Blatt vor’n Mund.
Was Recht, was Unrecht ist,
in Gottes Wort man liest. 
 
Die Hofdamen des Königs nennt er „fette Basanskühe“.
Die Oberschicht des Staates lebt feist, ohne Sorg und Mühe. 
Doch der Herr Zebaoth schwört, dass sie bald schon untergehn.
Dass sie auf Kosten andrer feiern, kann Gott nicht mehr sehn. 
 
Der Amos macht sich unbeliebt und aus dem Gotteshaus
in Bethel, wo sie so schön beten, fliegt er sogar raus.
Weil er das Recht des Höchsten predigt, das für alle gilt
auf Brot und Wein und Tisch und Bett, als Gottes Ebenbild. 
 
Recht ist der Anspruch, dass man kriegt, was man zum Leben braucht. 
Gerechtigkeit ist, dass dabei kein andrer ausgesaugt. 
Und Gottes Kinder haben damit immer was zu tun.
Denn wenn wer leidet, können sich die andern nicht ausruhn! 
 
Wir leben ungerecht und wolln doch Gottes Kinder sein.
Wir sind in Schuld verstrickt und angewiesen auf Verzeih’n. 
Vergib uns unsre Schuld. Und hilf uns, dass auch wir vergeben.
Lass uns in Freiheit, im Bewusstsein gleicher Würde leben!
 
Denn es ist an der Zeit,
dass endlich alle Leut
nur erster Klasse fahrn
beim Arzt und in der Bahn.
Dass jede hat die Wahl.
Dass es total egal,
Mann, Frau, Kind, schwarz und weiß,
weil jedes würdig heißt.
 
Das klingt bescheiden. Doch bei Amos ist es sehr gigantisch.
Wie Wasser wälzt das Recht sich, wie ein Strom, der stark heranzischt,
reißt die Gerechtigkeit uns mit. Sie ist Beziehungssache.  
Gott hält am Recht für alle fest, auch wenn ich Fehler mache. 
 
Gott lässt mich nicht in meinem eignen Unrecht untertauchen.
Gott zieht mich raus und hält mich fest und hilft mir weiterlaufen. 
Gott ist mein Fels, mein Hinweisschild auf meiner Lebensreise,
Gerechtigkeit das Wanderlied, es klingt mal laut, mal leise. 
 
Und wenn ich‘s nicht mehr höre? Dann schickt Gott mir ‘nen Propheten
wie Amos, der sagt: Hör mal, Schatz, Gott sagt, wir müssen reden. 
Da stimmt was nicht mit dir und mir, wo ist das Recht geblieben?
Hör mal: Der wahre Gottesdienst ist deinen Nächsten lieben. 
 
Gott will das Recht für alle Menschen. Er schickt einen Strom. 
Macht, dass er fließt. Dass er uns trägt. Wir kriegen Kraft davon.
Uns treibt die Wut. Die Angst. Die Hoffnung, dass uns niemand trennt
von unsres Herrn Gerechtigkeit. Sie ist das Fundament. 
 
Denn es war längst schon Zeit,
dass hunderttausend Leut
sich auf den Straßen finden,
sich gegen Rechts verbinden,
denn niemand soll allein
mit seinen Ängsten sein.
Die Vielfalt macht uns kräftig
und dieser Strom ist mächtig,
das Wasser bricht den Stein,
dringt überall hinein,
Recht wird für alle sein. 

Doch noch Raum. Predigt zu 2. Korinther 4,6-10 am 28.1.2024

von Charlotte Scheller

Doch noch Raum. Predigt zu 2. Korinther 4,6-10 am Letzten Sonntag nach Epiphanias, 28.1.2024

Eine Zelle. Einen Meter achtunddreißig mal zwei Meter vierzig. Die nackte Holzpritsche an der Wand angeschlossen. Je nach Laune des SS-Mannes heruntergeklappt. Oder nicht. Tagsüber darf er sich nicht setzen. Er muss stillstehen mit Blick zur Tür, denn da ist das Guckloch, durch das die Aufseher ihn beobachten. Weit oben ein schmales Fenster, unverglast. Beim Appell hat er zum ersten Mal gepredigt. Im August 1938, morgens gegen halb sieben. Zwei Minuten lang spricht er zu den antretenden Häftlingen, bevor man ihn zum Schweigen bringt. Auch Ostern ruft er aus seiner Zelle. „Kameraden, hört mich. Hier spricht Pfarrer Paul Schneider. Hier wird gefoltert und gemordet. So spricht der Herr: ‚Ich bin die Auferstehung und das Leben!‘“ Weiter kommt er nicht. Massive Stockschläge lassen ihn verstummen. Paul Schneider, genannt der Prediger von Buchenwald, wird am 18. Juli 1939 ermordet.
 
Eine Zelle. Ein unmenschlich enger Raum. Er hätte das Konzentrationslager verlassen können, das Verfahren gegen ihn ist trotz seines unbeugsamen Widerstands gegen das Nazi-Regime längst wegen Geringfügigkeit eingestellt. Dazu hätte er der Ausweisung aus seiner Kirchenprovinz zustimmen müssen. Aber das tut er nicht. Er will seinen Gemeinden treu bleiben. Und seiner Bibel, in der steht: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen, Apg 5,29. Woher nimmt er den Mut, hinauszuschreien, welches Unrecht geschieht, was gibt ihm die Freiheit für dieses, wie es im Protokoll des SS-Aufsehers heißt, „unglaubliche(s) Verhalten“? – In einer anderen Zeit und auf andere Weise bedrängt, schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth, was ihn aufrichtet und stark macht. Ich lese den Predigttext aus der ökumenischen Einheitsübersetzung, 2. Korinther 4,6-10: 
Denn Gott, der sprach: Aus Finsternis soll Licht aufleuchten!, er ist in unseren Herzen aufgeleuchtet, damit aufstrahlt die Erkenntnis des göttlichen Glanzes auf dem Antlitz Christi. Diesen Schatz tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen; so wird deutlich, dass das Übermaß der Kraft von Gott und nicht von uns kommt. Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum; wir wissen weder aus noch ein und verzweifeln dennoch nicht; wir werden gehetzt und sind doch nicht verlassen; wir werden niedergestreckt und doch nicht vernichtet. Immer tragen wir das Todesleiden Jesu an unserem Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird.
 
Keine Zelle. Aber doch Not und Bedrängnis. Paulus ist in die Enge getrieben. Es gibt Streit in der Gemeinde in Korinth. Paulus hat sie gegründet und ist weitergereist. Die Gemeinde ist gewachsen. Andere Prediger sind gekommen. Sie berufen sich auf besondere Offenbarungen. Sie haben Empfehlungsschreiben. Unsere Auslegung hat mehr Glanz, behaupten sie. Mehr Wahrheit. Mehr Herrlichkeit. Paulus, sagen sie, ist ein schwacher Redner und auch sein Auftreten ist schwach. Die wahren Apostel sind wir!
 
Es kommt Paulus zu Ohren, was geredet wird. Er ändert seine Pläne, besucht die Gemeinde in Korinth. Der Streit kocht hoch. Man beleidigt ihn! Bevor es zum vollständigen Bruch kommt, reist Paulus ab. Nichts ist geklärt. Briefe folgen. Tränenreiche Ermahnungen. Sanfte Bitten. Leidenschaftliche Erklärungen. Nicht komplette Briefe sind uns erhalten, bloß Ausschnitte. Das kommt mir bekannt vor. Streit mit den nächsten Menschen. Unter Geschwistern. Im Kollegenkreis. In der Gemeinde. Jeder hat seine Version davon, wie es angefangen hat. Jede liest den Konflikt auf ihre eigene Weise. 
 
Paulus zeigt sein Herz. Er reagiert verletzt und zugleich voller Liebe für die Gemeinde. Er will nicht über seine Person reden, sondern über seine Mission. Die die Briefschnipsel später gefunden haben, haben sie eingesammelt und aufbewahrt. Die Reihenfolge ist nicht mehr zu rekonstruieren. Der Konflikt ist Vergangenheit. Aber was Paulus in seiner bedrängten Lage schreibt, ist zum Merkzettel geworden für bedrängte Christinnen und Christen. Durch die Zeiten hindurch bis heute. Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum. Oder, in der Elberfelder Übersetzung: Keinen Ausweg sehend, aber nicht ohne Ausweg
 
Als ob er heute schreibt, in unsere Zeit hinein. Gestern vor 79 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Mehr als eine Million Menschen wurden dort ermordet aufgrund religiöser oder politischer Überzeugung, ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung. Heute fordern einige im Land die Deportation eines Teils der Bevölkerung. Ihre Zahl wächst. Wie viele in meiner Familie, in meinem Freundeskreis würden deportiert werden, ginge es nach ihnen?
 
Wir sehen keinen Ausweg, sagt Paulus. Wir wissen weder aus noch ein
Ich denke an den Krieg in der Ukraine, die Sirenen, die Kinder in den Schutzräumen, die zerstörten Häuser. An die Männer, Frauen und Kinder, die in Gaza nach einem sicheren Ort suchen. An die Angehörigen der Geiseln, die von der Hamas festgehalten werden, und ihre verzweifelte Wut. An die Familien in unserem Kindergarten. An die Leute im Stadtteil, all die Sprachen, Kulturen, Hintergründe, Talente und Erfahrungen der kleinen und großen Menschen, die hier zu Hause sind – und sich, erschüttert durch die Recherchen über das Treffen in Potsdam, nicht mehr sicher fühlen. 
Und jetzt die Ergebnisse der Studie zur sexualisierten Gewalt in der Kirche. Das Leiden der Betroffenen. Der Schutzbefohlenen! Das Schweigen der Verantwortlichen. 
Ich habe Angst. Wo geht es hin mit uns? Die Lebensräume werden immer enger. Wo ist der Ausgang aus diesem Labyrinth? Dauernd komme ich bloß an meine Grenzen.
 
So ist es, sagt Paulus. Aber. Wir sind nicht ohne Ausweg! Von allen Seiten werden wir in die Enge getrieben und finden doch noch Raum. Paulus benennt die Bedrängnisse. Er gesteht, dass er leidet. Unter denen, die ihm anvertraut wurden. Denen er vertraut hat und deren Verleumdungen ihn jetzt quälen. Wir werden gehetzt, sagt er, und sind doch nicht verlassen. Denn wir tragen einen Schatz in uns. Das Licht des göttlichen Glanzes. Gottes Herrlichkeit leuchtet in uns auf! Wir müssen nicht aus eigener Kraft leuchten. Wir müssen keine großartigen Prediger sein. Keine strahlenden Heldinnen. Keine unsterblichen Künstler. Wir brauchen bloß dieses Licht an uns heranzulassen. Dann entsteht Raum. In der Herberge, so dass das Kind geboren werden kann. Im Land, so dass Tausende auf die Straße gehen und hinausschreien, was Unrecht ist. In der Kirche, so dass Schuld benannt wird und endlich sicher sein kann, wer hier Schutz sucht. 
 
Das Licht von Gott, unseren Schatz, tragen wir in zerbrechlichen Gefäßen. Wir haben ja nichts als uns selbst, um ihn weiterzutragen. Aber genau unsere ängstlichen Herzen und unsere schwachen Körper hat Gott sich ausgesucht, um sein Licht zum Leuchten zu bringen in dieser Welt. Es leuchtet im Angesicht Christi, so drückt Paulus es aus. Also im Gesicht eines Menschen. In ihm zeigt Gott sich verletzlich. In Jesus war Gott selbst auf dieser schönen und kaputten Erde unterwegs, hat vertraut und geliebt, wurde verraten, hat Schmerzen und Krankheit gelitten und ist durch die Todesfinsternis gegangen. Sterblich wie wir, zerbrechlich und niedergedrückt. Wir werden niedergestreckt, sagt Paulus, und doch nicht vernichtet. Wir tragen das Todesleiden Jesu am Leib, damit auch das Leben Jesu an unserem Leib sichtbar wird. Gott hat ihn auferweckt vom Tod. Das ist unser Ausweg. Auf dieses Ziel läuft unser Leben hinaus. Auf die Auferstehung vom Tod, wenn unsere Zeit gekommen ist. Auf das Aufstehen gegen den Tod, solange wir hier sind auf der Erde, gegen Unterdrückung und Missbrauch, gegen Verschweigen und gegen Deportationsphantasien.
 
Auch gegen uns selbst, wenn wir denken, wir müssten Heldinnen sein und allein aus dem Dunkel herausfinden. Denn das müssen wir nicht. Gott hat sein Licht in uns gelegt. Genau in uns mit unseren Einschränkungen und unseren wundervollen Gaben. Gott weiß einen Weg für uns. Drum will ich mein Herz öffnen, wenigstens einen Spaltbreit, und das Licht hereinlassen. Amen.

Alles hat seine Zeit - Predigtdialog zu Silvester 2023

von Johanna Bierwirth und Charlotte Scheller

Prediger 3,1-15 
Ein jegliches hat seine Zeit, / und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: / Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; / pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; / töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; / abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; / weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; / klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; / Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; / herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; / suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; / behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; / zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; / schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; / lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; / Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. 

Man mühe sich ab, wie man will, 
so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und sich gütlich tun in seinem Leben. Denn ein jeder Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.
 
CS: Mit der Zeit ist es seltsam. Sie zerrinnt. Wie Sand, den ich durch meine Hände rieseln lasse. Sie ist unbestechlich wie der Zeiger an der Uhr, der den Tag in Stunden einteilt und die Minuten in Sekunden. Und doch ist die Zeit unberechenbar. Mal geht sie in Sekundenschnelle vorbei. Dann wieder dehnen sich Minuten und Stunden ins Unendliche. Oft sind es die schweren Stunden, die zäh dahinfließen. Und die wunderbaren Momente, die blitzschnell vorübergehen. 
Ich lade Sie ein, mit mir einen Moment innezuhalten. Nehmen wir uns Zeit,zurückzudenken an einen erfüllten Moment im vergangenen Jahr.
 
1 Minute Stille
 
JB: Eine erfüllte Zeit war für mich in diesem Jahr der Urlaub auf Kreta. Ich sehe noch die Weite der Olivenbäume vor mir und ihre silbern-rauen Blätter. Bearbeitet fühlt sich das Holz ganz glatt und weich an. Wenn wir durch die Geschäfte in den Gassen schlenderten, hier und da guckten, was es so gab, dann betrachtete ich immer wieder das Olivenholzgeschirr. Irgendwann wusste ich: Einen Kelch aus Olivenholz möchte ich kaufen. Als künftige Pastorin ist es doch gut, einen eigenen Abendmahlskelch zur Hand zu haben. Nach langem Überlegen suchte ich einen aus, bezahlte an der Kasse, und im Hotelzimmer wickelte ich den Kelch vorsichtig in Klamotten ein, damit er auch ja den Flug heil übersteht. Zuhause angekommen packte ich ihn wie einen Schatz aus und stellte ihn auf den Tisch, um ihn mit Olivenöl einzureiben. Da kam es, wie es kommen musste. Der Kelch fiel krachend zu Boden und barst entzwei. Der Stiel war abgebrochen. Der gute Kelch war hinüber. Ich bekam einen Kloß im Hals. Ich stellte ihn zur Seite, wollte den Kelch nicht mehr sehen. Da nahm jemand den Kelch und klebte ihn. Das ist zwar eigentlich kein guter Kelch mehr, er sieht kaputt und dadurch etwas schäbig aus. Vielleicht bricht er beim nächsten Berühren auseinander. Niemals hätte ich einen kaputten Kelch gekauft. Aber je mehr ich mir die Risse ansehe, desto mehr gefallen sie mir. Sind nicht gerade die Risse im Leben das, was irgendwie auch schön ist? Was zu Herzen geht? Was einen mit aller Kraft spüren lässt: Ich bin lebendig! Es ist beides: Ein bisschen Schmerz und ein bisschen Trost. Und das ist in diesem Augenblick schön. Gott hat alles schön gemacht zu seiner Zeit.
 
CS: Schöne Augenblicke, erfüllte Momente in unserer Gemeinde. 
Als die Orgelpfeifen ausgebaut wurden und die Sanierung endlich beginnen konnte. 
Als Kinder und Erwachsene sich am Taufbecken drängten und wir mit St. Petri das Tauffest feierten.Als Tische und Stühle auf dem Kirchplatz standen und wir mit unseren Nachbarn zusammenkamenund Pläne schmiedeten für den Sommer auf dem Platz. Als die Beziehungsnetze zu uns kamen und wir sie durch die Kirche spannten und sie bunt und warm wurde. Die Kinder kriegten Lust, sich darin zu verstecken. Sie entdeckten die Herzen in den Karrees. Als beim Krippenspiel der König bei der Krippe ankam und, weil er kein Deutsch konnte, seinen Satz auf Spanisch sagte. Als die Lieder und Gebete in vielen Sprachen erklangen am Weihnachtstag und wir spürten: Wir sind verbunden in dem Licht, das durch das Kind in die Welt kam. In der unerhörten Hoffnung, die in einer Geburt liegt in so einer gefährlichen Zeit. 
 
Es gab auch schwere Zeiten. Das kleiner werdende Team. Das lange Hin und Her, bis wir genug Leute für den Mittagstisch hatten. Und für das Kirch-Café, ein Herzstück unserer Gemeinde. Die regionalen Kompromisse. Die Menschen, die wir loslassen mussten. Nach einem langen, erfüllten Leben. Oder viel zu früh, herausgerissen aus allem. Ich denke an den Kummer und die Sorgen, von denen ich gehört habe oder gelesen. Die allein getragen wurden oder im Stillen in unser Gebetbuch geschrieben. Dem Vater im Himmel anvertraut oder den Glaubensgeschwistern.
 
JB: Geschwister teilen Freude und Leid. In der Familie oder im Freundeskreis oder der Nachbarschaft teilen wir gute Nachrichten und tragen auch gemeinsam so manche Last. Manchmal mit Worten, manchmal im Trost der Stille und des Schweigens. Gerade da kann Gemeinschaft wachsen. Selbst in den traurigsten Momenten, wie wenn man gemeinsam am Grab steht und sich in gemeinsamer Trauer verbunden weiß. 
In meinem Talar habe ich seit einem Jahr einen kleinen Stein. Er war mal grau und lag hinter dem Gemeindehaus. Ich habe ihn und einige andere Steine eingesammelt, als eine Frau aus der Diakonie starb. Die gesammelten Steine habe ichbemalt. Ich habe darauf geschrieben: Ihr seid das Licht der Welt. Und den Anfangsbuchstaben des Namens der Verstorbenen. Ihr Grab ist viele Kilometer von hier entfernt, ein Besuch des Grabes ist mit Schwierigkeiten verbunden. Aber den kleinen Erinnerungsstein kann man sich hinlegen, wo man möchte. Und an die Freundin denken, die nicht mehr da ist. Nach der Trauerfeier blieb ein Stein übrig. Den habe ich aus dem Körbchen eingesammelt und in die Tasche meines Talars gelegt. Ich habe ihn da nicht rausgenommen, er ist auch in diesem Moment da. Manchmal berühre ich ihn kurz. Seine Oberfläche fühlt sich nach Traurigkeit und Trost an.
 
CS: Sehnsucht nach Trost. In der Ukraine, Dnipro, die weinende Frau in den Trümmern ihrer Wohnung. Die Kinder im Bunker. Andere Kinder, die hierher gekommen sind. Sie zucken zusammen, wenn eine Sirene geht. Trauer und Sehnsucht, ich denke an die Frauen in Jerusalem, die Frieden jetzt fordern, an die Toten nach dem Terroranschlag, an die, die noch immer auf die Befreiung ihrer Angehörigen warten, an die Vielen, die von einem Fluchtpunkt zum andern irren und nirgends sicher sind in Gaza. 
 
Zeit, die sich endlos dehnt. Zeit des ungerechten Leidens. Windhauch um Windhauch, sagt der Prediger am Anfang seines Buches, alles vergeht und verweht. Windhauch ist auch der Name eines der ersten Menschen der Bibel. Abel. Er stirbt unschuldig. Aber Gott holt wieder her, was vergangen ist. Er hat uns die Ewigkeit ins Herz gelegt. Die Ahnung von einem Immer. Die Sehnsucht, dass es gut werden möge, dass es wieder wird, wie Gott es geschaffen hat. 

Pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man könnte meinen, der Prediger rät uns zur Gelassenheit. Am Ende gleicht sich alles aus. Und vielleicht war es auch in meinem Jahr so, dass Schönes und Schweres sich die Waage halten. Aber mit diesem kleinen Satz von der Ewigkeit schickt er unsere Gedanken in eine andere Richtung. Gott hat uns Frieden versprochen. Ich weiß, was ich für Gedanken habe für euch. Es sind Gedanken des Friedens und nicht des Leides. Ichgebe das Ende, auf das ihr wartet. Das trifft meine Sehnsucht. Ich will keinen Ausgleich zwischen Krieg und Frieden. Ich will, dass keine Kinder mehr im Bunker sitzen, dass niemand mehr seinen geliebten Menschen loslassen muss vor der Zeit. Ich will den Frieden jetzt. Und vielleicht ist das die Weisheit des Predigers. Er sagt mir: Du kannst es nicht machen. Was bleibt, ist von Gott. Und Gotthat ein gutes Ende für uns.
 
JB: Dieses Abgeben ist ja gar nicht leicht. Wir Menschen sind schon ein bisschen versessen darauf, unser Leben selbst in der Hand zu haben. Und dann werden schnell die Sprüche geklopft. Nur die Harten komm´ in Garten. Jeder ist seines eignen Glückes Schmied. Nur wer etwas leistet, kann sich etwas leisten. Dabei ist das Augenwischerei. Im Grunde haben wir doch so wenig in der Hand. Wie oft hat man sich bei etwas bemüht und es hat nicht geklappt? Wie oft ist andererseits völlig unerwartet etwas geglückt? Man könnte jetzt sagen: Zufall. Weil man es nicht durchschauen kann, wie einen genau dieses Schicksal nun ereilen konnte. Der Prediger sagt: Du kannst es auch nicht durchschauen. Menschen können nicht erkennen, wie und warum etwas geschieht. Aber es deswegen gleich dem Zufall überlassen? Nein, der Prediger weiß es bei Gott aufgehoben. Er gibt es ab. Das ist schwer. Aber im Gegenzug bekommt man Trost. Denn wenn ich es Gott abgebe, dann kann ich ihm danken, wenn etwas Gutes geschieht. Und ich kann ihm mein Leid klagen, wenn etwas Schlechtes geschieht. Dem Zufall kann ich nicht danken. Ich kann ihn auch nicht anklagen. Mit dem Zufall kann ich nicht reden. Er ist wie ein Achselzucken, alles ist hier egal. Dem Zufall will ich mich nicht anvertrauen. Ich hebe es bei Gott auf, meinem Gegenüber, meinem Beistand und Trost in diesen und jenen Zeiten.
 
CS: Wie gut, dass mein Glück und mein Misslingen bei Gott aufgehoben sind. Wie entlastend, dass wir nichts Bleibendes schaffen müssen! Vielleicht schaffen wir es, den Menschen, die uns kostbar sind, zu sagen, wie lieb wir sie haben. Wenn wir sie schon haben loslassen müssen, können wir es Gott sagen. Denn alle Dinge sind aufgehoben bei Gott. 
Vielleicht schaffen wir es zu schauen, was Friedeist in diesem Moment.
Die junge Frau, die im Bunker nicht stumm bleibt, sondern mit den Kindern spielt und singt und betet. Der Mann, der in der Kirche eine Kerze anzündet und seine Bitte aufschreibt. Gib etwas von deiner Ewigkeit schon jetzt, Gott.
Die Freundin, die ihrer Freundin sagt: Ich sehe, deine Gedanken laufen im Kreis. Es geht dir nicht besser. Ich kann nichts, als an deiner Seite bleiben auf dem dunklen Weg. Ich halte die Hoffnung hochfür dich. 
 
JB: Wie gut, wenn jemand das zu einem sagt. Da kann man sich freuen. Heute Abend wird auf der ganzen Welt gefeiert und sich gefreut. Ein neues Jahr beginnt. Keiner weiß, was im kommenden Jahr passieren wird. Wir können es nur ahnen, können hoffen, es kann aber auch ganz anders kommen. Trotzdem wird gefeiert. Warum eigentlich? Falsche Frage: Warum denn nicht?! Das sagt doch auch der Prediger: Es gibt kein größeres Glück, als sich zu freuen. Essen, trinken, glücklich sein. Das Leben genießen. Feste feiern wie sie fallen. Wozu alle Szenarien im Kopf durchspielen, was nächstes Jahr kommen könnte? Wir können es doch eh nicht durchschauen. Können versuchen und hoffen und es letztlich in Gottes Hand legen. Aber das hat seine Zeit. Heute Abend ist eine andere Zeit. Heute Abend begrüßen wir, auf welche Weise auch immer, das neue Jahr. Das darf schmecken und prickeln und fröhlich geschehen.
 
CS: Im Jetzt leben, das macht auch Gott. Er kommt als Kind zur Welt. In einem Moment der Finsternis. Ein Säugling. Er kennt nichts anderes als den Augenblick. Gestillt werden. Gewickelt. Gewärmt. Geborgen werden. Gott selbst überlässt sich dem Augenblick, teilt unsere Momente, unser Leben, das schwere und schöne, mit uns. Was von uns bleibt, ist das, was Gott geschaffen hat. Was für uns bleibt, ist im Augenblick zu leben. Lassen wir uns von der Vergangenheit mahnen. Und halten die Zukunft im Herzen. Den Frieden, den Gott für uns will. Wir begegnen Gott, wenn wir uns niederbeugen zu einem Kind. Wenn wir eine runzlige Hand halten. Wenn wir Kummer und Freude teilen. Amen.

Die Tür ist offen. Predigt am 2. Advent 2023 von Charlotte Scheller

zu Offenbarung 3,7-13

Die Tür steht offen. Predigt am 2. Advent 2023 von Charlotte Scheller

Offenbarung 3,7-13 (BasisBibel-Übersetzung)
7»Schreib an den Engel der Gemeinde in Philadelphia: ›So spricht der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat. – Was er öffnet, kann niemand wieder schließen. Und was er schließt, kann niemand wieder öffnen. – Er lässt euch sagen: 8Ich kenne deine Taten. Sieh hin, ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann. Du hast zwar nur wenig Kraft. Aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten und hast meinen Namen nicht verleugnet. 9Ich schicke nun einige Leute zu dir, die zur Versammlung des Satans gehören. Sie bezeichnen sich selbst als Juden. Aber das sind sie nicht, vielmehr lügen sie. Ich werde sie dazu bringen, dass sie zu dir kommen und sich vor deinen Füßen niederwerfen. Sie sollen erkennen, dass ich dich geliebt habe.   10Du hast dich an mein Wort gehalten, standhaft zu bleiben. Deshalb halte ich auch in der Stunde zu dir, wenn alles auf die Probe gestellt wird. Sie wird über die ganze Welt hereinbrechen, um die Bewohner der Erde zu prüfen. 11Ich komme bald. Halte an dem fest, was du hast, damit dir niemand den Siegeskranz wegnimmt.
12Wer siegreich ist und standhaft im Glauben, den werde ich zu einer Säule machen im Tempel meines Gottes. Er wird ihn nie mehr verlassen müssen. Ich werde den Namen meines Gottes auf ihn schreiben und den Namen der Stadt meines Gottes. Diese Stadt ist das neue Jerusalem, das von meinem Gott aus dem Himmel herabkommen wird. Auch meinen neuen Namen werde ich auf ihn schreiben.‹ 13Wer ein Ohr dafür hat, soll gut zuhören, was der Geist Gottes den Gemeinden sagt!«
 
Ein Brief. Ein Lebenszeichen, heiß ersehnt. Immer und immer wieder gelesen. In der Familie weitergereicht und den engsten Freunden vorgetragen. Sorgfältig weggelegt. Oft hervorgeholt. Glatt gestrichen mit verschwitzten Händen. Neu entziffert mit müden Augen. An den Kühlschrank geheftet oder in der Handtasche verwahrt. Schon zu wissen, dass er da ist, genügt, um Kraft zu schöpfen. Für den Tag. Für den Weg. Für die paar Schritte durch die Wohnung, wenn mehr nicht geht. Ich komme bald. Ich habe dich geliebt. Ich stehe zu dir, auch wenn alles auf den Prüfstand kommt. Die Tür steht offen und nichts und niemand kann machen, dass sie zufällt. 
 
Ein Sendschreiben aus der Offenbarung des Johannes. Das letzte Buch der Bibel. Es sagt, was ist. Und was kommt. Es sagt, was Gott will und was am Ende sein wird in Gottes neuer Stadt. Jeweils eine Gemeinde wird angeschrieben. Aber alle können mitlesen. Die Schreiben werden herumgereicht. Damals und heute. Wann genau die Sendschreiben der Apokalypse verfasst wurden, ist nicht sicher. Bloß dass sie sich an christliche Gemeinschaften richten, die es schwer haben. In der römischen Provinz Kleinasien. Sie müssen sich behaupten. Gegen staatliche Repressionen einer neuen jüdischen Abspaltung gegenüber. Oder gegen den Trend der Stadtgesellschaft. Ob es nun Kaiser Domitian ist oder einer seiner Nachfolger, jedenfalls verlangen die weltlichen Herrscher Gehorsam. Wie heutige Herrscher auch. Wie die Despoten in unserer Geschichte. Besser, du nimmst das Parteibuch, als dich und deine Nächsten in Gefahr zu bringen. Besser, du gehst mit der Zeit und sprichst die handelsüblichen Lügen nach, als mit deiner Kritik unangenehm aufzufallen. Nicht dass du Nachteile in Kauf nehmen musst. Nicht dass deine Nachbarn dich komisch ansehen oder deine Kinder es schwer haben in der Schule. 
 
Bei den Christ*innen in Philadelphia ist es nicht so. Sie sind in schweren Zeiten treu geblieben. Der Briefschreiber lässt ihnen sagen, ihrem Engel, ihrer Gemeindesekretärin, ihrem Kirchenvorstandsvorsitzenden, ihrer Kindergartenleiterin lässt er sagen: Ihr habt schon gewonnen. Ihr habt einen Orden verdient. Eine Ehrenurkunde, die ihr euch rahmen und an die Wand des Gemeindesaals hängen könnt. Einen Lorbeerkranz für eure Treue und eure Klarheit darüber, was im Sinne Gottes ist und was nicht. Philadelphia, das heißt „geschwisterliche Liebe“. Sie werden wohl der Liebe treu geblieben sein. Zu den Geschwistern in der kleinen Familie der christlichen Gemeinschaft und in der größeren Menschheitsfamilie. Damit sind sie Gott treu geblieben, denn wie sollte man Gott lieben, wenn nicht in den Menschenkindern? – Ich kenne deine Taten, steht in ihrem Brief. Du hast zwar nur wenig Kraft. Aber dennoch hast du an meinem Wort festgehalten und hast meinen Namen nicht verleugnet. Wie gut das tut! Einer sieht, wie ich mich einsetze. Eine kriegt mit, wie sehr ich an meine Grenzen komme, und würdigt dennoch, was ich hinbekommen habe. An Gottes Wort festgehalten genau da, am Ende der Kraft. Gottes Namen nicht verleugnet, obwohl es sich doch anbieten würde. Ich muss an ein Gespräch denken in der Krankenpflegeschule. Wir müssen empathisch sein, sagen die angehenden Pflegekräfte. Freundlich. Sachlich. Ermutigend. Menschlich. Effektiv. Es ist hart. So viel Elend. So wenig Personal. Wir lernen, professionell zu sein. Nur so geht es. Eine Schülerin sagt: Wenn es richtig schwer ist, bete ich im Stillen. Dann trage ich das Schwere nicht allein. Ohne meinen Glauben könnte ich es nicht. 
 
Ein mutiges Bekenntnis. So viel wird gar nicht verlangt in unserem Brief. Da steht: Du hast nur wenig Kraft. Aber was du hast, genügt schon für den Siegeskranz. Dass du nicht sagst, ich kenne Christus nicht. Dass du festhältst an seinem Wort. An der Hoffnung, dass Gott das letzte Wort noch nicht gesprochen hat. 
 
Eine Frau, sehr krank. „Ich wünsche dir“, schreibt ein Kollege ihr, „baldige und vollständige Genesung. Und dass in all dem Schweren dein Glaube nicht aufhört“. Sie legt den Brief weg. Darüber kann sie jetzt wirklich nicht nachdenken. Statt dessen stellt sie eine Karte auf ihren Nachttisch. Eine Christus-Ikone. In den Heiligenschein ein Kreuz eingezeichnet. Ernstes Gesicht. Große Augen. In der Linken ein Buch. Die Rechte zum Segen erhoben. Sie behält das Bild in Sichtweite. Wenn sie sich elend fühlt, führt sie Zwiegespräche. Mit dem Christus, den sie hinter dem Bild ahnt. Du weißt, was ich leide. Alle deine Leiden sind in das Buch geschrieben, das du festhältst. Und dein Versprechen: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Später fällt ihr wieder ein, was der Kollege geschrieben hat. Dass in alldem dein Glaube nicht aufhört. Das hätte passieren können. Das kann jedem passieren. Sogar dem Jünger Petrus. Leiden stellt das Gottvertrauen auf die Probe. Jesus betet für den Freund, dass sein Glaube nicht aufhört, wenn Jesus leidet und stirbt. Wie gut, wenn jemand so für einen betet. Aber eigentlich hatte ich keine Wahl, denkt sie. Mir blieb doch nichts anderes, als festzuhalten an meinem Gott. Nicht an dem Allmächtigen, der mir das Schwere geschickt hat. Oder es jedenfalls nicht verhindert. Ich hielt mich an Christus fest. Du gehst mit mir, sagte ich in Gedanken zu ihm, durch all das Schwere. Selbst wenn ich ganz ans Ende komme, wenn ich gehen muss, gehst du mit. Sogar wenn ich deine Hand loslasse, wenn ich den Glauben verlieren sollte in all dem Schweren, hältst du an mir fest. 
 
Eine Grenzerfahrung. Es gibt Zeiten, da hast du wenig Kraft. Als Einzelne. Als Gemeinde. Selbst wenn die geschwisterliche Liebe, das einander Tragen in deinem Namen steht. Wie bei Philadelphia. Oder bei Christophorus, was Christusträger heißt. Wenn die Kraft klein ist, brauchst du einen Engel. Als Einzelner. Als Gemeinde. Einen Boten von Gott, der sagt: Ich sehe deine Treue. Deine Standhaftigkeit. Deinen Glauben, allen Zweifeln zum Trotz. Ich halte zu dir, auch wenn es noch schlimmer kommt. Wenn euer Zusammenhalt auf die Probe gestellt wird. Wenn die Welt auseinanderbricht, wenn Lügen an der Tagesordnung sind und Hass und Kriege das Leben unzähliger Menschen bedrohen. 
 
Ich sehe deine kleine Kraft. Wie liest sich das in einer Gemeinde in der Ukraine? Wie klingt das für die Mitglieder einer jüdischen Gemeinde in Berlin? Sie nehmen Glaubensgeschwister aus der Ukraine auf, beziehen Betten und räumen Schränke frei. Für Jüdinnen und Juden, geflohen vor Machthabern, deren Landsleute sie oder ihre Eltern einmal aus der Verfolgung in Nazi-Deutschland gerettet haben. Trotz Religionsfreiheit in unserem Land brauchen sie heute polizeilichen Schutz für ihre Gotteshäuser. Wir sind gefragt, zu unserem Glauben zu stehen. Gegen Ausgrenzung aufzustehen in Jesu Namen. Sieh hin, ich habe vor dir eine Tür geöffnet, die niemand wieder schließen kann. Wer den Schlüssel hat, entscheidet. Es kann nötig sein, eine Tür zu schließen. Uns abzugrenzen, die Menschen und Dinge, die uns kostbar sind, zu schützen. Aber die Tür zu Gott kann niemand zuschließen. Sie fällt nicht zu, auch wenn wir nach draußen gegangen sind. Wenn wir schon abgeschlossen haben, weil wir mit unserem Glauben keinen Blumentopf gewinnen könnten. Christus hat die Schlüssel, er ist der Davidssohn. Er hält die Tür offen, wir können jederzeit reinkommen. Es geht nicht um unsere Kraft. Nicht um eindrucksvolle Glaubenstaten. Es geht um Treue. Dass wir dranbleiben an dem, der an uns dranbleibt. In dem Brief steht: Es braucht nicht viel. Deine kleine Kraft reicht. Du hast den Kranz schon gewonnen. Halte nun auch fest an dir. An der Liebe, die in deinem Namen steht. Philadelphia oder Christophorus, wenn es um eine Gemeinde geht. Christin oder Christ, wenn es um uns Einzelne geht. 
 
Falls Sie einen Schlüssel haben zu unserer großen Eingangstür, dann wissen Sie: Sie lässt sich leicht öffnen. Und, je nach Wetterlage, nur schwer schließen. Die Kirchentür geht auf und Menschen kommen zusammen. Freude wird geteilt und manches Leid. Brot wird gebrochen. Geld wird gesammelt. Es wird getanzt und in der Bibel gelesen. Ein einfaches Mittagessen aufgetischt. Kinder erkunden die Kirche und lernen einander respektieren, so verschieden sie leben und glauben. Musik wird geübt. Das Krippenspiel geprobt. Es wird füreinander gebetet und für andere. Es wird geschrieben und telefoniert, geredet und gestritten und geschwiegen. Und immer wieder danach gefragt, was Gott will. Für seine Menschen. Für unsere Welt. Was wir haben, mag bescheiden sein. Aber es ist kostbar. Wir lassen es uns nicht nehmen. In unserer kleinen Kraft steckt eine große Hoffnung: Gott will Neues schaffen und aus dem Himmel zu uns runterkommen lassen. Eine Stadt des Friedens, wie eine Braut geschmückt, glitzernd wie ein Fachwerkstädtchen im Advent, und Gottes Wohnung mittendrin. Und lebendiges Wasser. Erfrischung und Stärkung, soviel du brauchst. Alle haben Zugang und es kostet rein gar nichts. Schlüssel unnötig, die Tür steht sowieso immer offen. 
 
Also brauchen wir gar nichts weiter zu tun. Bloß zuzulassen, dass Gott an uns festhält. Und vielleicht den Brief an den Kühlschrank heften oder in unserem Rucksack mitnehmen. Ich komme, lässt Gott uns sagen in dem Brief, und schreibe meinen Namen auf dich. Der Name ist Immanuel. Mit uns ist Gott. Amen. 

Singen, bis alle wach sind. Predigt am 1. Advent 2023 von Charlotte Scheller

zu Psalm 24

Singen, bis alle wach sind. Predigt zum 1. Advent 2024 von Charlotte Scheller

zu Psalm 24

Es muss ziemlich früh am Morgen sein, jedenfalls ist es noch dunkel. Meine Freundin freut sich schon seit Wochen darauf. Hat ihre Fingerhandschuhe abgeschnitten, damit sie in der Dezemberkälte die Ventile drücken kann. Und eine Thermosflasche mit Tee in die verbeulte Tasche ihres Parkas gestopft. Vorn auf die Trompete hat sie die Noten geklemmt. Ich darf mit, ich folge dem Posaunenchor am ersten Advent, vor Sonnenaufgang, bei seinem Zug durchs dunkle Viertel. Macht hoch die Tür, spielen sie und wir Mitläuferinnen singen. Es kommt der Herr der Herrlichkeit! Das ist echt laut. Der Trompeten- und Posaunenschall wird von den Mauern der mehrstöckigen Häuser zurückgeworfen. Jetzt, wo der Autoverkehr ruht. Lichter gehen an. Fenster gehen auf, manche werden gleich wieder zugeknallt. In anderen lassen sich Gesichter sehen, verschlafen oder hellwach. Hier und da wird eine Kerze angezündet. Es ist ein Fest. Es fühlt sich gut an, schon wach zu sein. Mitzulaufen, die anderen zu wecken, ja auch, sie zu stören in ihrem unchristlichen Schlaf am ersten Advent. 
 
Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen. Denn er hat ihn über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet. Zuerst wird das Grundlegende verkündet. Die Erde gehört Gott. Jedes Fleckchen davon. Jeder Zentimeter Boden. Die ganze Fülle dessen, was da ist, was wir feiern und genießen, was wir gestalten und verwandeln. Auch wir selbst, Erdenbewohnerinnen und -bewohner, gehören Gott. Wir haben sie nicht gemacht. Gott hat unseren Lebensraum gegründet. Über den Wassern. Über dem Chaos hat Gott einen sicheren Ort geschaffen, damit wir nicht untergehen. „Über Strömen gefestigt“, lese ich in einer Übersetzung. Und denke, wie viele sind heute unterwegs auf dieser Erde und sehnen sich nach einem Halt in den Strömen, die sie mitgerissen haben. Ein Bild in einer Zeitung, eine Gruppe von Männern und Jungen in Jabalia im Gazastreifen. Die Wand des Hauses ist aufgerissen, man schaut hinein wie in ein Puppenhaus. Gebannt beobachten die Männer die Suche nach Überlebenden des Luftangriffs. Ein Video meiner Nichte, ein Spaziergang in Dnipro in der Ukraine. Man sieht nur ihre Füße. Sie geht durch raschelndes Laub. Über knirschenden Schnee. Und, tastend, durch die Trümmer eines zerstörten Hauses. Gott hat den Boden über den Strömen gefestigt. Die Sehnsucht, dass Gott kommt, jetzt, und die königliche Ordnung wiederherstellt, ist groß. 
 
Wer darf auf des HERRN Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge und nicht schwört zum Trug: der wird den Segen vom HERRN empfangen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils. Es geht also auf den Berg, wenn du zu Gott willst. Wer kann da hochsteigen, wer darf an diesem heiligen Ort stehen? Die Tür zur Al-Iman-Moschee, dreihundert Meter von unserer Kirche entfernt, ist unscheinbar. Zwischen Wohnhäusern und dem griechischen Restaurant. Von außen denkt man nicht an ein Gotteshaus. Aber kaum bist du durch die Tür geschlüpft, musst du die Schuhe ausziehen und in ein Regal stellen. Gehst auf Socken. Über Teppiche. In einen geschmückten Raum. Auch Mose musste die Schuhe ausziehen, als er Gott nahe kam in der Wüste. Als Gott zu ihm sprach aus dem Dornbusch. Bloß hier ist nicht von Füßen die Rede, sondern von Händen und Herz. Du kannst hochkommen zu Gott, wenn du unschuldige Hände hast. Und ein reines Herz. Wenn du nicht hinterlistig bist und nicht hintenrum Dinge behauptest über andere Menschen, wirst du Segen kriegen von Gott. Und gerecht sein. Nicht von dir aus, sondern von Gott. Der Psalm wird wohl aus einer alten Liturgie sein, ein Ritual an der Tür des Tempels von Jerusalem, so genau weiß das keiner mehr. Ordentlich gekleidet, in angemessener Haltung trittst du in den Palast des Königs der Welt. In Gottes Haus. Wie bei uns früher, als wir Sonntagskleider anhatten zur Kirche und die Strumpfhosen kein Loch haben durften und die Plappermäuler stillstehen mussten. Aber. Es geht um viel mehr als die Ordnung. Es geht um unser Inneres. Nein um den ganzen Menschen. Die Herzenshaltung. Das Fühlen und Handeln, Gott und allen Erdbewohnern gegenüber. 
 
Und wer kommt da überhaupt in Frage? Was sind das für Leute, die auf den Berg steigen, die Gott sehen oder hören wollen, die zum Tempel gehen und beten oder durch eine schwere kupferbeschlagene Tür in die Kirche schlüpfen und eine Kerze anzünden? Was sind das für Menschen, die über Trümmerfelder laufen und ein Sommercamp für ukrainische Kinder veranstalten, Spiel und Sport und Bibel, und im Luftschutzkeller Gottesdienst feiern und Psalmlieder singen? Das ist das Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Antlitz, Gott Jakobs. Die Gemeinschaft derer, die nach Gott fragen, sonntags und an andern Tagen. Die Nachkommen Jakobs, der in Israel umbenannt wurde am Ende einer Nacht, in der er mit Gott und mit sich selbst gekämpft hat. Alle, die was wissen wollen von Gott. Keine geschlossene Gesellschaft. Eine brüchige Gemeinschaft, fehlerhaft, bestürzend schwach. Nicht das vorbildliche Handeln verbindet uns. Bloß die Ausrichtung. Das Schauen. Das uns Ausstrecken nach Gottes Gerechtigkeit. Der Versuch, in all den Strömen die Erde oder wenigstens das eigene Haus einen sicheren, von Gott gegründeten Ort sein zu lassen. Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil!
 
Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehre einziehe! Wörtlich steht da: Erhebt, Tore, eure Häupter, erhebt euch, ihr ewigen Pforten. Die Tore werden wie Menschen angesprochen. Sie müssen selber Platz machen, sie gehen äußerst schwer auf, Menschenhände können sie nicht bewegen. Sie öffnen sich nach oben, nicht zur Seite. Und die ewig verschlossenen Pforten sollen sich erheben. Als ob sie ihm auch entgegengehen. Nicht nur die Menschen, die hineingehen. Nicht nur der König der Ehre, der einzieht. Die Tore selber bewegen sich. Nichts bleibt am Platz. Was ewig verschlossen war, erhebt sich und nimmt sich Raum und bewegt sich zu Gott hin. Eine Hoffnung, ewig klein gehalten. Eine Gabe, der du bis jetzt nicht nachgegeben hast. Zu lieben, vollkommen wehrlos. Zu predigen. Zu musizieren. Zu malen. Zu tanzen zu Gottes Lob und deiner eigenen Freude. Was den Blick auf Jakobs Gott und Heil versperrt hat, was Händen und Herzen unnötig Grenzen gesetzt hat, muss weg. Fenster gehen auf. Kerzen werden angezündet. Türen öffnen sich in Mauern und die hindurchgehen, schauen hoch. 
 
Wer ist der König der Ehre? Es ist der HERR, stark und mächtig, der HERR, mächtig im Streit. Zweimal die Frage. Wer ist dieser Gott? Mit wem bitte hab ich es zu tun, wenn ich mich öffne, wenn ich Kopf und Herz erhebe, wenn ich selbst durch die Tür gehe? Ein Held und ein Starker. Ein guter Hirte. Ein siegreicher Krieger. Er hat das Chaos besiegt. Himmel und Erde geschaffen, einen sicheren Ort über den Fluten. Er hat, so glauben wir als Christinnen, die Todesnacht durchschritten, die Tür der ewigen Finsternis aufgebrochen und den Blick freigemacht auf das Leben. Hier und in Gottes Ewigkeit. 
 
Wer ist der König der Ehre? Keiner, der in Ruhe auf seinem Thron sitzt und von oben auf die Welt runterschaut. Gott hat seinen Sitz auf dem Berg Zion verlassen. Gott wartet nicht, bis wir ankommen mit unschuldigen Händen und reinen Herzen. Gott ist in Bewegung, kommt auf uns zu. Die Tore müssten nach oben aufgehen, weil er so groß ist. Aber er sitzt nicht auf dem hohen Ross. Er zieht auf einem Esel ein. Er kommt in einem Menschenkind zur Welt. Unterwegs geboren, auf einer Reise, die ein irdischer Herrscher befohlen hat. Er wird die Herzen vieler öffnen für Gottes Königreich, für die Gerechtigkeit seines Heils. Er wird die Kinder segnen und die Einfältigen selig preisen und den Sanftmütigen das Erdreich zusprechen und die Friedensstifterinnen Gottes Kinder nennen. Er wird den Fünftausend zu essen geben, die nicht bloß Brot wollen und Fisch, sondern Hunger und Durst auf Gerechtigkeit haben. Und ihnen versprechen, dass sie satt werden in Gottes Königreich. Und dass es schon angefangen hat, genau hier und jetzt. Er wird uns und unsere Erde nicht dem Chaos überlassen. Er kommt uns entgegen. Machen wir ihm also ein Fenster auf oder noch besser alle Türen. Ziehen wir unseren Blick vom Boden ab und gehen aufrecht. Anführerinnen oder Mitläufer. Königliches Gefolge. Die Hände, das Herz ausgestreckt. Singen wir in den dunkelsten Stunden, in den dunkelsten Ecken der Stadt laut vom König der Ehre. Singen wir, bis alle wach sind, von der Freudensonne, die Heil und Leben mit sich bringt und mit aller Not ein Ende macht. Amen. 

Ungeduldig. Predigt am Ewigkeitssonntag 2023

zu 2. Petrus 3,8-13 von Charlotte Scheller

Ungeduldig. Predigt am Ewigkeitssonntag 2023 von Charlotte Scheller

zu 2. Petrus 3,8-13
Ihr dürft aber eines nicht vergessen, meine Lieben: Ein Tag ist für den Herrn wie tausend Jahre, und tausend Jahre sind für ihn wie ein Tag. Der Herr zögert nicht, sein Versprechen zu erfüllen, auch wenn einige das meinen. Vielmehr hat er Geduld mit euch. Denn er will nicht, dass jemand zugrunde geht. Im Gegenteil: Er will, dass alle ihr Leben ändern.
Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb. Dann wird der Himmel in tosendem Lärm vergehen. Die Himmelskörper werden im Feuer verglühn. Und die Erde mit allem, was auf ihr lebt, wird aufhören zu sein.
Wenn alles auf diese Weise vergeht, dann bedeutet das für euer Leben jetzt: Es muss von Heiligkeit geprägt sein und von der Ausübung des Glaubens. Wartet darauf, dass der Tag Gottes kommt. Setzt alles daran, seine Ankunft zu beschleunigen! An diesem Tag wird der Himmel im Feuer vergehen. Und die Himmelskörper werden in der Gluthitze schmelzen. Doch dann erwarten wir einen neuen Himmel und eine neue Erde, wie Gott sie uns versprochen hat. In ihnen wird Gerechtigkeit wohnen. 

Ein Tag wie tausend Jahre. Tausend Jahre wie ein Tag. Alle haben wir unsere Erfahrungen gemacht mit der Zeit im vergangenen Jahr. Sie ist unberechenbar. Es ist kein Verlass auf die Zeit. Mal kriechen die Stunden und jede Minute dehnt sich ins Unendliche. Wenn wir warten müssen. Auf eine OP. Auf eine Diagnose. Auf ein versöhnliches Wort nach einem Streit. Auf das Ende einer Nacht, in der wir kein Auge zugetan haben. Und ja, auch darauf müssen wir manchmal warten, dass der Tod kommt und Erlösung bringt von unerträglichem Leid. Und schließlich warten wir, dass die Trauer nachlässt. Es scheint ewig zu dauern, bis es weniger wehtut, ohne den geliebten Menschen zu sein. Bis wir einen Weg finden in ein neues Leben. 

Dann wieder rennt die Zeit. Sie vergeht im Flug. Kaum haben wir den Koffer für den Urlaub gepackt, ist er auch schon wieder vorbei. Erfüllte Stunden vergehen wie Sekunden. Ein Abend mit Freunden. Ein Konzert. Eine Liebesnacht. Das erste gemeinsame Weihnachtsfest. Und das letzte. Die Zeit der ersten Liebe ist wie im Flug vergangen. Die Zeit, als die Kinder klein waren und sich voll Vertrauen in unsere Arme warfen. Als es noch Schnee gab an Weihnachten und wir noch Schlittschuh fahren konnten auf dem Kiessee. Als der Kalte Krieg zu Ende war. Als wir den Menschen noch hatten, der uns jetzt fehlt. 

Unser Herz springt zwischen dem, was war, und dem, was ist. Zwischen der Zeit, die sich unendlich dehnt, und den Tagen, die zu schnell vergangen sind. Wie soll man weiterleben ohne den einen Menschen? Wie soll man weiterleben in einer Welt, die offensichtlich aus den Fugen geraten ist? Der Krieg in der Ukraine. Die Pandemie. Stürme, Überschwemmungen und Waldbrände. Die jungen Leute, die sich Letzte Generation nennen, weil sich jetzt was ändern muss, damit sie nicht die Letzten sind. Die grausamen Terroranschläge und der heillose Unfriede im Heiligen Land. Der Protestmarsch der Angehörigen der Geiseln der Hamas nach Jerusalem und ihre Rufe: Achschaw, achschaw. Jetzt! Sorgt jetzt für die Freilassung unserer Lieben. Die Bewegung Shalom Achschaw, Frieden jetzt, vor 45 Jahren gegründet und heute weniger Frieden denn je. Angehörige von Opfern auf israelischer und auf palästinensischer Seite, eine Israelin, die sagt: „Mein Bruder und Bassams Tochter wurden getötet – um ihretwillen brauchen wir jetzt Frieden.“ Und: „Uns hält man nicht auf. Keiner kann uns stoppen.“ 

Diese Ungeduld. Stoppt die Uhr. Jetzt muss es anders werden. Jetzt muss Hilfe kommen. Jetzt will ich spüren, dass du da bist, Gott. Dass es eine Gerechtigkeit gibt. Dass du dein Versprechen hältst. Dass dein Reich kommt und dein Wille geschieht und meine Tränen abgewischt werden und meine wunde Seele geheilt. 

Ein Tag ist wie tausend Jahre und tausend Jahre sind wie ein Tag. Schon damals gab es diese Ungeduld. Als dieser Brief verfasst wurde, in dem wir heute lesen. Es gab den Schmerz über den Tod der liebsten Menschen. Und die Angst, dass alles vergeht. Das ungeduldige Warten auf Gott. Es gab und gibt die Spötter, die sich lustig machen über die, die sich was erhoffen von Gott. Die Spötter sagen: Alles ist, wie es war. Tote werden nicht wieder lebendig und euer Gott ist nicht hier. Und der Spott spricht etwas an, damals wie heute. Wie ein Juckreiz, ein Splitter direkt unter der Haut, er macht dir eigentlich gar nichts, aber du kriegst ihn nicht raus und mit der Zeit entzündet er sich und fängt an zu brennen und wehzutun und dich ganz krank zu machen. Wo ist jetzt dein Gott? 

Wenn alles vergeht, meint der Schreiber, dann muss euer Leben jetzt von Heiligkeit geprägt sein. Von der Ausübung des Glaubens. Setzt alles daran, die Ankunft von Gottes Reich zu beschleunigen! Das schreibt er den Wartenden, den Ungeduldigen, den Trauernden zum Trost, aber ich sehe keinen Trost darin. Und ich glaube übrigens auch gar nicht, dass ich da etwas beschleunigen kann oder muss. Das Kommen des Reiches Gottes, das ist Gottes Sache. Ich hänge viel zu sehr an unserer alten Erde. Ich feiere die ersten flüchtigen Schneeflocken im November und das erste Grün im März. Ich gehe die Wege, die ich mit meiner Mutter gegangen bin. Die Waldvögel erinnern mich an sie, die Strohsterne und die Weihnachtslieder auf der Blockflöte. Nein, ich warte nicht, dass die Erde und der Himmel vergehen. Ich warte auf Trost und Ermutigung hier in dieser Welt. Eine Freundin, der ich erzählen kann. Ein Lied, das mich zu Tränen rührt. Ein Gebet, in das meine Klage hineinfließen kann. Eine Runde am Tisch, ungeplant, wir essen und lachen zusammen. 

Aber die Sehnsucht reicht weiter. Über die Zeit hinaus. Auf uns wartet ein neuer Himmel. Eine neue Erde. Kein Leid mehr. Kein Tod. Meine Tränen getrocknet. Alle Tränen getrocknet. Gott hat sie versprochen, diese neue Welt. Die Gerechtigkeit ist da zu Hause. Was schief gelaufen ist, kommt ins Lot. Was unfertig blieb, wird vollendet. Wer Mangel leiden musste an Körper und Seele, wird nun satt und erfüllt. Und die Spötter haben das Nachsehen. 

Wir denken an die Menschen, die wir verloren haben. An das, was wir mit ihnen hatten. Was nun nicht mehr sein kann. Was von uns abgetrennt wurde, was macht, dass wir uns unvollständig fühlen. Vielleicht fühlen wir uns selbst vom Leben abgeschnitten, ohne Hoffnung. Weil uns der eine Mensch fehlt, ohne den wir nicht sein wollten. Weil wir machtlos sind angesichts so viel fremden Leidens. Weil uns mit der Zeit der Glaube abhanden gekommen ist. 

Einige meinen, Gott erfüllt sein Versprechen nicht. Aber Gottes Uhren gehen anders. Tausend Jahre sind bei Gott wie ein Tag. Gott zögert nicht. Er hat seinen Sohn geschickt. Er will nicht, dass eines seiner Menschenkinder verloren geht. Selbst wenn unser Leben zerbrochen ist, unsere Welt aus den Fugen, wenn wir uns selbst verloren haben, Jesus wird uns suchen und finden. Er sammelt uns ein und bringt uns zurück zum Leben. Wir können Gottes Kommen nicht beschleunigen. Wir können nicht machen, dass sein Reich kommt. Aber wir können uns finden lassen von ihm. Uns wieder mitnehmen lassen ins Leben. Wir können zulassen, dass etwas vom Licht des neuen Himmels auf unsere Erde scheint und in unser Leben. Wir können uns der Liebe wieder öffnen. Für den Menschen neben uns. Für die Schöpfung um uns herum. Die ersten Schneeflocken feiern. Das erste Grün im März. Die Geburt eines Kindes. Manchmal, sagt Marie-Luise Kaschnitz in einem Gedicht, stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage / Mit unserem lebendigen Haar / Mit unserer atmenden Haut. / Nur das Gewohnte ist um uns. / Keine Fata Morgana von Palmen / Mit weidenden Löwen / Und sanften Wölfen. / Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken. Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus / Und dennoch leicht / Und dennoch unverwundbar / Geordnet in geheimnisvolle Ordnung / Vorweggenommen in ein Haus aus Licht. 

Gott schenke uns Augenblicke der Auferstehung mitten im Leben. Bis wir einmal in Gottes Ewigkeit ankommen, bleibt Jesus geduldig an unserer Seite. Amen. 

Weiches Herz. Predigt am 22.10.2023 von Charlotte Scheller

zu Markus 10,2-16

1 Jemand stellt dir eine Frage und wartet gespannt, was du antwortest. Es gibt nur Richtig oder Falsch und es hängt viel von deiner Antwort ab. Oder alles. Ein Beziehungsgespräch unter Freunden und hinterher werdet ihr es nicht mehr sein. Ein Bewerbungsgespräch, du hast dich vorbereitet und gibst dein Bestes, aber es war vorher schon klar, wer die Stelle bekommt. Du bist es nicht. Eine Unterrichtsstunde. Die Lehrerin gibt dem Schüler noch eine Chance, obwohl die Note schon in ihrem Buch steht. 
 
Die Männer, die mit Jesus reden wollen, haben ihre Lektion gelernt. Glauben und Leben gehören zusammen. Wenn alle Glaubenden sich an die Gebote halten, dann kommt Gottes Reich. Das ist das Ziel. Nicht unerreichbar. Sie wissen, was Gott geboten hat. Und auch, was zu tun ist, wenn es nicht läuft. Im Zusammenleben zum Beispiel. Sag doch, sprechen sie Jesus an und unterbrechen damit eines seiner Unterrichtsgespräche, ein open-air-teaching, wie er es oft macht, eine Freiluft-Schule, an der jeder und jede teilnehmen kann. Sag mal, darf sich ein Mann von seiner Frau scheiden lassen? Eine Prüfung. Die Antwort ist klar und ebenso, dass die Frage eine Falle ist. Kennst du die Gebote? Hältst du dich daran, wo du es doch mit der Sabbatruhe alles andere als genau nimmst? Die Atmosphäre ist aufgeladen. Jesus weicht nicht aus. Er stellt eine Gegenfrage. Was hat euch Mose vorgeschrieben? 
 
Ein kluger Lehrer. Ein Gesprächspartner, der sein Gegenüber ernst nimmt. Kommt ihr selbst auf die Antwort? – Die Herausforderer beten herunter, was das Gesetz erlaubt. Es lässt die Scheidung zu. Wann konnte ein Mann sich scheiden lassen? Wenn die Frau ihm keine Kinder gebar. Wenn sie ihm untreu war. Ihre Arbeit nicht gut machte. Wenn sie zu laut war oder zu leise. Zu schön oder zu hässlich. Zu klug oder zu dumm. Wenn ein Mann sich trennte, stand der Frau laut Moses Gesetz ein Scheidebrief zu. Zu ihrem Schutz, denn sie hatte sonst keine Rechte. Wie auch heute in manchen Ländern Frauen keine Rechte haben. In Afghanistan. Im Iran. Das Gesetz von Mose gesteht es der Frau zu. Ein Entlassungspapier, das sie freistellt. Für ein eigenes Leben, eine neue Partnerschaft. 
 
Jesus widerspricht. Was in Moses Gesetz steht, ist nicht das, was Gott will. Um eures Herzens Härte willen, sagt er, hat Mose das Gebot geschrieben. Jetzt ist Jesus bei seinem Punkt. Es geht ihm um unsere Herzen. Das Gesetz, der Scheidebrief und die anderen Regeln, an die wir uns halten als rechtschaffene Menschen, all das sind Krücken. Wir stützen uns darauf, weil unsere Herzen kalt und hart geworden sind. Wir tun nicht, was uns die Liebe sagt. Sondern was das Gesetz zulässt. Damit wir nicht ganz zerbrechen an unserer Hartherzigkeit, haben wir die Krücken. Wir halten uns an das, was das Gesetz nicht verbietet.
 
2 Was sagt die Liebe? Sie erzählt vom Anfang. Wie sie es gern tut. Von damals, als die Liebenden sich fanden. Gott und die Menschenkinder. Mensch und Mensch. Nach Gottes Ebenbild geschaffen, einander ebenbürtig, in schöner Verschiedenheit, als Gegenüber, Hilfe, Stütze, Herausforderung. Zur Liebe bestimmt, zur Lust und Freude aneinander und an sich selbst. Mit Haut und Haaren, mit Körper und Seele verbunden, nicht mehr zwei, sondern eins. Füreinander verantwortlich. Jede Beziehung bedeutet Glück. Und ein Versprechen. Eine Freundschaft, auf der Schulbank geschlossen, als Kolleginnen oder als Nachbarn. Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Eine Patenschaft. Eine Lebenspartnerschaft.
 
Die Liebe erzählt auch von Schuld. Ein Paar trennt sich. Eine Freundschaft zerbricht. Geschwister brechen den Kontakt zueinander ab. Kinder vermeiden es, die Eltern zu sehen. Zerbrochene Beziehungen lassen uns wund zurück. Wir haben es nicht hinbekommen. Wir haben unseren Anteil an der Trennung. Wir tragen eine Mitschuld. Und andere sind mitbetroffen. Gemeinsame Freunde leiden unter der Trennung. Kinder hängen an der Beziehung und leiden auf ihre eigene, wehrlose Art. 
 
Jesus geht es um unsere Herzen. Als Stütze ist uns das Gesetz gegeben, weil unser Herz hart ist vor Schmerz oder Angst. Weil wir ein Band um unser Herz gelegt haben wie der eiserne Heinrich im Froschkönig-Märchen. Damit es nicht noch mehr verletzt wird. Damit es nicht ganz auseinanderfließt, wenn wir uns gehen lassen. Wenn wir der Liebe oder der Enttäuschung freien Lauf lassen. Wenn wir uns unsere Schuld eingestehen. Das Versprechen, sagt Jesus, hat auch nach der Trennung noch Gültigkeit. Einander lieben und achten, vertrauen und ehrlich zueinander sein. Das ist nicht aufgehoben durch eine Trennung. Das gilt ein Leben lang. Auch uns selbst gegenüber. Gehen wir härter mit uns selbst ins Gericht beim Scheitern einer Beziehung als mit dem andern? 
 
Der Bruch bleibt, sagt Jesus. Etwas ist für immer zerbrochen, wenn ein Paar sich trennt. Wenn zwei einander freigeben und sich vielleicht auf eine neue Liebe einlassen. Wir tragen Schuld. Auch wenn die Trennung zwingend war. Auch wenn sie zum eigenen Schutz geschah und zum Schutz der Kinder. Mancher Schmerz bleibt, manche Narbe an der Seele. Manche Enttäuschung, manche Angst. Wenn ich mich wieder auf einen Menschen einlasse – kann es gelingen? 
 
3 Es ist Schuld, sagt Jesus. Und sie wird dir vergeben. Das steht nicht im Gesetz. Aber dafür ist Jesus Mensch geworden, genau dafür hat Gott ihn zu uns geschickt. Dass wir der Schuld in die Augen sehen können. Uns ehrlich machen. Dass wir uns die Schuld abnehmen lassen, anstatt sie unter den Teppich zu kehren. Dass wir unseren Herzen erlauben, weich zu sein. Ich weiß, sagt der Vater, ich habe dir Schlimmes angetan. Der Sohn hat nie darüber reden wollen, hat sich nicht verabschieden wollen von seinem Bild vom guten Vater. Die Prügel, hat er immer gedacht, haben mir nichts ausgemacht. Nun öffnet er sein Herz. Lässt den Schmerz zu. Es tut weh. Der Vater gesteht seine Schuld. Was war, ist nicht vergessen. Aber der Sohn vergibt ihm. 
 
Anders das Streitgespräch zwischen den Pharisäern und Jesus. Es ist abgebrochen, ohne zu einem Ende gekommen zu sein. Die scharfen Worte Jesu hallen in mir nach. Ich werde nicht fertig damit. Wie ich mit so vielem nicht fertig werde in diesen Tagen. Mit den Bildern vom Krieg. Den unlösbaren Konflikten im Heiligen Land. Der Schuld, mit der jedes Handeln, jede Entscheidung, jedes Wegsehen verbunden ist. Mit meinem begrenzten Wissen und Verstehen, meiner Angst und meiner vergeblichen Suche nach Worten. 
 
Und jetzt diese Szene mit den Kindern. Ob sie noch am Diskutieren sind oder nicht, wird nicht erzählt. Bloß dass welche kommen, Frauen ganz sicher, die Kinder zu Jesus bringen. Er soll sie berühren mit seiner Gotteskraft. Soll die Kinder segnen und die Frauen gleich mit, die noch weniger Rechte haben als sie. Die Jünger stören sich daran. Hier wird debattiert. Über Gott und die Welt gesprochen. Über Recht und Unrecht und wie das Reich Gottes auf Erden kommt. Und jetzt wird Jesus ungehalten. Er fährt die Jünger an. Lasst doch die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran! Denn für Menschen wie sie ist das Reich Gottes! Er nimmt sie in die Arme. Krummer Rücken. Weiches Herz. Sein Kopf an ihrem. Er legt ihnen die Hände auf, berührt ihre verschwitzten Köpfe und segnet sie. 
 
Für solche wie sie ist das Reich Gottes. Für Kinder. Für Benachteiligte. Für solche, die gebracht werden. Jesus stellt sie in die Mitte. Nicht weil sie unschuldig wären. Das sind sie vielleicht auch, aber das ist nicht der Punkt. Das Empfangen ist der Punkt. Ein Kind streckt die Arme aus. Macht klar, was es will und braucht. Nahrung. Wärme. Berührung. Zusammensein. Dass die Eltern glücklich sind. Es fragt nicht, ob es darf. Ob es verdient, das alles zu bekommen. Es nimmt einfach. So sollen wir es auch machen. Denn bei Gott sind wir immer Kinder. Und manchmal bringt uns all das Diskutieren nicht weiter. Bloß die Arme weit aufmachen bringt uns weiter wie ein Kind, das weiß, ich hab ein Recht auf alles, und Umarmen und Herzen und einander Segnen bringt weiter in Jesu Namen. Amen. 

Beten, dass wir auf Gottes Seite stehen. Predigt am 15.10.2023 

von Charlotte Scheller
 
Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich ist. 
Jakobus 5,13-16
 
Einer meiner ersten Tage in der Berufsschule. Ich geh durch die Klassenzimmertür. Pausen-Gerüche, Gespräche, geöffnete Lunchpakete, halbvolle Kaffeebecher. Achtung, zischt einer. Die Pastorin. Es wird still. Die Schüler lassen sich auf die Plätze fallen. Einer stützt die Ellbogen auf den Tisch. Faltet die Hände. Andere tun es ihm nach. Vater unser im Himmel, murmelt der erste, geheiligt werde dein Name. Unterdrücktes Gekicher. Guten Morgen, sage ich. Ich sage wie ich heiße und was ich hier mache. Die Schüler stellen sich auch vor. Mit dem Fach Religion wissen sie nichts anzufangen. Sie sind hier, um für ihren Beruf zu lernen und ihre Chancen im Leben zu verbessern. Kräftige junge Männer, sie können anpacken und nehmen kein Blatt vor den Mund. Beten wollen sie jedenfalls nicht. Gebete haben in einer Berufsschule nichts zu suchen. Aber mal im Ernst, sagt der, der das Vaterunser gemurmelt hat. Beten Sie denn? Glauben Sie, dass das was hilft?
 
Leidet jemand unter euch, der bete. Nicht einer Schulklasse sagt Jakobus das. Er sagt, wie es in der Gemeinde sein soll. Und bei den Christenmenschen zu Hause. Ist jemand guten Mutes, singe er Psalmen. Und wer krank ist, soll die Kirchenvorsteher rufen. Die sollen über ihm beten und ihm mit Öl ein Kreuz auf die Stirn zeichnen im Namen des Menschensohns Jesus. Die Berührung, zwei Finger auf fieberheißer Stirn, sagt: Gott ist dir nah. Der Duft des Öls, es lässt die Haut weich werden und vielleicht auch die Seele, sagt: Gott will dir Gutes. Glaubst du, das hilft? Ja, sagt Jakobus. Das hilft. Das Gebet des Glaubens richtet den Kranken auf. Und wenn er Sünden getan hat, dann wird ihm vergeben.
 
Moment. Das geht mir jetzt zu schnell. Da geht was durcheinander. Heilung und Sündenvergebung, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Das finden auch die Leute, die dabei sind, als Jesus den Gelähmten gesund macht. Wir hörten davon. Jesus sagt, zu dem, der da vor ihm auf dem Boden liegt und sich überhaupt nicht bewegen kann, sagt er: Deine Sünden sind dir vergeben. Die Umstehenden finden das empörend. Weil die Sünden hier nicht das Thema sind. Weil vielleicht irgendwer irgendwen gesund machen kann unter bestimmten Umständen. Aber Sünden vergeben, das kann nur Gott. Unter allen Umständen. Und ja, dir ist vergeben, das geht noch schwerer als zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh heim. 
 
Die Freunde haben ihren gelähmten Freund zu Jesus gebracht. Um seinen Glauben geht es hier nicht. Bloß um ihren. Sie trauen Jesus zu, dass er heilen kann aus Gottes Kraft. Und zu allererst vergibt Jesus ihrem Freund seine Sünden. Das scheint abwegig. Und liegt doch nahe. Jede Krankheit ist eine Prüfung. Ohne es zu wollen, ganz und gar gegen meine Überzeugung frage ich mich, ob ich Schuld an meiner Krankheit trage. Was ich daraus lernen kann und wie ich mich daraus retten. Mein Glaube ist auf dem Prüfstand. Hört Gott meine Gebete? Warum beendet der Allmächtige das Leiden nicht?
 
Leidet jemand unter euch, der bete. Und wer krank ist, soll die Ältesten zu sich rufen. Andere in der Gemeinde. Eine Freundin, einen Freund, der für mich betet. Die für mich glaubt, dass Gott helfen kann. Egal ob ich gerade glauben kann. Ob ich mir meine Sünden verzeihen kann. Das Gebet der anderen, ihr Glaube wird der Kranken helfen. Gott wird sie aufrichten. 
 
Es fällt mir schwer, sagt ein Mann. Er ist Arzt. Und Christ. Ich weiß, sagt er, ich sollte. Aber ich kann nicht beten. Ich sehe so viel Leid. Meine Augen sind müde vom Hinschauen. Meine Ohren sind taub vom Zuhören. Mein Mund ist verstummt. Mein Herz voller Zorn. Wenn es dich gibt – warum hilfst du nicht, unbegreiflicher Gott? Die Welt leidet. Das Heilige Land. Die Steine in der Wüste schreien. Eltern trauern um ihre Kinder. Frauen, Männer und Kinder sind auf der Flucht. Harren in Kellern aus. Hilfskräfte riskieren ihr Leben. All die Verletzten. All die grausam Getöteten. Wie sollen wir beten, wenn wir keine Worte haben?
 
Lasst die Verbindung nicht abreißen, bittet Jakobus. Zu Gott. Und zueinander. Besser laut rufen, klagen, den Zorn rausschreien, als stumm bleiben. Ihr steht nicht allein da! Wenn es dir gut geht, kannst du singen. Wenn du krank bist und auch, wenn dich die Bilder nachts nicht schlafen lassen und die Sorgen um unsere Welt dich krank machen, ruf die andern, dass sie für dich beten. Und dich mit Öl salben. Dass sie für deine Seele sorgen und für deinen Körper. Selber musst du nichts tun. Ihr Gebet wird dir helfen. Gott wird dich aufrichten durch sie.
 
Gut, dass du da bist, sagt der Mann, der Arzt ist. Er hat einem Freund erzählt. Von seinen tauben Ohren. Den müden Augen. Dem wütenden Herzen. Der Freund hat zwei Tassen geholt und Tee eingegossen. Sie haben geschwiegen. Ihre Hände gewärmt an der Tasse. Die Gedanken gehen lassen, wohin sie wollten. Dann hat der Freund gebetet. Nur ein paar Worte. Gott, sieh, wie es meinem Freund geht. Sieh seine Müdigkeit. Seinen Zorn. Erbarme dich. Hilf du ihm, dann ist ihm geholfen!
 
Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernst gemeint ist, zitiert der Glaubenslehrer Jakobus aus der jüdischen Weisheit. Sprüche 28 Vers 13. Man sieht beinah den Zeigefinger. Glaubst du wirklich, Jakobus, dass das hilft? Gerecht bin ich sowieso nicht. Gott weiß, wie groß einem die eigenen Fehler vor Augen stehen können, wenn man schlaflos im Bett liegt. Wer ist schon gerecht?
 
Gerecht, lese ich, ist in der Sprache der jüdischen Bibel vor allem der Mensch, der Gott vertraut. Der an Gott festhält, auch wenn die Umstände gegen ihn sind. Du bist Sünder, so sagt es ein Konfirmand, aber für Gott bist du trotzdem okay. Wegen Jesus. Er hat sein Leben dafür gegeben. Er hält zu uns bis ans Ende der Welt. Gott wird den, für den ihr betet, aufrichten. Und wenn er Unrecht getan hat, wird ihm vergeben.
 
Also sind es zwei Dinge, um die wir Gott bitten können. Für andere. Und für uns. Dass wir gesund werden an Körper und Seele. Und dass unsere Sünden vergeben werden. Aber wenn meine Bitten nicht erfüllt werden? Wenn die, für die ich gebetet habe, nicht wieder gesund wird? Wenn der, dem ich Gottes Vergebung zugesprochen habe, weiter schwer trägt an seinen Sünden? – Die Freunde des Gelähmten lassen sich nicht abwimmeln. Sie steigen Jesus aufs Dach. Gegen alle Widerstände bringen sie den, der ihnen am Herzen liegt, zu Jesus. Ob sie was sagen, ist nicht klar. Bloß dass sie ihren Freund, um den sie sich sorgen, vor seine Füße legen. So sollen wir auch unsere Sorgen Gott vor die Füße legen. Mit Worten oder ohne. Sieh deine Welt, Gott. Sieh dein Heiliges Land. Sie leiden. Wir leiden. Erbarme dich, sprich dein erlösendes Wort!
 
Ich muss und werde keine Weltmeisterin im Beten sein. Eher sollte ich das Loslassen üben. Einer anderen in der Gemeinde meine Sorgen erzählen. Einem Mitglaubenden meine Sünden anvertrauen. Einem, den Gott mir schickt. Ich glaube, sagt ein Vater zu Jesus. Er hofft, Jesus kann sein Kind heilen. Es ist schwer krank. Ich glaube. Hilf meinem Unglauben! 
 
Beten Sie? Und wenn ja: Was bewirkt das Beten? Oft nicht das, was ich mir sehnlichst wünsche. Mühsam muss ich das lernen, jedesmal von vorn: Krankheit gehört zum Erdenleben und Schuld. Genau wie Freude und Glück. Manchmal könnte ich die Welt umarmen vor Dankbarkeit. Dann wieder rufe ich zu Gott, laut oder leise, und mein Rufen scheint ins Leere zu gehen. Ich sehe nicht, dass Gott hilft. Dass Gottes Gedanken des Friedens für uns Kraft haben und Gott die Welt zu einem guten Ende führt. 
 
„Wir sollten niemals sagen, Gott sei auf unserer Seite. Lieber sollten wir beten, dass wir auf Gottes Seite stehen“. Das hat Abraham Lincoln gesagt. Der sechzehnte Präsident der Vereinigten Staaten. Vor hunderteinundsechzig Jahren, im September 1862, hat er allen Sklaven Amerikas die Freiheit verkündet. Ein langer Weg bis zur Gleichberechtigung. Er ist noch lange nicht zu Ende. Aber der Anfang ist gemacht. Lincolns Entscheidung hat dazu beigetragen. Aus Glauben und demokratischem Denken heraus, sagen seine Bewunderer, hat er sie getroffen. Aus machtpolitischer Berechnung, sagen seine Kritiker. Gott allein kennt seine Gründe. 
 
Gott kennt auch unsere Gründe. Wir wissen, wir sind Sünder, verstrickt in das Unrecht der Welt. Und Gerechte, weil wir uns an Gott festhalten. Gott lässt die Verbindung zu uns nicht abreißen. Der Vater im Himmel liebt jedes seiner Menschenkinder. Wir können vor ihn bringen, was uns das Herz schwer macht. Was uns nachts wach hält und tags unruhig macht. Wir können beten: Herr, erbarme dich. Rette deine aus den Fugen geratene Welt. Sei bei meinen Nächsten. Vergib mir meine Sünden und lenke meine Schritte, dass ich auf deinen Wegen gehe. Amen.

Festgemacht. Ansprache zur Goldenen Konfirmation in Christophorus am 8.10.2023

von Charlotte Scheller
 
Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch. 1. Mose 1,22
 
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden der Jahrgänge 1970, 71, 72 und 73!
Liebe Festgemeinde!
 
Denken wir zurück an unsere Konfirmation. Alle Konfirmierten, nicht nur Sie, die Goldenen. Vielleicht haben Sie mit dem Erinnern schon angefangen, als Sie die Einladung zum Fest im Postkasten fanden. Ich kann mir nur erzählen lassen von der Konfirmandenzeit mit Pastor Koepp oder Pastor Knigge. Oder mit Vikarin Klemm. Auch Pastor Rannenberg hatte 1970 eine Konfirmandengruppe mit 28 Teenagern. Die Siebziger Jahre, große Jahrgänge, aber längst nicht mehr alle Evangelischen ließen sich konfirmieren. Die Kirche wurde offener, hier in Christophorus engagierten sich Pastoren und Gemeinde auch politisch. Neue Lieder. Gitarrenklänge, Wochenendfahrten, Diskussionen statt Auswendiglernen. Vielleicht haben Sie den Unterricht zusätzlich durch Sprüche und Streiche aufgelockert. Sicher hören wir noch davon beim Mittagessen oder beim Kaffee. Haben Sie Ihre Einsegnung mit der Familie gefeiert? Einen Kassettenrekorder bekommen, Silberkettchen, Armbanduhr, eine Reise nach Westberlin oder Venedig? Trugen Sie Anzug, Kleid oder Schlaghosen? Mungo Jerry sang „In the Summertime“. Vielleicht haben Sie Led Zeppelin gehört, „Stairway to Heaven“. Oder „Ring ring“ von ABBA. Waren Sie Team Hitparade mit Dieter Thomas Heck oder haben Sie samstags vor dem Fernseher, wenn Disco kam, „Hallo Ilja!“ gerufen?
 
Vielleicht haben Sie noch ein Gefühl davon, wie es war, als Ihnen Pastor Koepp, Vikarin Klemm oder Pastor Knigge bei der Konfirmation die Hände aufgelegt hat. Wie Sie da knieten in der ungewohnten Kleidung, mit Schildchen unter den Schuhsohlen. Wie Sie am Altar waren mit den andern und nicht wussten, wohin mit den Händen, wohin mit dem Kichern, das damals urplötzlich in einem aufsteigen konnte, und der Anspannung, weil gleich der eigene Name vorgelesen wird vor all den Leuten. Das Herz klopfte einem bis zum Hals. Und dann spürten Sie die Hände auf Ihrem Kopf, das war noch viel ungewohnter, Sie hörten die Worte, leise gemurmelt oder energisch zugesprochen. Die Hände wanderten weiter und Sie waren gesegnet. Die Worte haben Sie wahrscheinlich schnell wieder vergessen. Das andere nicht: Sie waren jetzt eingesegnet.
 
Für die meisten war es nicht das letzte Mal, dass sie gesegnet wurden. Mancher hat kirchlich geheiratet und wurde für die Ehe gesegnet. Viele haben ihre Kinder taufen lassen und manche sind dabei als Eltern gesegnet worden. Der eine oder die andere ist vielleicht im Krankenhaus gesegnet worden. Oder in einem fernen Land, als Sie einer Bettlerin eine Münze hingelegt haben und die Frau, von Jesus und Maria murmelnd, Ihre Hand festhielt und Ihnen mit zwei Fingern ein Kreuz in die Handfläche zeichnete. Begegnungen mit dem Segen Gottes. Er ist nicht auf bestimmte Orte und Anlässe beschränkt. 
 
Wenn Sie heute zurückschauen, gehört dazu auch der Rückblick auf den Segen. Sich zu erinnern: Wo hat Gott mein Leben gesegnet? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um zu überlegen, und alle anderen auch. Wo hat Gott Ihr Leben gesegnet? (…) 
 
Ich denke an den Segen in meinem Leben und bin dankbar. Nichts ist ja selbstverständlich. Essen und Trinken. Das Dach überm Kopf. Die Musik und die Bücher. Die Gesundheit ist nicht selbstverständlich und nicht mein Partner, weder Frieden in unserem Land noch Frieden in meiner Seele. Ich kann mich abmühen, wie ich will. Ich habe es nicht in der Hand. Es muss vom Himmel etwas dazukommen, damit gelingt, was ich anfange. Ich gebe der Dankbarkeit Raum in mir. Dank macht mein Herz weit. Egal, ob ich Worte habe dafür oder nur so ein Gefühl. 
 
Gewohnheitsmäßig seh ich ja eher die Defizite. Was nicht so ist, wie es sein sollte. Wie ich es mir erträumt habe mit Vierzehn, Vierunddreißig, Vierundfünfzig. Was gegen den Glauben spricht, gegen die Hoffnung und die Liebe. Gewohnheitsmäßig fängt mein Gebet eher so an: Lieber Gott, hilf mir! Das darf so sein. Aber auch das Danken darf sein. Hinschauen auf das Gute, das Gott mir getan hat. Die Menschen, die mir Liebe geschenkt haben, Freundlichkeit oder Solidarität. Begegnungen, aus denen sich etwas entwickelt hat, eine gute Nachbarschaft, eine verlässliche Freundschaft, eine tragfähige Partnerschaft. 
 
In der Bibel hat Segen mit Wachsen zu tun. Gott segnet, damit etwas wächst. Zum ersten Mal passiert das in der Schöpfungsgeschichte. Als Gott die Menschen machte. Mann und Frau. „Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,22). Der Segen bringt zum Wachsen, was in uns angelegt ist. 
 
Natürlich gibt es Faktoren, die verhindern, dass etwas wächst in mir oder in meinem Leben. Durststrecken. Finstere Täler, in denen es an Licht und Luft fehlt, an Erde zum Verwurzeln und an Wasser zum Erfrischen von Leib und Seele. Stürme, die ein Pflänzchen ausreißen. Eine Krankheit, die zum Verwelken führt. Vielleicht erinnern Sie sich heute auch an das, was nicht gewachsen ist in Ihrem Leben trotz des Segens. Was das zarte Glaubenspflänzchen aus jungen Jahren am Reifwerden hinderte. Was der Hoffnung den Boden entzog. Was den Kontakt zu Gott abreißen ließ. Mancher leidet unter einer zerbrochenen Beziehung im eigenen Leben oder dem eines Kindes. Manche unter dem Tod des Ehepartners. Andere drückt eine Krankheit und schränkt den Lebensspielraum ein. Viele quält die Frage nach der Gerechtigkeit. Wie kann der Schöpfer des Himmels und der Erde zusehen, wenn so viele seiner Menschenkinder sterben auf der Fluch vor Krieg und Dürre, obdachlos geworden durch Erdbeben, Dürre oder Fluten? Wie kann Gott das grundlose Leid meiner Nachbarin zulassen und was wird mir noch zum Tragen aufgeladen? All das können wir Gott vorhalten. Was uns schwer auf dem Herzen liegt. Ob es in unsere eigene Verantwortung fällt oder als Schicksal über uns und andere gekommen ist. Wir können vor Gott ausbreiten, was wir nicht als Segen erfahren haben in unserem Leben. Auch wenn uns hierfür die Worte fehlen. Auch wenn wir die Hände nicht aus den Taschen kriegen, um sie zum Beten zu falten. Der Gedanke genügt. Ein Gedankensplitter. Sieh her, Gott, so geht es mir. 
 
Segen tut gut. Wenn es eine Last zu tragen gibt. Einen gebeugten Menschen aufzurichten. Wenn ein Herz sich nach Leichtigkeit sehnt. Der Segen nimmt das Schwere nicht weg. Aber er erinnert mich: Gott trägt mit mir. In Jesus hat er als Mensch geliebt und gelacht, sein Brot geteilt mit Frommen und Gottesfernen. Jesus hat gedankt und gefeiert, geweint und geschrien und geklagt. Er hat sich von Gott verlassen gefühlt und sich ihm gegen alle Vernunft wieder anvertraut. Er hat andere berührt mit seinen Händen und mit seinen Worten. Den blinden Mann zum Beispiel bei Jericho, der die Hoffnung längst begraben hatte. Er hat nicht gedacht, dass er noch einmal das Licht zu sehen kriegt, die bunten Blätter, ein lachendes Gesicht. Jesus berührt ihn und sagt etwas zu ihm, irgendetwas, mit einem unwahrscheinlichen Gottvertrauen. Und der Mann sieht wieder, erst verschwommen, dann deutlicher, die Bäume, die Menschen, das Leben, das noch vor ihm liegt. Ein Segen!
 
Als der Pastor, als die Vikarin Ihnen die Hände aufgelegt hat bei Ihrer Konfirmation, haben sie das nicht aus eigener Kraft getan. Sie wurden gesegnet im Vertrauen auf Gottes Liebe. Die Liebe hat uns ins Dasein gerufen und alles, was ist. Sie ist stärker als der Tod. Die Lieder im Gesangbuch und mancher aus der Konfirmandenzeit behaltene Psalmvers erzählen davon. Sie erinnern unser Herz: Gott meint es gut mit dir!
 
An den unwahrscheinlichsten Orten können wir Gottes Segen erfahren, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Konfirmation heißt „Befestigung“. Wenn Sie nachher wieder gesegnet werden, ist das eine Erinnerung. Daran, dass Sie sich immer an Gott festmachen können. Gott lässt Sie nicht los. Der Vater im Himmel will Sie stärken, Ihr Herz festigen, Ihre Schritte sicher machen. Er bleibt bei uns, alle Tage und bis an das Ende der Welt. 

Verkrochen. Schnecken-Predigt von Charlotte Scheller (13.0.2023)

Verkrochen - Schneckenpredigt von Charlotte Scheller (13.9.2023)

Sie haben etwas Geheimnisvolles: Schneckenhäuser. Als Kinder haben wir sie gesammelt und auch heute nehme ich manchmal noch eines mit. Im Wald. Oder am Strand. Das Schneckenhaus fühlt sich leicht an. Die Bewohnerin ist ausgezogen, freiwillig oder gezwungen. Manche Schneckenhäuser sind winzig, andere geräumig. Einige glänzen in schönen Farben. Alle sind verschnörkelt. Gewunden. Unübersichtlich. Wie gern würde ich da mal hineinleuchten! 

Vielleicht kennen Sie das Liedchen: "Schneck, Schneck im Schneckenhaus, strecke deine Hörner raus!" - War das Häuschen bewohnt und kam die Bewohnerin wirklich raus, beobachteten wir fasziniert ihre Art voranzukommen. Langsam, aber zielstrebig, eine Glitzerspur hinterlassend. Oft konnte ich mich nicht beherrschen. Musste einen der Fühler mit meinem Finger antippen. Schon verkroch sie sich wieder. 

Wunderbar, denke ich jetzt. So ein Tiny House. Kein Platz für überflüssige Dinge. Gerade genug, um Schutz zu finden vor Regen und Wind. Und vor Mitgeschöpfen, die dir ungefragt zu nahe treten. Das möchte ich auch manchmal. Mich schnell verkriechen. Im Dunkeln geborgen sein. Geschützt. Für mich allein. Und erst wieder rauskommen, wenn mir danach ist. Wenn der aufdringliche Zeitgenosse seiner Wege geht. Wenn das Wetter besser ist. 

In der Bibel kommt die Schnecke nicht gut weg. In Psalm 58 dient sie als abschreckendes Beispiel. Wie der Schleim einer Schnecke im Sonnenlicht verdunstet, so verdampft das Leben eines Menschen, dem der Schöpfer egal ist. Wie die ganze Schnecke bei Hitze vertrocknet, so müssen die Mächtigen vergehen, die sich nicht um das Unrecht im Land scheren und wegschauen, statt den Leidenden zu helfen. Am Ende bleibt nichts übrig von ihnen. Außer einer Glitzerspur vielleicht. Die führt nirgendwohin.

Im Garten sehen wir sie nicht gern. Nacktschnecken fressen über Nacht den Salat und machen Löcher in die Erdbeeren. Anders die Weinbergschnecken. Sie ernähren sich, genau wie die hübschen kleinen Gartenbänderschnecken, von Flechten, Moos und welken Blättern. Zwanzig Jahre kann eine Weinbergschnecke leben und ihr Tiny House kann auf bis zu fünf Zentimeter Durchmesser anwachsen. Wenn genug Kalk im Boden ist, auf dem die Pflanzen wachsen, die sie frisst. Im Herbst braucht sie besonders viel Kalk. Bald ist Winterruhe. Dann verschließt sie ihr Haus mit einem festen Deckel.

Nicht nur im Hainberg und im Garten sind die Gehäuseschnecken willkommen. Auch in der Kirche. In der mittelalterlichen Sebaldus-Kirche in Nürnberg tragen zwölf bronzene Schnecken mit stabilen Gehäusen den Sarg mit den Gebeinen des Heiligen. Schnell ist er damit nicht. Aber auf dem
richtigen Weg. Die Grabesruhe dauert nicht ewig. Die Weinbergschnecke verkriecht sich in ihrem Gehäuse. Verschließt es mit dem Deckel aus Kalk und ruht, bis Sonne und Frühlingsregen sie wecken. So wird auch Sebaldus aus dem Todesschlaf aufwachen, wenn Gott ihn weckt am Ende der Zeit. Denn er ist Jesus gefolgt. Wie eine Schnecke im Gehäuse lag Jesus in seinem Grab. Aber der Stein, den die Wächter davorgerollt hatten, war weg am Ostermorgen. Ein Engel war da und sagte den Trauernden: Er ist nicht hier. Er ist auferstanden. Er wartet auf euch.

So ist die Schnecke ein Bild für die Hoffnung. Die kleine: Du darfst dir Ruhe gönnen. Langsam machen. Dich verkriechen, wenn dir danach ist, all die Nachrichten ausblenden und ausruhen. Auch im Schneckentempo kommst du ans Ziel. Die große: Auch der letzte große Schlaf dauert nicht ewig. Am Ende kriechen wir aus der Ruhe des Todes heraus ins Leben. Der Stein wird weggerollt. Was mir jetzt noch schwer auf der Seele liegt, ist dann verschwunden. Geschreddert wie welke Blätter. Mit dieser großen Hoffnung kann ich jeden Morgen aus meinem Schneckenhaus kriechen, die Fühler rausstrecken und mich in den Tag wagen. Amen. 

Angefasst. Predigt am 20.8.2023, 11. Sonntag nach Trinitatis, von Charlotte Scheller

zu Lukas 7,36-50 

Gastfreundschaft. Einer lädt Jesus ein, weil er wissen will, wer er ist. Eine kommt uneingeladen, weil sie schon weiß, wer Jesus ist. Einer spricht, was er zu sich sagt, nicht offen aus. Eine kommt von hinten heran, zeigt aber offen ihre Tränen. Einer meint, dass Jesus kein Prophet ist, weil er die Vergangenheit der Frau nicht berücksichtigt, und muss dann feststellen, dass Jesus ihn durchschaut. "Simon, ich habe dir etwas zu sagen!" - "Meister, sag es". Er wahrt die Form, bleibt höflich, versteht aber nicht, mit wem er es zu tun hat. 
Eine möchte Jesus so nahe wie möglich sein, nähert sich ihm körperlich, möchte ihn spüren und berühren, ihm dienen mit allem, was sie hat, aber sie sieht ihren Platz ganz unten. Mit ihren Tränen, die sie nicht an- oder abstellen kann, die sie vielleicht sonst niemanden hat sehen lassen, wäscht sie ihm die Füße. Mit ihrem Haar, dem kostbaren Schmuck, trocknet sie ihn ab. Mit ihren Küssen, die sie den Männern, denen sie sich hingab, verweigert hat, liebkost sie seine Zehen. Mit der teuren Salbe im edlen Gefäß salbt sie ihn. Als ob sie wüsste, dass er ein König ist. Zum Regieren an Gottes Seite ausgewählt. Zum Sterben bereit. 
 
Jesus könnte angewidert sein wie der Pharisäer. Was erlaubt sie sich? Eine Frau. Nicht eingeladen. Von hinten angeschlichen. Offenbar nicht gesellschaftsfähig. Nicht theologisch gebildet. Mit vielen Sünden belastet und die andern wissen davon. Sie. Fasst. Ihn. An. Streng genommen, macht sie Jesus unrein durch die Berührung, streng genommen dürfte er jetzt gar nicht mehr an dem Essen der frommen Gesellschaft teilnehmen.
 
Jesus hat keine Berührungsängste. Er bleibt ganz ruhig. Durchschaut die Prüfungsabsichten des Pharisäers. Bevor er sich der Frau zuwendet - sie hat längst getan, was wirklich nötig ist -, kümmert er sich um den Pharisäer. „Simon“. Er hat einen Namen, einen guten sicher in der Gemeinde. Er kann sich leisten, auftischen zu lassen und Streitgespräche zu führen. Jesus liegt an ihm, er hat ihm etwas zu sagen, noch bevor er der Frau die erlösenden Worte sagt. Simon. Du hast mir dein Haus geöffnet, aber nicht dein Herz. Du tust, als wolltest du mein Schüler sein. Aber eigentlich willst du mich nicht als deinen Herrn. Du hast mich gebeten, mit dir zu essen. Aber wirklich nah sein willst du mir nicht. Den geschwisterlichen Kuss gibst du mir nicht. Kein Wasser für meine Füße. Kein Öl für mein Haupt. Ich bin kein Ehrengast für dich, kein Gesalbter, keiner, den Gott schickt. Du willst mich testen, Simon. Aber mir geht es um dich. Vielleicht hast du nichts, was Gott oder Menschen dir zu vergeben hätten. Du lebst streng nach Gottes Wort. Du glaubst, du brauchst nichts weiter. Vielleicht hast du wirklich alles richtig gemacht. Wie auch immer, Simon. Jetzt hast du die Chance, von dieser Frau zu lernen. Das Entscheidende ist, dem Gesalbten dein Herz zu öffnen. Ihn an dich, nein dich an ihn heranzulassen. Ihn als deinen Bruder zu umarmen und zu küssen. Ihn deinen Schmerz sehen zu lassen und ihm deine Sünden anzuvertrauen. Nur darum geht es, Simon. Wie du zu mir stehst.
 
Die Frau wird nicht beim Namen genannt. Sie ist eine von vielen. Auch was ihre Sünden sind, wird nicht gesagt. Automatisch denkst du an Prostitution. Weil sie so körperlich auftritt. Weil sie teures Öl hat. Weil Jesus sagt, sie hat viel geliebt. Später werden andere Frauen kommen und Öl dabei haben. Sie gehen zum Grab und finden Jesus da nicht. Die Frau ohne Namen bringt ihren Kummer mit. Die Tränen stürzen aus ihr hervor, sobald sie bei Jesus angekommen ist. Sie ist wie ein Kind, das viel erlebt hat, Kummer oder Schuld. Es hat sich zusammengenommen, tapfer, und nicht geweint. Bis es zur Mutter kommt oder zum Vater und die Tränen fließen. Die Mutter nimmt es in die Arme, lässt Tränen und Rotz auf ihre Kleidung, ihre Haut kommen, drückt Küsse in sein Haar. Ich sehe, es ist schlimm. Ich bin hier bei dir. Ich tu alles für dich. Ich werde, wenn es sein muss, auch für dich sterben. 
 
Jesus. Die Frau. Simon. Wo bin ich, wo sind wir in der Geschichte? - Ein bisschen peinlich berührt bin ich schon von dem Verhalten der Frau. Wie sie die Tränen fließen lässt, ununterbrochen, so schildert es Lukas. Ist ihr egal, dass alle es sehen? Meine Tränen, sagt mir eine Frau, weine ich allein. Wenn keiner mich sieht. Ich sitze ihr gegenüber, das Zimmer ist abgedunkelt. Sie hat ihren Mann verloren. Es schmerzt andauernd. Sie hat gelernt, das Schwere zu meistern. Ist immer stark gewesen. Ich verstehe sie. Ich möchte auch nicht, dass man mich weinen sieht, dass andere mit hineingezogen werden in meine Trauer, meine Krankheit, meine Selbstzweifel, meine Schuld. Womöglich habe ich meinen Mitmenschen schon zu viel zugemutet. Bin ihnen zu nahe getreten mit meinem Leid und meiner Liebe. Sie werden denken, irgendwann muss es doch mal gut sein. Auch wenn in mir die Tränen immer weiter fließen, andauernd. Jesus sagt nichts dergleichen zu der Frau. Er sagt zu ihr: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh hin im Frieden! Ihm ist ihr Weinen nicht zu viel. Ihr wirres Verhalten, die körperliche Nähe. Die Tränen. Die Haare. Das Einreiben mit Öl. Wenn Jesus das alles zulassen kann, wenn er sie mit Frieden wieder ins Leben schicken kann, dann wird Gott wohl auch mein Verhalten nicht zu viel. Das, was ich keinen sehen lasse. Meine Tränen. Meine Trauer, die nicht aufhören will, obwohl das Leben doch weitergeht und längst weitergegangen ist. Mein Grübeln, meine Schuld, die an mir nagt, meine Selbstzweifel. Es wird Gott nicht zu viel! Ich darf, ich soll Gott alles vor die Füße werfen, darf mich ihm selbst ganz und gar vor die Füße werfen, darf mit jeder Art der Sorge, jeder Form des Schmerzes, jeder Sorte Schuld zu ihm kommen. Wie Jesus die Frau, so will Gott mich aufrichten. Mich freisprechen von meinen Fehlern, derentwegen andere mich nicht dabei haben wollen. Mich befreien von allem, was macht, dass ich mich fern von Gott fühle. Oder nicht zugehörig zu seiner Gemeinde. Deine Sünden sind dir vergeben, sagt Jesus. Es gibt nichts, was Gott nicht vergeben kann! 
 
Jesus redet auch von Liebe. Der Frau ist viel vergeben worden, sagt er, deshalb kann sie viel lieben. Bloß wem wenig vergeben wurde, der liebt wenig. Gottes Liebe ist Vergebung. Der Frau ist viel Last abgenommen worden und jetzt kann sie viel Liebe geben. Wer diese Entlastung nicht erfahren hat, wer die Tränen nicht zugelassen hat, nicht mal im stillen Kämmerlein, wer sich nicht eingestehen mag, auch ich habe mir etwas zu vergeben, der mag am Ende auch anderen lieblos begegnen. 
 
Mit der Frau ist Jesus schnell klar. Mit Simon muss er streiten. Simon ist es ernst mit Gott. Er möchte alles richtig machen. Er lebt Gerechtigkeit so, wie es im ersten Psalm zu lesen ist: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen! Deren Weg vergeht ja. Wohl dem, der über Gottes Gesetz nachsinnt Tag und Nacht“. Er lebt nach den Geboten. Liest in Gottes Wort. Betet seine Psalmen. Spendet für Bedürftige. Er hat seinen Platz bei Gott sicher, findet er. Und deswegen streitet Jesus mit ihm. Erzählt das unwahrscheinliche Beispiel von den beiden Leuten, die Schulden haben. Einer viel. Einer wenig. Beide bekommen die Schulden erlassen, ganz und gar. Gott vergibt große und kleine Schuld. Jesus lädt Simon ein, auch um Vergebung zu bitten. Gott an sich heranzulassen, an den Menschen Simon, der mit seiner Selbstgerechtigkeit ebenso weit weg ist von Gott wie die Frau mit ihren schweren Verfehlungen. Und ebenso nah dran.
 
Jesus hat keine Berührungsängste. Er sitzt mit den Frommen der Gemeinde am Tisch. Und mit den Ausgegrenzten. Er lässt die Unbeherrschten an sich heran, die Schuldbeladenen und Tränenverschleierten. Er sagt zu dir, wenn du dich ihm anvertraust: Ich sehe, es ist schlimm. Ich bin hier bei dir. Ich tu alles für dich. Ich geh sogar durch den Tod, um dir in allen Tiefen nahe zu sein. Ich möchte das Angebot annehmen. Mich auch an Jesus halten. Die Berührungsängste über Bord werfen. Die Angst vor der Bedürftigkeit des Menschen neben mir, vor seinem Schmerz und seiner Schuld. Die Angst vor der eigenen Bedürftigkeit. Ich muss mich ja nicht vor aller Augen vor Jesus niederwerfen. Es reicht, wenn ich bei ihm meine Rettung suche. Ich kann ihn im Stillen bitten, nimm mir meine Last ab. Schick einen Menschen, der sagt: Hör auf, an dir zu zweifeln. Du bist Gottes Kind, in der Tiefe gehalten und aufgerichtet durch Jesus. Jeder Christenmensch kann das für einen andern tun, in Jesu Namen sagen: Dir ist vergeben. Geh hin im Frieden. Amen. 

Predigt zur Sommerkirche in Christophorus von Johanna Bierwirth- Dein Reich komme! Und was dann?! Lukas 17,20-21

Predigt zur Sommerkirche in Christophorus von Johanna Bierwirth- Dein Reich komme! Und was dann?! Lukas 17,20-21

Das Ende der Welt. Die Apokalypse. Der Weltuntergang. Amargeddon. Was für Bilder haben Sie im Kopf? Bestimmt keine guten. Es gibt genug Katastrophenfilme, die genau ausmalen, wie furchtbar das Ende der Welt ist. Manchmal hat man schon aufgrund der Nachrichtensendungen über Krieg und Katastrophen Weltuntergangsstimmung. Die Bilder dort haben keinen Entertainment-Faktor, die sind wirklich bedrohlich. 

Das Ende der Welt ist echt nichts, was ich gerne erleben möchte. Das macht mir Angst. Aber das Ende dieser Welt ist ja gemeint, wenn wir beten: Dein Reich komme. Will ich das eigentlich echt beten? 

Ja, will ich. Denn hier liegt ein riesiges Missverständnis vor. Und dieses Missverständnis geht schon in der Bibel los. Haben Sie mal die Offenbarung des Johannes gelesen? Es ist das letzte Buch der Bibel und Martin Luther hätte es am liebsten rausgeworfen, denn es ist echt krass. Bitte lesen Sie es Ihren Kindern nicht als Gutenacht-Geschichte vor. Laut diesem Buch geht die Welt ziemlich grausam unter, ein Kampf zwischen Gut und Böse tobt. Gut gewinnt zwar, aber es ist wie bei jedem guten Katastrophenfilm: Bis auf die Hauptfiguren schaffen es die meisten nicht lebend zum Happy End. Seitdem malt sich die Menschheit das Ende der Welt so oder so ähnlich aus. Aber ich glaube, das ist ein großes Missverständnis. Eigentlich ist das Reich Gottes nämlich etwas echt Tolles.

Jeus erzählt davon. Er vergleicht das Reich Gottes mit einem Baum, in dem die Vögel nisten. Es ist wie ein Festmahl, zu dem alle eingeladen sind. Es ist der Ort, wo die getröstet werden, die im Leben Leid erfahren haben. Den Worten Jesu vertraue ich mehr als den Katastrophenverkündern. Im Alten und Neuen Testament wird immer wieder davon erzählt. Vom Königreich Gottes. 

Das Reich Gottes ist ein Ort, nach dem wir uns echt sehnen können. Was hier fahl ist, ist dort bunt. Was hier leer ist, ist dort gefüllt. Was hier Fragment ist, ist dort ganz. 

Aber wann kommt es denn nun, das Reich Gottes? Seit 2000 Jahren beten wir: Dein Reich komme! Jesus wird einmal gefragt: Wann kommt das Reich Gottes? Und Jesus antwortet: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es an äußeren Anzeichen erkennen kann. Man wird auch nicht sagen: Schau her, hier ist es! Oder: Dort ist es! Nein, das Reich Gottes ist schon da. Mitten unter euch. 

Wenn Jesus sich den Menschen liebevoll zugewandt hat, dann waren sie mittendrin im Reich Gottes. Denn Gott ist die Liebe. Jedes Lächeln, jede Umarmung, jedes gute Wort, das wir untereinander teilen, ist ein Stück vom Reich Gottes. Und das ist jetzt schon spürbar. Das ist das Reich Gottes, das schon hier und jetzt mitten unter uns ist.

Jesus sagt aber auch immer wieder: Das Reich Gottes kommt erst noch. Ich mein, schauen wir uns mal um. Hier auf der Erde läuft echt viel schief. Wir Menschen schlagen uns schon immer die Köpfe ein, daran ändert auch die beste Menschenrechtscharta nichts. Wir müssen echt gerettet werden. Wir kriegen das allein nicht hin. Es braucht einen Ort, an dem endlich Gerechtigkeit herrscht. Darauf können wir hoffen. Wir haben es eben gehört: Selig werden die genannt, denen es in dieser Welt schlecht geht, im Reich Gottes wird sich das radikal ändern. Das ist Hoffnung. 

Wir müssen aber nicht dasitzen und Däumchen drehen, dass Gott endlich sein Reich kommen lässt. Jesus hat es mitten unter uns gebracht, damit wir daran mitwirken können. Er predigt eine Liebe Gottes, die wir untereinander weitertragen sollen. Und das ist jetzt nicht nur wohlig-kuschelig gemeint, wie das oft in Predigten klingt. Das meint auch ganz klar: Diese Welt können wir verändern. Im Zeichen der Liebe sind wir aufgefordert unsere Nächsten nicht im Stich zu lassen. Uns für das Gute einzusetzen, auch wenn es heißt, dass sich Dinge ändern müssen. 

Der Pastor Quinton Ceasar hat zum Abschluss des Kirchentages gepredigt: "Jetzt ist die Zeit! Jetzt ist die Zeit uns an die befreiende Liebe von Jesus zu kleben. Nicht an Institutionen, nicht an Worte, an Traditionen, an Macht, an Herkunft, an Heteronormativität. Klebe dich bitte an die Liebe, die befreit. Liebe war noch nie eine Massenbewegung. Aber ich bin Optimist.!

Fußnote: Ich halte diese Predigt von Quinton Ceasar für die wichtigste Predigt der Gegenwart. 

Radikale Liebe. Wo die Liebe ist, da ist das Reich Gottes, schon jetzt. Hier in der jetzigen Welt ist es schwer zu lieben und sich für das Gute einzusetzen. Man wird angepöbelt, als Gutmensch beschimpft, im schlimmsten Fall bringt man sein Leben in Gefahr. Denken Sie an Greta Thunberg: Es fing an mit einem Schild und der Aufforderung, dass die Politik ihr Versprechen zum Klimaschutz einhalten soll. Jetzt fahren Autos umher mit „Fuck-you-Greta“-Stickern. Oder die beiden Lehrer*innen, die öffentlich darüber gesprochen haben, dass an ihrer Schule rechtsextreme Symbole offen gezeigt werden. Sie müssen die Stadt verlassen, die AfD-Umfragewerte steigen. Das alles erinnert mich an Katastrophenfilme und das hat rein gar nichts mit dem Reich Gottes zu tun. 

Jetzt ist die Zeit. Jetzt ist die Zeit, trotz aller Beschwernisse, sich an die Liebe zu kleben. Denn wir wollen das Reich Gottes. Das Reich des Gottes, der die Liebe ist. Amen.

Schon das Wort "Liebe" - Predigt von Charlotte Scheller am 11. Juni 23, 1. Sonntag nach Trinitatis

zu 1. Johannes 4,16b-21

Schon das Wort "Liebe" - Predigt von Charlotte Scheller am 11.6.23, 1. Sonntag nach Trinitatis

zu 1 Joh 4,16b-21
Zu Besuch im Kindergarten. Wir haben gesungen. Ich verabschiede mich und die Kinder verschwinden wieder im Garten. Sie rennen barfuß übers Gelände, kriechen im Gebüsch herum, experimentieren mit Wasser und Sand. Die Erzieherinnen sind da. Leiten die Kinder mit ihren Augen. Lassen sie ihre eigenen Spiele erfinden, ihre eigenen Wege der Verständigung trotz verschiedener Sprachen. Helfen so wenig wie möglich und so viel wie nötig. Die Kinder sind schnell wieder ins Spiel vertieft. Bis auf einen Jungen. Er bleibt nah bei mir, klopft auf meine Gitarre, streichelt meinen Plüschraben, geleitet mich zur Tür. 
 
Der Türöffner ist außerhalb der kindlichen Reichweite. Ich hab die Hände voll, Gitarre, Rabe, Liederzettel. Eine Erzieherin öffnet mir, ich geh raus, der Junge drückt sich blitzschnell an mir vorbei und ist auf dem Platz. Erschrocken dreh ich mich zur Erzieherin um. Wird er schon abgeholt? Will er unbedingt weg? 
 
Die Erzieherin ist jetzt auch durch die Tür geschlüpft. Hab ich dich, sagt sie. Stimme rau. Arme ausgebreitet. Sie fängt den Jungen ein. Er kichert, windet sich, lässt sich dann in ihre Arme fallen. Du, sagt sie und nun ist ihre Stimme weich. Du wolltest weg? 
 
Im ersten Johannesbrief steht:
16bGott ist Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. 17Darin hat die Liebe bei uns ihr Ziel erreicht: Am Tag des Gerichts werden wir voller Zuversicht sein. Denn wie Jesus Christus mit dem Vater verbunden ist, so sind es auch wir in dieser Welt. 18In der Liebe gibt es keine Furcht, sondern die vollkommene Liebe vertreibt die Furcht. Denn die Furcht rechnet mit Strafe. Bei dem, der sich fürchtet, hat die Liebe ihr Ziel noch nicht erreicht. 19Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat. 20Wer behauptet: »Ich liebe Gott!«, aber seinen Bruder und seine Schwester hasst, ist ein Lügner. Denn wer seine Geschwister nicht liebt, die er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. 21Dieses Gebot hat uns Gott gegeben: Wer ihn liebt, soll auch seine Geschwister lieben. 
 
Sehr große Worte, das. Liebe, lieben und geliebt werden, vollkommene Liebe und Gericht. Vielleicht geht es eine Nummer kleiner. Alltäglicher. Achtgeben vielleicht? Der Junge im Kindergarten spürt: Ich bin wichtig. Meine Erzieherin sieht mich. Will mich bei sich haben. Er kichert, als sie ihn einfängt. Er hat nicht wirklich weg gewollt. Hat nur merken wollen, dass sie auf ihn achtgibt. 
 
Ich denke an eine Prüfung. Ich habe Angst durchzufallen. Meine Eltern zu enttäuschen, die mir das Leben geschenkt haben und eine geborgene Kindheit. Die meine Neugier angefacht haben und es mir ermöglicht, weiter zu lernen. Ich greife zum Telefon. Habt ihr mich auch noch lieb, frag ich, wenn ich die Prüfung nicht bestehe? - Du schaffst das schon, versucht die Mutter mich zu beruhigen. Aber dann versteht sie und sagt: Ganz egal, ob du bestehst. Du bleibst immer unsere Tochter. Wir haben dich immer lieb. Die Prüfung spielt keine Rolle. 
 
Ich denke an einen Mann, der sich einer medizinischen Behandlung unterziehen muss. Sie wird ihn schwächen. Vielleicht verändern. Er hat allen Grund, sich zu fürchten. Seit der Diagnose ist er in sich gekehrt. Redet kaum. Bleibt für sich mit seiner Furcht. Von seiner Hoffnung ganz zu schweigen. Denn was, wenn die Hoffnung vergebens ist, wenn er den Kampf verliert? Seine Freundin nimmt seine Hand. Drückt sie zweimal. Stumm. Ihr Zeichen seit der ersten Verliebtheit. Er begreift: Sie ist da. Sie bleibt. Egal, was passiert. 
 
Es gibt Prüfungen, die stellen unser Miteinander auf die Probe. Zwischen Kindern und Eltern. In einer Liebesbeziehung. In einer Gemeinde. Vielleicht kriegen wir es irgendwie hin. Aber die Zärtlichkeit bleibt auf der Strecke. Die Freundschaft kriegt Risse. Die Zusammenarbeit wird mühsam. Das Schwere, das zu tragen ist, braucht alle Kraft. Es kann aber auch sein, dass die Liebe einfach so verschütt geht. Ohne Prüfungen. Die großen Gefühle verebben im Alltag. Die anderen Leute sind nun mal so, wie sie sind. Und ich kann auch nicht aus meiner Haut. Ich bin überfordert. Habe Angst zu versagen. Das mit der Liebe ist eine Nummer zu groß für mich. Was nun?
 
Ich stelle mir vor, ich greife zum Telefon. Tippe eine Nummer ein. Und da, am anderen Ende, ist Gott. Ich komme ohne Umschweife zur Sache. Hör mal, sag ich, ich schaff es nicht. Die Prüfung. Das Mitgehen mit jemandem, dem es schlecht geht. Ich schaff den Alltag nicht, all die kleinen und großen Eigenheiten der Leute um mich herum. Meine eigenen Macken. Ich krieg das nicht hin mit der Liebe. Weiß Gott, schon das Wort „Liebe“ ist mir zu viel. 
 
Ich weiß, sagt Gott am anderen Ende der Leitung. Aber weißt du was? Du brauchst gar nichts zu schaffen. Weil nämlich alles schon getan ist. Ich hab dich zuerst geliebt. Ich lieb dich immer noch. Und übrigens auch alle meine anderen Kinder. – Das ist es ja, knurre ich in mein Telefon. Die anderen. Ich bin nicht gut darin, sie zu lieben. Ich schaff es oft nicht mal, mich selbst zu lieben. – Mach dir darüber keine Gedanken, sagt Gott. Und vor allem fürchte dich nicht. – Du hast gut reden, sag ich. Ich hör, was du sagst. Ich lese, was andere als dein Wort aufgeschrieben haben. Aber ich seh dich nicht. Niemals. 
 
Das stimmt nicht, sagt Gott. Du hast mich gesehen. Ich hab schließlich meinen Sohn geschickt. Jesus. Er hat das Brot mit seinen Freunden geteilt. Und sie haben noch ein paar tausend andere Leute satt gekriegt. Er hat sie gebeten, mit ihm wach zu bleiben in der schlimmsten Nacht. Sie sind eingeschlafen. Haben ihn im Stich gelassen. Haben behauptet, sie kennen ihn nicht. Auch nach Ostern haben ein paar von ihnen ihren Augen nicht getraut. Haben nicht glauben können, dass er lebt. Er hat ihnen trotzdem zugetraut, seine Boten zu werden. Ich bin bei euch, hat er gesagt, jetzt hier und für immer und ewig. Und wenn ihr genug von mir habt, wenn ihr durch die Tür schlüpft und wegrennt, lass ich euch nicht aus den Augen. Ich steh da und warte und hab die Arme weit offen. - Siehst du ihn, fragt Gott durchs Telefon. Siehst du mich?
 
Ich schweige lange, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll. Am andern Ende ist es jetzt still. Ich schau aus dem Fenster. Sehe, wie der Wind die Zweige des alten Ahornbaums bewegt, ganz sanft. Sehe den Jungen aus dem Kindergarten vor mir. Höre die Erzieherin, die sagt: Du. Spüre den Händedruck der Freundin, zweimal. Denke an mich mit all meinen Fehlern. An die Leute in meiner Umgebung, die sind, wie sie sind. Okay, sag ich und muss grinsen. 

Herzensanliegen - Predigt am Sonntag Rogate, 14. Mai 2023, von Jeruscha Ziebart

Jeruscha Ziebart studiert evangelische Theologie in Göttingen. Ihre Predigt hat sie im Rahmen eines Predigtlehre-Hauptseminars mit Dozentin Birgit Mattausch erarbeitet.

Zuerst und vor allem bitte ich euch, im Gebet für alle Menschen einzutreten: Bringt eure Wünsche, Fürbitten und euren Dank für sie vor Gott. Betet auch für die Könige und alle übrigen Machthaber. Denn wir wollen ein ruhiges und stilles Leben führen –in ungehinderter Ausübung unseres Glaubens und in Würde. So ist es recht und gefällt Gott, unserem Retter. 
Aus 1. Timotheus 2
 
Stoßgebet
Letztens saß ich im Zug. Zwanzig Minuten Verspätung und ich wurde immer nervöser. Schaffe ich meinen Anschlusszug noch? Spät abends in Hannover stranden und nicht wegkommen. Darauf hatte ich keine Lust. Mittlerweile waren wir noch ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt und in zwei Minuten fuhr mein Anschlusszug. Ich sprach ein Stoßgebet. „Gott, lass diesen Zug bitte auf mich warten. Ich habe keine Lust jetzt noch eine Stunde in Hannover zu stehen. Es wäre wirklich toll, wenn du mir jetzt helfen könntest!“ Fünf Minuten später saß ich im nächsten Zug. Er hat auf mich gewartet. Gott sei Dank.
 
Gebete
Liebe Gemeinde, vorhin haben wir eine Bibelstelle aus dem 1. Timotheusbrief gehört. Darin ging es ums Gebet. Die Gemeinde, an die sich der Brief richtet, ist mit Irrlehrern konfrontiert. In dieser Situation richtet sich der Briefschreiber an sie und ermahnt zum Gebet. Er sagt: „Das Erste und Wichtigste ist das Gebet für alle Menschen.“
Dabei nennt er vier Begriffe für das Gebet. Die Bitte, das Gebet, die Fürbitte und der Dank. Diese Begriffe zeigen nicht nur, wie vielfältig Gebet ist. Sie werden genannt, damit sich die Gemeinde beim Beten an diesen Begriffen orientieren kann. Sie sollen in vielfältiger Weise alle Menschen ins Gebet miteinschließen. Neben ihren eigenen Anliegen sollen sie besonders die Welt und ihre Mitmenschen mit ihrer Not und ihren Bedürfnissen im Blick haben.
 
Bitte
Der erste Begriff, der fürs Gebet benutzt wird, ist die Bitte. Bitten ist wahrscheinlich die häufigste Form des Gebets, mit der wir alle vertraut sind. Wünsche aussprechen, Bedürfnisse kommunizieren und Herzensanliegen vor Gott bringen. Wir kommen vor ihn und bitten um seine Hilfe, seine Führung und seinen Segen in unserem eigenen Leben. Das zeigt ein tiefes Vertrauen in Gott. Mit jeder Bitte geben wir preis, was wir uns ersehnen. Wir geben zu, was uns im Leben fehlt und was wir brauchen. Und Gott ist der, der uns genau das geben kann. Wir gestehen uns ein, dass wir von Gottes Güte abhängig sind. Wir vertrauen darauf, dass er uns versorgt. Jeder und jede darf sagen, was ihn oder sie gerade beschäftigt. Ich mache das gerne morgens, wenn ich über meinen Tagesablauf nachdenke. Auf dem Weg zur Arbeit spreche ich dann kurz das aus, was so anliegt, und sage so etwas wie: „Lieber Vater, du kennst meinen Tag und du weißt, was heute auf mich zukommt. Ich bitte dich, dass du mich begleitest und führst. Ich bitte dich, dass du mir heute gute Begegnungen schenkst und deine segnende Hand über mich hältst. Amen“. Dieses Gebet hört sich jeden Tag anders an. Wenn ich eine Prüfung habe, bitte ich, dass alles glatt läuft. Wenn ich irgendwo hinfahre, bitte ich um Gottes Schutz auf dem Weg. Wenn nichts Besonderes passiert, kann ich Gott einfach darum bitten, dass er an meiner Seite ist. Ich habe mit der Zeit gelernt, dass es mir gar nicht so sehr darauf ankommt, dass alles, was ich bitte, auch geschieht. Schließlich ist Gott kein Flaschengeist, der mir alle Wünsche erfüllen muss. Wenn ich Gott um etwas bitte, geht es mir vor allem darum, dass er mich hört. Ich weiß, dass er mich sieht und dass ich mich darauf verlassen kann, dass er da ist. Schon das Gebet allein hilft mir, mit der Situation besser klarzukommen.
 
Gebet
Der zweite Begriff ist das Gebet. In der Vorbereitung der Predigt bin ich über diese Formulierung etwas gestolpert. Ich habe mich gefragt, ob das nicht alles Gebet ist, was im Timotheusbrief aufgezählt wird. Dann habe ich nachgedacht. Wann und wie bete ich eigentlich im Alltag? Und mir ist aufgefallen: Die wenigsten meiner Gebete sind wirklich ausformulierte gesprochene Sätze. Bitte, Dank und Fürbitte sind definitiv Gebete, aber Gebet sieht bei mir eben oft auch ganz anders aus. Manchmal sitze ich einfach nur auf einer Parkbank und höre Vögel zwitschern. Ein anderes Mal schenke ich einem Kind ein Lächeln. Auch ein Lachanfall oder ein verzweifeltes Seufzen ist für mich manchmal ein Gebet. Gebete sind nicht nur Worte. Manchmal sind es Gedanken, Gespräche mit anderen Menschen oder Gefühle. Gebet bedeutet: Ich richte meinen Fokus auf Gott, ich spüre und weiß, dass er da ist. Und ich möchte, dass Gott ein Teil meines Alltags ist. Im Neuen Testament wird dieser Begriff oft benutzt, ohne dass genau gesagt wird, was genau gebetet wird. Es geht hier also wirklich darum, mit Gott ins Gespräch zu kommen. Gewissermaßen geht es darum, die Beziehung zu Gott durch Gebet zu vertiefen. Wie mit einem Freund zu quatschen und Gedanken zu teilen.
 
Fürbitten
Dann kommen die Fürbitten. Beten für andere Menschen. Ihre Bedürfnisse, ihre Sorgen und Anliegen bringe ich vor Gott. Ich bitte um seine Fürsorge und Hilfe in ihrem Leben. Ich tue das, weil ich sie liebe und mit ihnen mitfühle. Weil sie Unterstützung brauchen. Und weil sie selbst vielleicht nicht für sich beten können oder nicht wollen. Oder weil sie nicht wissen, wie das geht.
Ich trete für andere vor Gott ein. Und werde so zu einer Vermittlerin.
Fürbitten sind eine kraftvolle Möglichkeit, andere zu segnen und ihnen Hoffnung, Heilung und Trost zu geben.
Als ich noch nicht in Göttingen studiert habe, war ich als Mitarbeiterin in der Jugendarbeit aktiv. Jeden Freitag hatten wir einen kleinen Jugendgottesdienst. Nach dem offiziellen Teil war noch Zeit zum Austausch, Spielen und Quatschen. Ein junges Mädchen kam dann oft zu mir und erzählte mir von ihrer Woche. Am Ende habe ich jedes Mal für sie gebetet. Für die Situation, in der sie gerade war, für die neue Woche, die auf sie zukam, und oft auch für sehr konkrete Dinge. Sie hat sich ein paar Jahre später bei mir gemeldet und mir gesagt, wie gut es ihr getan hat, dass jemand für sie gebetet hat. Sie selbst konnte es in der Zeit nicht. Und auch wenn nicht alles passiert ist, wofür ich gebetet habe. Es war gut, es vor Gott auszusprechen. Aber auch für mich waren diese Momente sehr besonders und kraftvoll. Ich konnte mich ganz auf mein Gegenüber einlassen. Und auch wenn ich nicht wusste, was ich sagen soll, war Gott da. Wir konnten gemeinsam abgeben, was bei Gott gut aufgehoben ist.
Gerade bei den Fürbitten haben wir die Möglichkeit, für alle Menschen zu beten. Nicht nur unsere Freunde und Familien in den Blick zu nehmen, sondern alle Menschen auf der Welt. Dazu gehört auch unsere Regierung und diejenigen, die an Machtpositionen stehen.
Wenn wir für jemanden beten wollen, dann doch für diejenigen, die ganze Länder regieren und leiten. Gerade für die Politiker und Politikerinnen unseres Landes sollen wir beten. Sie treffen tagtäglich Entscheidungen, die das Leben von Millionen Menschen verändern können.
 
Dank
Als letztes fordert der Brief dazu auf, Dank zu sagen. Gott für alles zu danken, was er in unserem Leben tut. Dank an Gott ist gleichzeitig die Anerkennung seiner Güte, seiner Gnade und seiner Treue. Selbst in schwierigen Zeiten finde ich Gründe, für die ich Gott dankbar sein kann. Gott ist bei mir und lässt mich mit meiner Situation nicht allein. Wenn ich Gott danke, richte ich meine Aufmerksamkeit auf das Schöne. Ich sehe darin Gottes Großzügigkeit. Wenn ich danke, erinnere ich mich daran, wie viel Gott mir schenkt. Ab und zu gibt es Tage in meinem Leben, da fällt es mir schwer, etwas zum Danken zu finden. Aber auch dann kann ich mich daran erinnern, dass ich mein Leben allein Gott verdanke und dass er einen Plan für mich und mein Leben hat.

Wozu Gebet?
Bitte, Gebet, Fürbitte und Dank. An diesen vier Begriffen sollen wir uns beim Beten langhangeln. Jetzt bleibt nur noch zu fragen: Wozu das ganze? Warum ist Gebet so wichtig? Auch darauf hat der Text eine klare Antwort.
„Betet für alle Menschen, denn so ist es recht und gefällt Gott unserem Retter.“ Gott liebt es, wenn wir zu ihm kommen und mit ihm reden. Er freut sich, wenn wir dabei auch noch unsere Mitmenschen im Blick haben. Ihm sind alle Menschen wichtig.
„Er will ja, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn nur einer ist Gott und nur einer der Vermittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus. Der hat sich selbst hingegeben als Lösegeld für alle Menschen.“
 
Der letzte, und ich würde sogar behaupten, der wichtigste Grund für das Gebet ist Jesus Christus selbst. Er hat die ganze Menschheit erlöst. Durch seinen Tod und seine Auferstehung sind wir gerettet. Mein Gebet ist ein Zeugnis davon. Es zeigt, dass ich daran glaube und darauf vertraue, dass diese Erlösung nicht nur für mich geschehen ist. Wenn ich etwas richtig Tolles erlebt habe, kann ich es nicht für mich behalten. Ich muss es einfach möglichst vielen Menschen erzählen und wünsche ihnen sehr, dass sie das auch erleben können. So ist es auch mit meinem Glauben. Vielleicht nutze ich meine nächste Zugfahrt weniger dazu, mich über die Deutsche Bahn aufzuregen. Vielleicht bete ich lieber. Nicht nur dafür, dass ich meinen nächsten Zug bekomme. In meinem Gebet möchte ich meine Mitmenschen im Blick haben. Ich möchte nach rechts und links schauen, auf die, die neben mir sitzen und vor mir. Auch ihnen wünsche ich, dass sie Gott erleben und spüren dürfen. Ich bete dafür, dass sie daran glauben können, dass Jesus Christus uns erlöst hat, damit wir gerettet werden. Amen!

klappe halten

Quelle: Charlotte Scheller

klappe halten (zacharias, der engel und ich) von charlotte scheller

wisst ihr eigentlich 
wie schwer das ist
wenn du eher die frau 
die redet bist
wenn du deine ideen 
klar im gespräch siehst
wenn einsam am schreibtisch 
für dich sehr schräg ist
nee is klar jetzt acht tage 
klappe halten
ist für mich wie acht tage 
strom abschalten
gottseidank hab ich 
ein survivalpaket
das aus ner digitalen 
wachstafel besteht 
wie einst zacharias 
der gott nicht traut
dass gott ihm altem priester 
noch zukunft baut
dem engel nicht glaubt 
die sprache verliert
bis elisabeth dann 
ihr kind gebiert
neun monate hat 
er sich eingeigelt
und schließlich 
per wachstafelschrift besiegelt
was seine frau längst 
bekannt gemacht
ihr kind heißt johannes 
hat gott gesagt
was jammer ich bloß was 
sind schon acht tage 
gegen ganze neun monate 
stummsein ich frage
mich was wohl jetzt
in mir drin entsteht
wo jetzt mal acht tage 
mein mundwerk stillsteht
wo ich ganz allein 
auf dem sofa rumhäng
die worte bloß schweigend 
in mir um und umwend
gib geduld schick mir auch 
son himmelskurier
zacharias-engel 
hey komm auch zu mir
damit ich das stummsein
auch akzeptier
gut ich akzeptier 
also nix mehr von mir
hier

Kantate - Singt!

Quelle: Charlotte Scheller
Singen! Was für ein Schatz in diesem Gesangbuch steckt. Überhaupt in den Liedern. Jenseits des Vergessens verankern sie in der Jahreszeit, verbinden unsere Herzen, messen alle Tiefen aus, halten, trösten, locken die Freude hervor.

"Gott schickt nach mir" - Fünfminutenpredigt zum Sonntag Kantate, 7. Mai 2023, von Charlotte Scheller

1. Samuel 16,14-23 (Basisbibel)
Der Geist des Herrn hatte Saul verlassen. Von Zeit zu Zeit quälte ihn aber ein böser Geist, der seine Stimmung verfinsterte. Auch der kam vom Herrn.
Da sprachen Sauls Leute zu ihm:
»Du weißt, dass es ein böser Geist ist, durch den Gott deine Stimmung verfinstert. Unser Herr braucht nur etwas zu sagen, deine Knechte stehen bereit. Wenn du es willst, suchen wir einen Mann, der auf der Harfe spielen kann. Wenn dann der böse Geist Gottes über dich kommt, gleitet seine Hand über die Saiten. Und gleich wird es dir besser gehen.« Saul antwortete seinen Leuten: »Also gut! Seht euch um nach einem Harfenspieler und bringt ihn zu mir!«
Da meldete sich einer von den jungen Leuten und sagte: »Ich weiß von einem! Es ist der Sohn Isais aus Betlehem. Der kann Harfe spielen. Er ist mutig und ein guter Soldat. Klug ist er auch und sieht gut aus. Ja, der Herr ist mit ihm!«
Saul ließ Isai durch Boten ausrichten:
»Schick deinen Sohn David zu mir – den, der die Schafe hütet!«
Daraufhin nahm Isai einige Laibe Brot, einen Krug Wein und ein Ziegenböckchen. Damit schickte er seinen Sohn David zu Saul.
So kam David zu Saul und trat in seinen Dienst. Saul liebte ihn und machte ihn zu seinem Waffenträger. Darum ließ er Isai die Botschaft überbringen: »Lass doch David in meinem Dienst bleiben. Denn mir gefällt, wie er seine Aufgaben erfüllt.«
Sooft aber der böse Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe zur Hand und spielte. Da konnte Saul befreit aufatmen und es ging ihm besser. Denn der böse Geist hatte ihn verlassen.

Da kennt einer einen, der einen kennt. David. Ein Niemand. Der letzte in der Geschwisterfolge, der unscheinbarste in der Familie. An ihn hat der Vater ganz sicher nicht gedacht, als Samuel der Gottesmann sich ansagte. Ein neuer König wird gesucht. Hier in Isais Haus. Bestimmt wird es Eliab, der älteste. Der wird immer alles und ist daran gewöhnt. Groß, extrem gutaussehend. Typ Klassensprecher. Mannschaftskapitän. Vaters ganzer Stolz. Samuel wollte sein Salböl über ihm ausschütten, Segen satt, als ob er das auch noch nötig hätte. Aber irgendwas sagte ihm, dieser ist es nicht. Sagen wir, es war Gott. Ein Mensch, meinte Gott, sieht, was vor Augen ist. Der Herr aber sieht das Herz an.  Ihn hier habe ich nicht in Betracht gezogen. 
 
Auch nicht Abinadab, nicht Schima und wie sie alle heißen. Sieben Isai-Söhne liefen vor Samuel auf. Einer schöner und klüger als der nächste. Aber Gott sagte einfach - nichts! Ich stell mir vor, dem stolzen Vater ist der Appetit auf das Festessen vergangen. Denn wer, wenn nicht Vater Isai, sollte in der Lage sein, einen Anführer großzuziehen, einen, der Heldentaten vollbringt für sein Land? - Sind das jetzt alle deine Söhne, fragt Samuel. - Tja, meint Isai. Der jüngste fehlt noch. Der ist draußen, die Schafe hüten. - Schick jemand, der ihn holt! Bevor er nicht da ist, setzen wir uns nicht um den Tisch. 
 
David kommt. Die andern hatten ihn nicht auf dem Schirm, niemand hat ihn auf dem Schirm, nicht mal er selbst. Er will nichts werden. Nirgendwo hinkommen. Nicht mehr sein, als er ist. Er passt auf die Schafe auf. Atmet die klare Luft. Lässt den Gedanken ihren Lauf, bis sie sich zu Liedern formen. Worte und Klänge, dem Rauschen des Windes abgelauscht. Dem Plätschern des Wassers. Der kühlen Finsternis einer Felsschlucht. Dem prallen Grün einer Wiese. Der Beklemmung eines schlechten Traums. Der puren Lust am Leben. Aus allem und jedem wird ein Lied bei ihm. Und, mit dem felsigen Boden unter den Barfüßen und dem gleißenden Himmel über dem Kopf, ist ihm jedes Lied Gebet. Gott ist mein Hirte. Gott sing ich mein Lied, das Leichte und das Schwere, das Lustvolle und das, was mir die Luft abschnürt.
 
Genau diesen David hat Gott ausgesucht und der Gottesmann hat ihn gesalbt. Segen satt für den Unscheinbaren, er wird der Held, er wird seinem Land gut tun. Schwer auszuhalten für die Chronisten der Bibel. Kaum ist klar, der wird es, vergessen sie, was Gott eben noch Samuel zugeflüstert hat. Achte nicht auf das Äußere. Tja. Sie schreiben sich David schön, denn jetzt wird er gebraucht, der König schickt nach ihm, der fast schon abgedankte Saul. Die Phasen, in denen das Dunkel den Herrscher im Griff hat, das Alter, die Verantwortung, der unausweichliche Verfall, die Phasen werden häufiger. Die finstere Stimmung wabert durchs Haus, kriecht wie Sprühnebel unter die Haut, macht das Herz klamm und die Glieder lahm. 
 
Ich kenne da wen, sagt einer der jungen Leute um Saul. Es ist der Sohn Isais aus Betlehem. Der kann Harfe spielen. Er ist mutig und ein guter Soldat. Klug ist er auch und sieht gut aus. 
 
David kommt. Und bringt Segen zu Saul. Nicht weil er klug wäre oder mutig und ein guter Soldat. Bloß weil er Harfe spielen kann. David spielt und die Finsternis weicht. Er singt von Liebe, Leiden, Lust und die Starre löst sich. Der König schöpft Atem und spürt, wie sich Wärme in ihm ausbreitet. Von irgendwo in der Brust bis zu den Fingerspitzen. 
 
Bloß von einem bisschen Saitenspiel. Bloß von ein paar Liedern. Bloß von einem
Menschen, der da ist, wenn du dich im Dunkeln verlierst, der nichts weiter macht als Saiten zupfen und ein, zwei Strophen singen, bloß von seiner unscheinbaren Nähe wird die Seele frei. Der böse Geist kann abhauen und der gute Geist kommt wieder raus. 
 
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Du, Gott, guckst das Herz an. Du kennst mich. Ich brauch nicht schön zu sein. Nicht groß oder klug oder tapfer. Kein Klassensprechertyp. Keine Anführerin. Es reicht, dass ich ich bin. Du hast die volle Liebe über meinem Kopf ausgegossen. Segen satt. Etwas ist an mir, das wird wem anders gut tun. Wenn es an der Zeit ist. Mein Lied. Mein Schweigen. Meine mühsam zusammengesuchten Worte. Gott schickt nach mir, wenn ich gebraucht werde. Amen. 

Nächtliche Begegnung. Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 16.4.2023

von Charlotte Scheller

Genesis 32,23-32 
23Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. 24Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. 25Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 26Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. 27Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 
28Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 29Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 30Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 31Und Jakob nannte die Stätte Pnuël: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 32Und als er an Pnuëlvorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte. 
 
„Guten Morgen“, schreibt sie. „Was liegt heute bei dir an?“- „Ich habe Dienst“, antworte ich. Notfallseelsorge, 24 Stunden Bereitschaft. Wenn der Pieper an meinem Gürtel geht, muss ich los. „Melde dich“, schreibt sie, „wenn du gerufen wirst. Auch nachts. Ich lass mein Handy an“. Eigentlich möchte ich ihren Schlaf nicht stören. Aber zu wissen, dass sie da ist, dass ein „Ping“ ihres Telefons sie weckt, wenn ich los muss, tut mir gut. Oft bleibt es ruhig. Aber wenn ich gerufen werde, wenn die Leitstelle der Feuerwehr die Notfallseelsorge alarmiert, ist es eher nachts als am Tag. Meine Klamotten liegen bereit. Das Namensschild der Notfallseelsorge. Das Auto hat Sprit. Und doch ist es ein Angehen. Nie bin ich vorbereitet auf das, was mich erwartet. Die Leitstelle gibt mir einen Namen durch. Straße, Hausnummer, dritte Etage rechts. Stichworte zur Lage. Jemand ist verletzt. Oder gestorben. Andere sind da, die brauchen einen, der zuhört, hinsieht, den Schrecken mit aushält. Eine, die bleibt, wenn die Einsatzkräfte wieder fahren. Diese Eine bin jetzt wohl ich. 
 
Ich kann das nicht, denke ich, während ich ins Auto steige. Mach du das jetzt, Gott. Du bist schließlich auf die Idee gekommen, mich loszuschicken. Jetzt rette mich. Segne mich.Gib mir die richtigen Worte ein und das richtige Schweigen. Ping, sagt mein Handy. „Ich denke an dich“, schreibt sie. „Ich bete für dich. Und für die, zu denen du fährst“. Ich drehe den Schlüssel im Zündschloss und fahre los.
 
„Ich lasse dich nicht“, sagt Jakob, „du segnest mich denn“. Mitten in der Nacht ist er aufgestanden. Hat seine liebsten Menschen in Sicherheit gebracht. Über den Fluss. Richtung Heimat. Er ist allein zurückgeblieben. Mit dem, was ihm bevorsteht jenseits des Flusses, haben sie nichts zu tun. Eine lange Geschichte. Eine alte Rechnung, offen geblieben zwischen ihm und seinem Bruder Esau. Es ist Jahre her. Jakob hat Esau betrogen. Ihn ausgetrickst und sich den Segen des blinden Vaters erschlichen. Dann ist er geflohen. Bei Nacht und Nebel abgehauen. Und in der Fremde reich geworden. Jetzt kehrt er zurück. Mit Frauen und Kindern. Mit Bediensteten und Schafherden. Alles mit seinen Händen erarbeitet. Und mit seinem enormen Selbstvertrauen. Mit dem Siegesbewusstsein des Gesegneten. Jakob, der Glaubensvater. Jakob, der Bruder auf dem Weg nach Haus. Esau, haben seine Spione herausgefunden, kommt ihm entgegen. Mit vierhundert Mann. Ein ganzes Heer! Was liegt heute bei dir an? Dem Bruder entgegengehen. Mit reichen Geschenken, ja, aber auch mit leeren Händen. Allein, bloß du und ich. 
 
Und Gott. Denn wer sonst sollte Jakob wach gehalten haben die ganze Nacht durch, bis endlich das erste blasse Morgenrot aufzieht? Einer ringt mit ihm. Raubt ihm den dringend nötigen Schlaf. Fordert seine Gedanken, seine Konzentration, seine Körperkraft. Und die Seelenkraft. So hältst du mich auch wach, Gott, oder wer sonst mir die nächtlichen Kämpfe schickt. Am Ufer eines Flusses. An einem Übergang. Wenn ich im Bett liege, todmüde, aber ohne ein Auge zuzutun, das Bettzeug zerwühlt, die Augen an die Zeiger der Uhr geheftet. Tick, ich brauche den Schlaf. Tack, sonst schaffe ich die Prüfung morgen nicht. Wenn ich an einem Krankenbett sitze, die Atemzüge eines liebenMenschen bewache, die Berührungspunkte unserer Lebenziehen vorbei, ein stummes Gespräch. Tick, tack. Wenn, was am Tag noch beherrschbar schien, nachts zu einem Ungeheuer wird, das mich bedroht. Ich kann das nicht. DieAufgabe meistern. Die Krankheit aushalten. Der Schuld ins Auge sehen. Den Kampf bestehen und weiterleben mit all den Verletzungen. 
 
Es wird Morgen. Die beiden kämpfen immer noch. Jakob istverwundet, seine Hüfte ist ausgerenkt, eigentlich steht da, seine Lende ist verletzt, seine Männlichkeit, aber Jakob gibt nicht nach. Statt dessen fordert er den Segen. Da ist einer ohne Namen, lass ihn Sorge heißen, Schmerz, Schuld oder Angst, der quält ihn die ganze Nacht. Dann Vogelstimmen. Fahle Lichtschleier in der Finsternis. Der Schlafräuber will sich zurückziehen. Lass mich gehen, sagt er, die Morgenröte bricht an. Aber Jakob sagt: Ich lasse dich nicht los. Ich halte an dir fest mit all meiner Kraft, bis du mich segnest. Wie heißt du, fragt der andere. Den Namen kennen über dein Gegenüber heißt Macht gewinnen über ihn. Jakob lässt los und ergibt sich. Jetzt hat er den Kopf und die Hände frei, um den Segen zu empfangen. Wehrlos. Wie ein Kind, das noch nichts selberkann und alles von seinem Gegenüber erwartet. Wie unser Täufling hier. Ich bin Jakob. Segne mich!
 
Ich sag dir, wie du ab jetzt heißen sollst. Du wirst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel. Weil du mit Gott und mit Menschen gekämpft hast. Weil du im Kampf den Segen gesucht hast. Du hast nicht locker gelassen, hast Gott nicht losgelassen in der Nacht, im Kampf, in Verletzung und Hilflosigkeit und Demütigung. An der Hüfte verrenkt. An der persönlichsten Stelle getroffen. Tick, tack. Segne mich! Du sollst Israel heißen. Wie das ganze Gottesvolk. Anders als Jakobs und Esaus Vater, hat Gott Segen für alle seine Kinder. Gott hat Segen für die Frauen, die frühmorgens vom leeren Grab wegrannten, voller Schrecken, die Freude kommtzögernd. Gott hat Segen für Thomas, der nicht fassen kann, dass Jesus auferstanden ist, bevor er die Finger in seine Wunden gelegt hat und mit eigenen Augen gesehen, er ist hier. Gott hat Segen für die, die mit leeren Händen dastehen, kraftlos nach einer durchwachten Nacht, ratlos vor einer Aufgabe, sprachlos vor eigenem oder fremden Leid, ohne Glauben an sich selbst, an Gott oder Menschen. Gott hat Segen für mich, auch wenn ich es nicht mal hinkriege, um Segen zu bitten. 
 
Jetzt sag du mir, fordert Jakob. Wie heißt du? – Warum fragst du das, fragt der ohne Namen und segnet ihn. Daselbst. Am Schauplatz des Kampfes. Am Übergang. In dem Moment, dadie Sonne aufgeht. Am Fluss, vor dem ersehnten und gefürchteten Wiedersehen mit dem Bruder. Auf dem Bett mit den zerwühlten Laken. Im Auto, das jetzt startet. Jakob nennt diesen Ort „Pnu-El“. Keine Frage, es war Gottes Gesicht. Er hat Gott gesehen in den Schmerzen, in der Angst, in der Schuld, mitten im Kampf auf Leben und Tod, und ist gerettetworden. 
 
Und ich? Wie Jakob habe ich Verletzungen zurückbehalten von den Kämpfen an den Übergängen. Von den Nächten, in denen ich nicht schlafen konnte. Von einer überstandenen Krankheit. Von einem Leiden, das weiter besteht. Vom Ringen um eine Entscheidung, um einen Weg, um ein Fünkchen Hoffnung für den Tag. Gelegentlich spüre ich sie wieder, die Schmerzen an Körper und Seele. Die Schwäche. Ein „Hinken“, eine Behinderung, die bleibt. Meine Stärke! Sie erinnert mich: Ich bin gerettet. Aus dem Wasser der Taufe gezogen. Gesegnet. Ich brauche diese Erinnerung. Besonders nachts. Oder wann immer ich nicht vorbereitet bin. Ich werde nicht locker lassen, Gott um Segen zu bitten. Ich werde erlauben, dass andere um Segen bitten für mich. In Jesu Namen. Amen.

Aus dem Labyrinth ins Freie. Osterpredigt 2023

zu 1. Korinther 15,19-28 von Charlotte Scheller

Ein Mosaik im Fußboden der gewaltigen Kathedrale in Frankreich. Zwölf Meter im Durchmesser, eine Christophorus-Kirchenlänge in etwa. In der Kreisfläche ein Weg aus 273 Steinen. Es geht hin und her, in kleinen Schleifen und großen Kurven. Wenn du in die Mitte willst, musst du jedes Viertel des Kreises mehrmals durchwandern. Es bleibt dir kein Schritt erspart. Immer wieder denkst du, jetzt kommst du zum Ziel, und dann geht es ganz nach außen. Die Strecke ist ungefähr so weit wie der Weg von der Kirche bis zu Kuskas Blumengeschäft. Es geht nur in eine Richtung. Verlaufen kann man sich nicht. Höchstens vor der Zeit schlapp machen. Bist du erst in der Mitte angekommen, geht es auf demselben Weg wieder nach draußen. Im Mittelalter, heißt es, haben der Bischof und seine Kirchenleute den Weg durchs Labyrinth getanzt. In der Kathedrale, jedes Jahr am Ostertag. 
 
In Knossos auf Kreta soll in alter Zeit ein gemauertes Labyrinth gewesen sein. In der Mitte hauste der Minotaurus, ein Ungeheuer, dem Menschen geopfert werden mussten. Jedes neunte Jahr, sieben Jungfrauen und sieben junge Männer. Ist das Leben so, ein unüberschaubarer Weg, und in der Mitte oder am Ziel lauert ein Ungeheuer, das einen verschlingt? - Ein Mann pflegt seine Frau. Immer haben sie alles geteilt, Schönes und Schweres, haben sich geliebt und sind zusammen alt geworden. Nun lässt ihr Gedächtnis sie im Stich. Sie versinkt in ihrer eigenen Welt und lässt ihn allein mit der Verantwortung für sie beide. Wo ist der eine Mensch, der mich versteht, wo ist Gott, dem ich vertrauen kann? - Eine Mutter ist mit ihren vier Kindern geflohen. In der Heimat ist Krieg und Gewalt. Aber hier, in der Flüchtlingsunterkunft, ist es trostlos, sie versteht das Land und die Leute nicht, ein Kind ist krank, hilflos steht sie vor Behörden und Ärzten. Ich habe keine Freude mehr, sagt sie. Wo ist Hoffnung zu finden?
 
An die Gemeinde in Korinth schickt der Apostel Paulus einen kräftigen Brief. Die Themen sind: Glaube, Liebe und Hoffnung. Die Hoffnung hat nur einen einzigen Grund: Jesus Christus ist vom Tod auferstanden. Die Hoffnung kennt keine Grenzen, sie hofft einfach mal alles. Für alle Menschen. Paulus schreibt:
 
Wenn wir nur für dieses Leben auf Christus hoffen, sind wir bedauernswerter als alle anderen Menschen.Nun ist Christus aber vom Tod auferweckt worden, und zwar als Erster der Verstorbenen. Denn durch einen Menschen kam der Tod in die Welt. So bringt auch ein Mensch die Auferstehung der Toten. Weil wir mit Adam verbunden sind, müssen wir alle sterben. Weil wir aber mit Christus verbunden sind, werden wir alle lebendig gemacht.
Das geschieht für jeden nach dem Platz, den Gott für ihn bestimmt hat: Als Erster wird Christus auferweckt. Danach, wenn er wiederkommt, folgen alle, die zu ihm gehören.Dann kommt das Ende: Christus übergibt Gott, dem Vater, seine Herrschaft. Zuvor wird jede andere Herrschaft, jede Gewalt und jede Macht vernichtet. Denn Christus muss so lange herrschen, bis Gott ihm alle seine Feinde zu Füßen gelegt hat. Der letzte Feind, den er vernichten wird, ist der Tod (1. Korinther 15,19-26)
 
Was für eine Aussicht! Der Tod wird vernichtet. Darauf läuft alles hinaus. So hat Gott es gewollt von Anfang an, als er die Welt erschuf, als er die Menschen ins Leben rief, als er seinen Sohn auf die Erde schickte, Christus, die lebendige Kraft seines Wortes. Die Frauen kommen zum Grab und sind erschrocken: Das Grab ist leer. Ein Engel ist vom Himmel gekommen. Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden! Ihr Herz zittert noch vor Furcht, dann bricht die Freude sich Bahn. Sie stürzen davon und erzählen es weiter. Der Herr ist auferstanden! In die Einsamkeit wird eine unwiderstehliche Zuversicht eingelassen. Die letzte Macht des Todes ist gebrochen!
 
Aber es ist Streit entstanden über diese Aussicht. Manche denken, wir brauchen Gott nicht zur Überwindung des Todes. Der moderne Mensch kann das selbst. Die Medizin arbeitet daran, den Tod hinauszuschieben, ihn eines Tages ganz zu überwinden. Auch wenn jetzt noch nicht alles möglich ist. Es ist eine verbreitete Vision: Der Tod ist der letzte Feind, aber eines Tages überwinden wir ihn. 
 
Daran glaube ich nicht. Mensch zu sein heißt sterblich zu sein. Mitten im Leben tritt der Tod uns entgegen. Wer ihn verdrängt, verabschiedet sich von der Wirklichkeit. Das Starke an unserem Glauben ist aber: Ich muss den Tod nicht leugnen. Ich werde ihn auch nicht überwinden. Aber ich werde auch nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass am Ende Leben ist. Wie am ersten Ostermorgen. Das leere Grab, dessen Anblick die Frauen zum Zittern bringt und sie dann alles hoffen lässt. Einfach alles! Es gibt ihn noch, den Tod. Aber er wird nicht mehr der Bestimmer sein in unserem Leben. Gott ist der Bestimmer. Er bringt uns das Leben.
 
Das feiern wir an Ostern. Das soll uns bestimmen! Der gekreuzigte Jesus bleibt nicht im Tod. Gott nimmt ihn zu sich auf. Der Tod ist immer noch schrecklich real. Jesus ist wirklich gestorben. Er wurde wirklich begraben. Aber sein Tod behält nicht das letzte Wort. Jesus lässt ihn hinter sich. Er besiegt das Ungeheuer, vor dem wir uns zu Recht fürchten. Damit nimmt er vorweg, was für uns alle verheißen ist. Der Weg führt aus dem Labyrinth hinaus. 
 
Unsterblich werden wir nicht durch Ostern. Aber es braucht auch niemand dem Tod eine letzte Macht einzuräumen. Die Seele darf jubeln und tanzen, wie die Frauen, die vom Grab wegrennen, wie die Gläubigen, die auf dem Labyrinth tanzen. Wie die Christenmenschen in aller Welt, die heute wieder singen, allem Leid zum Trotz: Christ ist erstanden! Vielleicht kennen Sie auch dieses Lied: Lord of the dance. „They cut me down and I leapt up high“, beginnt die letzte Strophe. – Sie haben mich umgeworfen und ich bin wieder aufgesprungen. Hochgeschnellt. Die Seele jubelt und tanzt, denn Ostern ist das Fest des Lebens. 
 
Es gibt ja einen Ausgang aus dem Labyrinth. Manchmal brauchen wir andere, um ihn zu sehen. Ich denke an den Mann, dessen Frau sich schon weit von ihm entfernt hat auf dem Weg des Vergessens. Einmal in der Woche legt er eine alte Schallplatte auf, „ihr Lied“. Er zieht sie aus dem Sessel hoch, nimmt sie in die Arme und wagt, ungeachtet des Rollators, ein Tänzchen mit ihr. Sie ist selig, in dem Moment ist die Vergesslichkeit vergessen und die Liebe ist ewig. Ich denke an die Frau, die der vierfachen Mutter den Rücken stärkt. Sie spricht für sie bei den Behörden. Fährt die Kinder zum Arzt. Hält der Mutter die Hand. Organisiert für Flüchtlinge und Nachbarn ein Fest in der Unterkunft und feiert mit ihnen, allem Leid zum Trotz, fröhlich. 
 
Der aufrechte Gang gehört zu Ostern. Der Tanz aus dem Labyrinth. Jeder von uns darf erhobenen Hauptes gehen. Jede kann schauen, ob sie einer andern dabei helfen kann, sich aufzurichten und der Zukunft entgegen zu gehen. Oder zu tanzen. Denn Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!

Predigt am Karfreitag zu Kolosser 1,12-20 von Vikarin Johanna Bierwirth - Alles ist jetzt

Alles. 
Alles ist jetzt. Es ist alles, alles jetzt. 
Alles war. Alles war und wird sein und alles wird gewesen sein.
Alles wurde geschaffen. Durch ihn.
Alles hat ein Ziel. In ihm.
Alles hat Bestand. In ihm.
Alles erfährt Versöhnung. Durch ihn. 
Alles. 

Im Kolosserbrief steht geschrieben:

Dankt dem Vater mit Freude!
Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Erbe der Heiligen, die im Licht leben.
Er hat uns vor der Macht der Finsternis gerettet und der Herrschaft seines geliebten Sohnes unterstellt.
Der schenkt uns die Erlösung, die Vergebung unserer Sünden. Christus als Ebenbild Gottes und Haupt der Gemeinde.
Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der zuerst Geborene: 
Vor allem Geschaffenen war er da.
Denn durch ihn wurde alles geschaffen, im Himmel und auf der Erde.
Das Sichtbare und das Unsichtbare – ob Throne oder Herrschaftsbereiche, ob Mächte oder Gewalten – alles wurde durch ihn geschaffen und alles hat in ihm sein Ziel.
Er ist vor allem da, und in ihm hat alles Bestand.
Und er ist das Haupt des Leibes – der Gemeinde. Er ist der Anfang: der erste der Toten, der neu geboren wurde. In jeder Hinsicht sollte er der Erste sein.
Denn so hatte es Gott beschlossen: Mit seiner ganzen Fülle wollte er in ihm gegenwärtig sein.
Und er wollte, dass alles durch ihn Versöhnung erfährt. In ihm sollte alles zum Ziel kommen.
Denn er hat Frieden gestiftet durch das Blut, das er am Kreuz vergossen hat.
Ja, durch ihn wurde alles versöhnt – auf der Erde wie im Himmel.

Alles wurde versöhnt. Wurde! Das ist besonders am Kolosserbrief. Wir werden nicht versöhnt werden, irgendwann, gottweiß wann. Nein, wir wurden schon versöhnt. Es ist schon längst passiert! Und es betrifft nicht nur ein paar Menschen, keine auserwählte Elite, keinen geheimen Zirkel. Nein, alle wurden schon versöhnt! 

Ich atme schwer aus. Manchmal bin ich in einer richtig zynischen Stimmung, da kann ich so einen Text nur schwer ertragen. Dann klingt das für mich nach einem verwaschenen Happy End. Jesus ist tot! Auf grausame Art hingerichtet schreit er in die Finsternis: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Nichts mit Versöhnung auf der Erde und im Himmel! Alles ist hinüber, alle tragen Schuld, allezeit steht das Kreuz für die abgründige Grausamkeit der Menschheit.

Zum Glück ist Jesus kein Zyniker. Er holt alle an einen Tisch. Mit den Zöllnern und Sündern isst er in ihrem Haus- ein häufiger Vorwurf der vermeintlich guten Leute zu seiner Lebzeit. Alle an einem Tisch. Egal, wer sie sind, egal, was sie tun, egal, was andere von ihnen halten. Sie sitzen alle zusammen, auf Augenhöhe. Erleben Gemeinschaft. 

So war es auch beim letzten Abendmahl. Die Evangelien erzählen, dass Jesus wusste, was passieren werde. Dass er verraten und verleumdet werden würde von denen, mit denen er an einem Tisch sitzt. Denen er sagt: Nimm hin und iss dieses Brot, ich gebe dir meinen Leib. Nimm hin und trink aus diesem Kelch, mein Blut wird für dich vergossen. Er schickt Judas und Petrus nicht weg. Sie bleiben. Nicht unwidersprochen! Was sie tun werden, wird nicht einfach weggelächelt und um der guten Stimmung willen ignoriert. Nein, Jesus provoziert sie geradezu und macht ganz deutlich: Was ihr getan habt und tun werdet, das missfällt mir! Aber kommt her, esst und trinkt, ich gebe mich euch voll und ganz hin. Alle haben an meinem Tisch Platz. Alle. Was ich in meinem Kopf kaum begreifen kann, das macht Jesus einfach. Jesus gibt sich für alle hin.

Alle. Das ist tröstlich. Alle heißt- ich auch. Und alle, die ich gern habe. Das ist beruhigend. Alle. Das ist auch bedrohlich. Alle heißt – auch die anderen. Heißt in letzter Konsequenz auch die, die unermessliches Leid über die Welt bringen. Die rauben und morden und zerstören und aus reiner Bosheit heraus Dinge tun, die ich mir in meinem behüteten Leben im Traum nicht ausmalen kann. Alle.

Ich kann das an dieser Stelle nicht auflösen. Menschliche Vernunft, menschliches Gerechtigkeitsempfinden greifen hier nicht. Gottes Frieden, der Grund für die Versöhnung aller, ist höher als alle menschliche Vernunft. Unbegreiflich. Aber ein Gott, der Mensch wird und sich ans Kreuz hängen lässt, der lässt die Opfer von Gewalt sicher nicht im Stich. Der lässt ihr Leid nicht unter den Tisch fallen. Der sieht hin und leidet mit und spricht aus, was falsch ist. Gott ist gerecht.

Wenn wir gleich zusammen Abendmahl feiern, dann sind wir eine Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, zu der alle eingeladen sind. Dann ist da mehr als Erinnerung. Dann blitzt in diesem Moment das hervor, was eigentlich zeitlos ist und was in diesem Moment an einem Zeitpunkt festhaftet: Dass wir versöhnt sind. Wir waren versöhnt, wir sind versöhnt, wir werden versöhnt sein. Gottes Liebe ist zeitübergreifend. Aber wenn wir gleich hier stehen und das Brot essen und den Traubensaft trinken, dann bekommt diese Liebe Gottes, diese unermessliche Versöhnung, einen Haftpunkt in der Zeit. Dann ist das, was sonst wie ein Grundrauschen meine Existenz durchzieht, laut und deutlich zu spüren. Und mir persönlich geht es so, dass ich das im Herzen sogar spüren kann. Dann blitzt etwas von der Liebe Gottes in mir auf und für einen Moment ist da einfach Frieden. Ja, durch ihn ist alles versöhnt – auf der Erde wie im Himmel. Amen.

Predigt zum Sonntag Judika, 26. März 2023, von Vikarin Johanna Bierwirth

Stuttgart im Oktober 1945.

Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.

Dies ist ein Auszug aus der sogenannten Stuttgarter Schulderklärung. Einen ihrer Verfasser kennen sie. Sein Bild hängt mir gegenüber, bei den „Heiligen des 20. Jahrhunderts“: Martin Niemöller.

Gehorsam: I. Akt

Viele evangelische Christen jubeln, als das deutsche Kaiserreich 1871 gegründet wird. Der Kaiser ist evangelisch und preußische Tugenden wie Fleiß, Gehorsam, Pflichtbewusstsein fußen auf ebenjenen evangelischen Tugenden. Pfarrer Niemöller zieht seine Kinder so auf, wie es sich zu dieser Zeit in einem evangelischen Pfarrhaus gebührt: Streng und diszipliniert, Gott und Kaiser treu ergeben. Streng-konservative Werte. Antisemitismus. Unterm Weihnachtsbaum liegen Spielzeuggewehre. Pfarrer Niemöller begleitet Kaiser Wilhelm nach Palästina. Sein Sohn Martin ist begeistert. Und Vater, wie ist der Kaiser so? Der kleine Martin und der große Kaiser haben etwas gemeinsam: Beide haben sie eine kindliche Begeisterung für die Marine. Martin strebt dort die Offizierslaufbahn an. Als Seekadett trägt er eine dunkelblaue Matrosenjacke über dem weißen Hemd. Schwarz-rote Spangen auf den Schultern. Dunkelblaue Schirmmütze. Marinedolch mit weißem Elfenbeingriff. Schnell wird er Seeoffizier. Und trägt nun den Offizierssäbel, besitzt eine Galauniform mit Kaiserkrone auf den Ärmelplatten. Für zwei Dinge kann er sich begeistern: Erstens für U-Boote, zweitens für den Ausbruch des Krieges. Er lernt Karl von Dönitz kennen. Er erhält das Eiserne Kreuz. Er reist von der Nordsee durch das Mittelmeer und bis nach Dakar. Die U-Boote versenken Kriegsschiffe, Handelsschiffe, Passagierschiffe. Zu Befehl!


Gehorsam: II. Akt

Ausgerechnet die Kieler Matrosen läuten die Revolution ein. Auch auf der SMS Thüringen, wo schon Martin Niemöller gedient hat. Der Kaiser dankt ab, die Republik wird ausgerufen. Auch Niemöller dankt ab. Unter einem demokratischen Befehl will er nicht dienen.

Er heiratet an Ostern 1919 Else Bremer und die beiden wollen einen Bauernhof erwerben. Ein eigenes kleines Königreich, abgeschottet vom Land der Niederlage. Aber in Zeiten der Inflation, wo ein Brot ein paar Millionen Mark kostet, ist es schwierig, Land zu kaufen. Plan B: Pfarrer werden. Das „Volk“ braucht Orientierung und Ordnung in diesen Zeiten. Die Kirche kann traditionsgemäß damit dienen. Aber nicht nur die. Vermeintliche Orientierung und Ordnung bieten auch völkische Gruppierungen. Rechtsradikal, antisemitisch, nationalistisch. Martin macht mit: Freikorps Akademische Wehr Münster. Deutschnationale Volkspartei. Deutschvölkischer Schutz- und Trutzbund. Bund der Aufrechten. Er sieht keinen Widerspruch zu seiner Arbeit im Dienste Gottes. Nach seinem Vikariat leitet er die Innere Mission in Westfalen, baut eine Struktur an Wohlfahrtsämtern auf. Ab 1924 wählt er NSDAP, ein Jahr später erscheint „Mein Kampf“.

 
Gehorsam. III. Akt

1931 bekommt Martin seine erste Pfarrstelle. Er ist jetzt Pfarrer Niemöller in Berlin-Dahlem. Der Talar ist schwarz, auf der Brust preußische Raffung, schwarzer Klappkragen, Barett. 1933 wird der sogenannte Arierparagraph erlassen. Jüdisch-stämmige Menschen müssen den Staatsdient verlassen. Die Evangelische Kirche der altpreußischen Union, Pfarrer Niemöllers Dienstherrin, zieht als Erste nach und entlässt getaufte Christen jüdischer Herkunft aus Kirchenämtern. Man sollte meinen, dass bei Martin alles so weiterläuft wie bisher. Warum sollte sich jemand daran stoßen, der doch selbst NSDAP wählt und antisemitische Äußerungen von sich lässt? Martin sagt später, dass Jesus von Nazareth selbst jüdisch gewesen sei und deswegen Arierparagraph und Evangelium nicht vereinbar seien. Er gründet den Pfarrernotbund, um die Betroffenen zu unterstützen. Gegen den Willen der Politik, gegen den Willen seiner Landeskirche. Pfarrer Niemöller wird zum Empfang geladen, zusammen mit verschiedenen hohen Kirchenleuten. Der Gastgeber: Hitler. Bevor der Empfang losgeht, kommt Göring herein mit einer roten Mappe in der Hand. Darin: Protokolle von abgehörten Telefonaten. Telefonate von Niemöller, mit kritischem Inhalt, auch verdächtige Worte von Niemöllers Vikarin. Aber es wird nicht tiefgehend nachgefragt. Am Ende geht Hitler an den Kirchenleuten vorbei, schüttelt jedem zum Abschied die Hand. Pfarrer Niemöller spricht ihn an: Die Sorge um das deutsche Volk könne nur Gott von ihnen nehmen, nicht der Reichskanzler. Der zieht seine Hand zurück. Pfarrer Niemöller ist der nationalen Idee ja eigentlich zugeneigt, aber langsam bröckelt es. 


Gehorsam. IV. Akt

Schrittweise begibt sich Pfarrer Niemöller in die Opposition. 1937 wird er verhaftet, aber freigesprochen. Kurzerhand wird er von Hitler zum persönlichen Gefangenen erklärt und im KZ Sachsenhausen interniert. Während es für die meisten Menschen im KZ keinen Aufschrei gab, folgt auf Niemöllers Internierung eine Welle der Solidarität. Eine Hinrichtung steht im Raum- ein britischer Bischof wendet sie ab. 1939 bricht der Krieg aus und Offizier Niemöller will sich melden. Sein lutherischer Ethos sagt ihm, dass er für´s Vaterland kämpfen müsse. Aber er ist nicht mehr Offizier Niemöller, er ist der Häftling Niemöller, er bleibt im KZ, wird nach Dachau verlegt. Im KZ reift die Erkenntnis, dass er in vielen Dingen geirrt hat. Er sagt später: „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie die Juden holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Jude. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.“

Dann die Stunde Null. Er kehrt zurück nach Dahlem, ist wieder Pfarrer Niemöller. Aber er ist ein anderer als vorher. Die Kirche, auch die bekennende Kirche, trägt Mitschuld an der Katastrophe. Was soll die Evangelische Kirche in Deutschland, die für all das mitverantwortlich ist, vor der Weltchristenheit sagen? Niemöller hilft die Worte zu finden. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis entsteht.


Gehorsam. V. Akt

Es könnte jetzt alles gut sein. Aber so einfach ist es nicht. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis spricht eigentlich kaum von Schuld, sondern schnell vom Neuanfang. Und die Gemeinden? Die allermeisten lehnen das Schuldbekenntnis ab. Der Blick geht weg von den echten Opfern des Nationalsozialismus, die Kirche kreist lieber um sich selbst, sieht sich selbst als Opfer. 

Im Hebräerbrief steht folgendes: Jeder Hohepriester wird aus Menschen ausgewählt und für Menschen eingesetzt. Er wird zum Dienst vor Gott eingesetzt, damit er für die Sünden der Menschen Gaben und Opfer darbringt. Er kann mitfühlen mit den unwissenden und irregeleiteten Menschen. Denn auch er selbst ist der menschlichen Schwachheit unterworfen. Ihretwegen muss er auch für sich selbst Opfer für seine Sünden darbringen – genauso wie er es für das Volk tut.

Wir Menschen machen Fehler. Wir können wirklich böse sein. Christinnen und Christen, Pfarrerinnen und Pfarrer, Bischöfinnen und Bischöfe, die ganze Kirche. Unwissend, irregeleitet, schwach. So sehr ich persönlich mir auch wünsche, dass wir als Kirche das Gegenteil sind, dass wir Gott gehorchen und uns von der Liebe leiten lassen, so weiß ich auch, dass das nicht immer klappt. Dass wir nicht davor geschützt sind, falsche Wege einzuschlagen. Auch Martin Niemöller war verschiedenen Menschen und Ideen gegenüber gehorsam. Und hat Stück für Stück erkannt, wie falsch er damit lag. Für mich bleibt er eine schwierige Persönlichkeit. Auch nach 45 vertrat er noch Ansichten, die ich persönlich ablehne. Aber mich fasziniert die Kehrtwende, die er im Laufe seines Lebens vollzogen hat, denn der ehemalige Offizier wird sogar radikaler Pazifist. Und dass er etwas tat, was mutig ist und was zu seiner Zeit kaum einer tat: Schuld eingestehen. 

Im Hebräerbrief heißt es weiter: Als Jesus hier auf der Erde lebte, brachte er seine Gebete und sein Flehen vor Gott – mit lautem Rufen und unter Tränen. Denn der konnte ihn vom Tod retten. Und wegen seiner Ehrfurcht vor Gott ist er erhört worden. Obwohl er der Sohn war, hat er es angenommen, wie ein Mensch durch Leiden Gehorsam zu lernen. So wurde er zur Vollendung gebracht. Seitdem ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber ihrer ewigen Rettung geworden.

Was heißt Gehorsam? Jesus zeigt es uns. Es geht nicht darum, Befehle entgegenzunehmen, andere auszugrenzen oder Loyalität über Gewissen zu stellen. Es geht darum, ehrlich zu sein. Der Liebe verpflichtet zu sein. Demütig auf das eigene Handeln zu blicken. Die Zeit für einen solchen Gehorsam ist nicht vergangen. Keine zugeklappte Akte aus der Kirchengeschichte. Die Zeit für einen solchen Gehorsam besteht immer. Deswegen lohnt es sich, mit wachem Blick unsere eigene Gegenwart zu betrachten und zu fragen: Wo muss unsere Kirche heute mutiger bekennen, treuer beten, fröhlicher glauben und brennender lieben? Amen.

Die Predigt basiert auf einem Interview mit Martin Niemöller. Unter folgendem Link können Sie es finden: Martin Niemöller - vom Mitläufer zum Widerstandskämpfer - ZDFmediathek

Predigt zum Sonntag Okuli (Lk 22,47-53) "Ich öffne meine Augen" von Johanna Bierwirth

I. Ich öffne meine Augen. Was sehe ich? Was ist geschehen, vor so langer Zeit, an einem so fernen Ort? Was kann ich erkennen? Ich sehe Jesus. Es ist dunkel um ihn herum. Nur das helle Holz der Olivenbäume schimmert in dem wenigen Licht. Ich bin so weit weg, ich kann sein Gesicht kaum erkennen, dort am Hang des Berges. In der Ferne sehe ich die wenigen Lichter der Stadt, klein und versprenkelt. Die Lichter wissen nichts von dem, was hier in der Dunkelheit geschieht. Plötzlich sind da Männer mit Waffen und Fackeln.     Das Licht ihres Feuers flackert bedrohlich über ihre Gesichter. Jetzt sehe ich auf dem Boden liegende Menschen. Beim Anblick der Fackeln springen sie auf. Sie stellen sich hinter Jesus. Ich kann ihre Hände nicht sehen. Sie sind versteckt in den Falten der Umhänge, so wie ihre Dolche. Da steht jemand ganz nah neben Jesus, eingehüllt in einen weiten Umhang, den Rücken zu mir gekehrt. Ich kann die Gestalt nicht erkennen. Ich sehe ihr Gesicht nicht, ich sehe nicht, was sie tut. Der dunkle Umhang ist wie ein großer Tintenfleck auf einem Bild, der das Wesentliche verdeckt. Das Dunkle strahlt aus und bedeckt alles, was ich sehe. Die Olivenbäume, die eben noch silbern schimmerten, sind jetzt ganz grau. Plötzlich sind da aufgerissene Münder. Die Dolche fest am Griff gepackt, hoch erhoben. Und eine Hand, die dazwischenfährt. Jesu Hand. Zornige Augen. Die Gestalt im Umhang ist verschwunden. Als Jesus geht, blickt er sich nicht noch einmal zu den Seinen um. Die Olivenbäume stehen wortlos da. Die Stunde der Finsternis.

II. Ich öffne meine Augen. Was sehe ich? Ich sehe das Kreuz. Es überragt alles, den Anfang und das Ende. Es türmt sich vor mir auf und blendet mich. Sein gleißendes Licht leuchtet alles aus, jeden Winkel, jede Ecke. Was eben noch dunkel war, ist jetzt hell. Ein neuer Blick. Ich sehe erneut auf das, was passiert sein soll, damals. Da ist Jesus, ich erkenne ihn. Immer wieder geht sein Blick hinauf zum Kreuz. Sehen nur er und ich es? Und die Jünger, die schlafenden Jünger, kneifen sie ihre Augen etwa zu? Dann kommen die Häscher. Sie tragen zwar Fackeln bei sich, aber das Licht ist strahlt nicht verräterisch in der Dunkelheit, es ist alles offenbar. Nichts ist verborgen. Ich sehe Judas, mein Blick folgt seinen Schritten. Es kommt mir seltsam vor, wie er auf Jesus zugeht. Seine Bewegungen gleichen der einer Puppe. Ich sehe, wie seine Lippen ganz nah an Jesu Wange sind mit einer Selbstverständlichkeit, die mich erschaudern lässt. Ins Herz schneidende Zärtlichkeit. Jesus steht da, wie ein Fels. Unerschrocken und mit festem Blick. Da ist kein Erschrecken über den Verrat. Ist es dann überhaupt ein Verrat? Oder nicht einfach nur eine Übergabe? Vom vertrauten Kreis in die Hände derer, die Blut sehen wollen? Die ohne es zu merken genau das tun, was getan werden muss? Nun erheben sich die Jünger, wie an Seilen hochgezogen. Ich sehe, wie sie sprechen, wie ihre Lippen sich bewegen, aber mit starren Augen, als ob sie einen fremden Text vortragen. Eine Choreographie im Licht des Kreuzes. Wie auf ein Zeichen stürmen die Jünger auf die Häscher los. Und lassen wieder ab. Denn sie haben es nicht verstanden. Nichts verstanden. Als Jesus das abgeschlagene Ohr aufhebt, rinnt Blut an seinem Handgelenk hinab. Blick zum Kreuz. Heilung. Alles muss so geschehen. Kein Verrat, kein Kreuz. Kein Kreuz, keine Rettung. Im Lichte des Kreuzes ist doch alles ganz klar. Judas rennt fort. Den Berg hinab. Die Straße hinab. Er stolpert. Bricht entzwei. Stirbt den Tod der Gottlosen. Ist das auch Teil der Choreographie? Und nun singen wir das Spottlied über den Erzsünder oder das Requiem über den Knecht Gottes, der ihn verraten musste, damit die Welt erlöst werden kann. Die Zwischentöne klingen trostlos. Jesus steht da. Ich blicke ihn an und frage mich, ob er wusste, was passieren wird? Ob das alles wirklich so kommen musste? Ging es wirklich nicht anders? Brauchte es tatsächlich jemanden aus den eigenen Reihen, der das alles ins Rollen bringt? Oder sehe ich hier nur, was ich sehen will? Weil ich das Ende kenne, weil ich weiß, dass Jesus am Kreuz sterben wird, weil ich daran glaube, dass Jesu Tod und Auferstehung die Rettung der Menschen bedeutet? Oder sehe ich all das nur, weil der Gedanke an Sinnlosigkeit zu sehr schmerzt? Im Lichte des Kreuzes erscheint alles so klar und vorhersehbar. Wenn das Licht nur nicht so blenden würde.

III. Ich öffne meine Augen. Was sehe ich? Ich sehe einen Menschen. Es ist der Verräter. Licht und Schatten streifen über ihn. Ich blicke in sein Gesicht. Stumm sieht es mich an, kein Lächeln, kein Groll, nichts. Mein Blick durchsucht seine Züge, seine Handflächen, seinen Blick. Aber nichts an ihm verrät mir, was er denkt. Ganz nah komme ich ihm, unsere Gesichter so nah, dass es für einen Kuss reicht. Ich blicke ihm in die Augen und erkenne mich selbst, sehe in seinen dunklen Augen mein Spiegelbild reflektieren. Verrate mir, wer du bist und ich verrate dir, wer ich bin. Judas blickt mich an. Was willst du mir sagen, Judas? Du warst doch eben noch so still. Und er beginnt zu sprechen. Judas sagt zu mir: Ich bin der Mensch wegen dem, nein, für den Jesus am Kreuz gestorben ist. Ich trage in mir, was alle Menschen in sich tragen und deswegen bin ich genauso wie du und nicht besser und nicht schlechter. Und wenn du wissen willst, was ich falsch gemacht habe, dann sage ich dir dieses: Ich habe Gott und mich auseinandergerissen, habe mich umgedreht und bin weggerannt. Ich verrate dir aber nicht, warum. Ich habe mich von Gott abgewendet. So wie es alle Menschen im Kleinen und im Großen tun, aber ich habe mehr Sinn für das Dramatische, siehst du das nicht auch so? Vielleicht bin ich deshalb der Erzsünder, nicht weil ich besonders böse wäre, nicht weil meine Tat besonders böse wäre. Das Böse, für das ich stehe, wurde nur einfach besonders gut in Szene gesetzt. Und wie erleichternd ist es doch, wenn es diesen einen Sünder gibt, auf den alle ihren Stein werfen können. Aber du und ich, wir beide, wir sind doch gleich viel wert, oder? Wir zählen doch beide, oder nicht? Jesus ist nicht nur für dich gestorben, sondern auch für mich. Denn wir haben beide schon zerrissen, zerbrochen und zerschlagen. Haben uns abgewandt und zurückgeblickt. Aber ich glaube, es ist nicht zu spät. Pause Schweigen. Nur Schweigen. Die Worte von Judas klingen in mir nach. 

IV. Was zerrissen ist, was zerbrochen ist, was zerschlagen ist, das wird geheilt. Das kann ich sehen, das kann ich sichtbar machen. Siehe! Meine Hände fassen ins Wasser. Kalt und frisch. Ich erkenne mein Spiegelbild auf der Oberfläche. Das Wasser, mit dem wir taufen. Die Worte, die wir sprechen. Ich habe sie so oft gehört: Ich taufe dich auf den Namen Gottes. Getauft sein, getragen sein. Sichtbares Zeichen für die unsichtbare Liebe Gottes. Und eine Zusage: Ich bin da, spricht der Herr, dein Gott. Wie oft du dich auch abwendest, du kannst immer zu mir zurück. Wenn du dich in Finsternis verstrickst, entzünde ich ein Licht für dich. Ich bewahre dich zum ewigen Leben. So spricht Gott, der Herr. 

Ich hebe meinen Blick. Die Sonne geht auf über dem Ölberg. Über Golgatha. Über uns. Amen.

Predigt zum Sonntag Okuli (Lk 22,47-53) "Ich öffne meine Augen"

von Johanna Bierwirth

Gott, der Versucher und ich. Predigt am Sonntag Invocavit zu Hiob 2,1-13

von Paul Wingberg
Gnade sei mit euch und Frieden von dem, der da ist, der da war und der da kommt.
Amen.
 
(Lesung Predigttext: Hiob 2,1-13)
 
Ich schaue dem Leiden ins Gesicht. Kurz nur. Länger traue ich mich das nicht.
 
Ich sehe eine zerbrochene Stadt. Straßen voller Schutt und Staub. Ruinen. Kaputte Fundamente – geborsten, als die Erde bebte. Trümmerberge, die vor wenigen Tagen noch ein Zuhause waren.
Überall sind Menschen. Manche in Gruppen – andere allein. Manche bluten – andere verarzten. Manche hungern und frieren – andere helfen. Viele weinen – wenige können gerade trösten.
Ich höre ihre Tränen. Ich höre Menschen rufen. Manche rufen um Hilfe- andere antworten. Einige rufen, um die Helfenden zu organisieren. Um Ordnung zu schaffen – hier, wo gerade gar nichts in Ordnung ist. 
Eine Gruppe von Helfenden räumt einen ganzen Tag Schutt und Steine aus dem Weg. Und endlich können sei eine lebende Frau aus den Trümmern holen. Alle sind unsagbar erschöpft, aber auch erleichtert, dass sie es geschafft haben. 
Kurze Zeit später stirbt die Frau an ihren Wunden.
 
Und ich frage mich: Warum? Warum musste das passieren?
Und dann frage ich Gott: Warum? Was haben diese Menschen getan, damit gerade sie so sehr leiden müssen? Womit haben sie es verdient, dass ein ganzes Haus über ihnen zusammenbricht?!
Sag mit, Gott, warum? Ich will es verstehen.
 
+++  Szenenwechsel +++
Ich sehe ein anderes Trümmerfeld. Auch hier: Zerstörte Häuser, zerbrochene Existenzen. Die ausgebrannten Fenster sehen aus wie tote Augen. 
Doch die Krater in der Straße, die Einschusslöcher an der Hauswand zeigen deutlich: Das waren Menschen, keine Naturkatastrophe. 
Ich rieche Rauch und Asche in der Luft. In der Ferne höre ich das laute Krachen von Raketen, die einschlagen. Die Erde Zittert leicht.
Vor mir auf der Straße hastet eine Familie entlang. Sie blicken sich ängstlich um – kein Feind in Sicht. Rasch rennen sie an mir vorbei. Die Mutter trägt ein kleines Kind auf dem Arm. Das Kind weint. Die Blicke der Eltern sind ganz leer vor Trauer und Verzweiflung. Schnell sind sie um die nächste Ecke gebogen. Ich höre ein lautes Dröhnen. Ich schaue nach oben und sehe das nächste Kampfflugzeug über mir…
 
Warum, Gott? Warum passiert das? Warum lässt du so etwas zu?! Soll es eine Strafe sein? Eine Strafe für vergangene Sünden? Ist Leid die verdiente Strafe?
Was muss ein krankes Kind verbrochen haben, damit es einen Raketeneinschlag in sein Krankenhaus als gerechte Strafe verdient??!
NEIN! Leiden kann keine Strafe sein!
 
Aber warum dann, Gott? Warum dann…? Warum passiert soetwas in der Welt? Warum können Menschen, warum kann die Welt so grausam sein? Warum lässt du das zu, Gott? Wie soll ich da noch Hoffnung haben? Wie soll ich den Mut haben, ein Kind in so eine Welt zu setzen?
Bist du der Gott, der mir Zukunft verheißt?
 
+++ Szenenwechsel +++
Ich sehe einen Mann, der auf dem Boden sitzt. Um ihn herum ein verfallenes Haus. Er sitzt in der Asche – allein. Sein Körper ist über und über mit wunden Stellen versehen. Er hast die meisten Kleider abgelegt, sie brennen einfach zu sehr auf seiner Haut. Er hält eine Scherbe in seiner Hand. Damit schabt er sich – hofft auf Linderung. Tiefe Falten durchziehen sein Gesicht. Falten der Trauer und des Schmerzes. Er hat alle seine Kinder verloren. Er hat sein ganzes Hab und Gut verloren. Und nun sitzt er hier in den Trümmern. Todkrank.
Seine Frau kommt zu ihm. Sie schüttelt erstaunt den Kopf: „Hältst du immer noch an Gott fest? Nach allem, was dir passiert ist? Lass ab von Gott und stirb! Etwas anderes kannst du sowieso nicht mehr tun.“ Er antwortet: „Aber wir nehmen doch das Gute von Gott an, dann sollen wir doch auch das Schlechte annehmen (?) Eine Unsicherheit schleicht sich in seine Stimme.
 
Von Gott kommt also auch das Böse? Und ich soll es einfach annehmen? Wie soll das gehen?!
Gott, bist du nicht die Liebe? Bist du nicht die tröstende Hand, die sich zu mir ausstreckt? So sagen doch immer alle. Hier sollst du aber die geballte Faust sein, die mir ins Gesicht schlägt?
Ich kann die Frau verstehen. Wie kann ich an einen Gott glauben, der soetwas tut?!
Ich bin dem hilflos ausgeliefert.
 
+++ Szenenwechsel +++
Ich sehe eine Person, die in ihrem Zimmer sitzt. Draußen vor dem Fenster ist es schon hell. Ein paar Vögel zwitschern. In ihr drin ist es aber dunkel – irgendwie erstickt. Sie weiß nicht, was sie tun soll. Wieder sind ihre Gedanken und Gefühle in eine tiefe Schlucht abgestürzt. Hier ringt sie mit ihren Zweifeln, ihren Sorgen und Vorwürfen. Es ist zermürbend. Sie ist unsagbar schöpft. So unendlich müde. 
Und gleichzeitig hat sie große Angst. Angst vor dem, was kommt. Angst vor dem, was im Dunkeln lauert. Welche Gedanken und Erinnerungen sich in ihr Herz krallen und einfach nicht loslassen. Wann sie je wieder aufstehen kann? Sie weiß es einfach nicht. 
Diese Dunkelheit legt sich um ihr Herz und drückt langsam zu. Immer fester. Es ist kaum auszuhalten. Es ist zu schwer. Sie kommt nicht aus dieser finsteren Schlucht heraus. Es ist aussichtslos. 
So sitzt sie da und leidet – still.
 
Warum, Gott? Warum muss diese Person immer wieder so kämpfen, so leiden? Warum, Gott? Erkläre es mir! Ich halte diese Ungewissheit nicht aus. Ich bin verbittert und frustriert. Ich bin versucht, es aufzugeben – dich aufzugeben. Ich verstehe das alles nicht. Ich verstehe dich nicht, Gott!!
 
-Ich lade Sie und euch ein, mit mir einen Moment in Stille zu bleiben, danach singen wir die ersten beiden Strophen-
 
S  T  I  L  L  E
 
(EG 382,1-2)
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr
Fremd wie dein Name sind mir deine Wege
Seit Menschen leben, rufen sie nach Gott
Mein Los ist Tod, hast du nicht andern Segen?
Bist du der Gott, der Zukunft mir verheißt?
Ich möchte glauben, komm du mir entgegen
 
Von Zweifeln ist mein Leben übermannt
Mei Unvermögen hält mich ganz gefangen
Hast du mit Namen mich in deine Hand
In dein Erbarmen fest mich eingeschrieben?
Nimmst du mich auf in dein gelobtes Land?
Werd ich dich noch mit neuen Augen sehen?
 
Ich habe keine Antwort auf das „Warum“. Und ich bekomme auch keine Antwort darauf – zumindest nicht jetzt. Das ist schwer auszuhalten.
Und trotzdem spreche ich weiterhin mit dir, Gott. Und wenn ich keine Worte habe, dann schweige ich eben mit dir.
Ich spreche mit dir, Gott. Auch wenn der Zweifel mich übermannt. Wenn ich überall nur noch Leiden sehe. Wenn ich selber leide. Wenn alles ein einziger Notstand ist. Wenn ich keine Hoffnung mehr habe.
So wie Hiob. Er leidet so sehr, dass er sich wünscht, nie geboren worden zu sein.
Oder so wie Jesus. In der Zeit seiner größten Schmerzen, seines größten Leids am Kreuz fragt er: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Pure Verzweiflung spricht daraus.
Ich kann Jesus verstehen. Ich kann mit Jesus gemeinsam hoffnungslos sein.
 
Und ich bin versucht, dich loszulassen, Gott. Dem ganzen Leid nachzugeben – einzuknicken, weil ich dich nicht verstehe. Ich bin versucht, den Glauben an dich aufzugeben, Gott. Ich bin versucht, dich aufzugeben, Gott!
 
Aber du gibst mich nicht auf. 
Ich zweifle an dir, Gott, aber du nicht an mir. Du sprichst zum Satan, dem personifizierten Bösen, dem Symbol für das, was Leid verursacht, dem Widersacher – du sprichst zu ihm: „Versuch es doch! Versuch doch, mich von meinenMenschen zu trennen! Selbst wenn du sie leiden lässt – wenn du sie schlägst, krank machst – sogar, wenn du sie tötest: Ich gebe sie nicht auf! Und auch wenn sie zweifeln, wenn sie ihren ganzen Kummer, ihren ganzen Frust vor mir hinwerfen: Ich lasse sie nicht los!“
Gott, du hältst an uns fest – hältst an mir fest.
 
So weit mein Gespräch mit Gott.
 
Gott hält an uns fest. Manchmal kann ich das vor lauter Leid und Bitterkeit nicht sehen, nicht verstehen, nicht glauben.
Aber vielleicht kann es dann jemand von Ihnen und euch für mich sehen. Oder umgekehrt. Zumindest so lange, wie ich es nicht sehen kann.
Dann kann jemand für mich die Gewissheit haben: Gott gibt dich nicht auf. Gott hält an dir fest – und es wird weitergehen.
Versprochen.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.
 
-Wir singen die dritte Strophe (EG 382,3)-
Sprich du das Wort, das tröstet und befreit Und das mich führt in deinen großen Frieden / Schließ auf das Land, das keine Grenzen kennt, 
Und lass mich unter deinen Kindern leben 
Sei du mein täglich Brot, so wahr du lebst 
Du bist mein Atem, wenn ich zu dir bete.

Gott, der Versucher und ich. Predigt zu Hiob 2,1-13 am 26. Februar 2023 (Invocavit) von Paul Wingberg

Predigttext aus Hiob 2

Gott, der Versucher und ich. Predigt zu Hiob 2,1-13 am 26. Februar 2023 (Invocavit) von Paul Wingberg

Predigt Teil 1

Gott, der Versucher und ich. Predigt zu Hiob 2,1-13 am 26. Februar 2023 (Invocavit) von Paul Wingberg

Predigt Teil 2

Der Bogen der Starken wird zerbrochen - Predigt zu 1. Samuel 1,1-11 (Predigtreihe 22.1.-19.2.2023) von Charlotte Scheller

Mit den Kindern ist es so eine Sache. Sie sind lang ersehnt oder kommen unverhofft. Sie werden im Bauch der Mutter getragen. Unter dem Herzen. Mit Freuden erwartet oder voll Sorge. Mit Schmerzen und voller Kraft geboren. Und dann beginnt es schon, das Loslassen. Wer selbst Kinder hat, weiß das. Und alle anderen auch. Jeder und jede von uns ist schließlich Kind gewesen und groß geworden. Hat das Loslassen erfahren und das Losgelassenwerden. Schleichend oder schmerzhaft oder befreiend. Oder alles zusammen. 

1 Hannas Geschichte
Vom Kinderkriegen und Loslassen handelt Hannas Geschichte. Sie muss ihren Sohn Samuel hergeben. Er ist noch nicht groß geworden. Kaum hat sie ihn geboren, kaum kann er laufen und reden und die ersten klugen Fragen stellen, muss sie ihn hergeben.  
Eine Frauengeschichte. Hanna hat sich jahrelang nach einem Kind gesehnt. Und im Stillen viele Tränen vergossen. An den Feiertagen war es besonders schlimm. Wenn die ganze Familie zum Tempel hochging, um Gott ein Dankopfer zu bringen. Wenn die Frauen kein anderes Thema kannten als ihre Kinder. Sie waren Sinn und Erfüllung ihres Daseins. Kinder bedeuten Zukunft. 

Das Essen blieb Hanna im Hals stecken. Die Tränen liefen, sie konnte nichts dagegen machen. Hanna, sagte ihr Mann. Hanna, warum willst du nichts essen? Warum ist dir das Herz so schwer? Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Söhne?  

Dann nimmt Hanna ihr Herz in die Hand. Sie steht auf, stellt sich in die Tür des Tempels. Klagt dem Ewigen, dem Herrn im Himmel ihr ganzes Leid. Ach Gott, Herr Zebaot! Sieh, wie elend es mir geht. Denk doch an mich. Schenk mir einen Sohn. Ich bin deine Dienerin, Herr der Heerscharen. Das Kind, das du mir schenkst, soll dir auch dienen. Sein ganzes Leben lang. Ach Gott! Sie betet lange. Zuletzt redet sie mit dem Priester, Eli. Der sitzt an der Tür und dachte, sie ist betrunken. Nein, mein Herr, sagt Hanna. Ich habe die ganze Zeit nur gebetet, weil ich Kummer habe und verzweifelt bin. – Geh in Frieden, sagt Eli. Der Gott Israels wird dir geben, worum du gebeten hast. – Amen, kommt es von Hanna. Sei so gut und denk an mich! Dann ist sie gegangen. Zurück zur langen Tafel. Sie hatte Hunger und in ihr Gesicht hatte sich ganz leise ein Lächeln geschlichen. 

Jetzt ist sie hier, um das Versprechen einzulösen. Drei Jahre ist sie zu Hause geblieben. Jetzt ist der Kleine abgestillt. Hanna ist zum Tempel gekommen. Mit dem kleinen Jungen an der Hand. 

Verzeihung, sagt sie zu Eli, dem alten Priester. Bei meinem Leben. Ich bin die Frau, die damals hier neben dir gestanden und gebetet hat. Ich hab um diesen Jungen hier gebetet. Er heißt Samuel, das heißt Von-Gott-erbeten. Ich hab ihn nicht nur für mich erbeten. Auch für Gott. Er soll Gott dienen, sein ganzes Leben lang.  

Hanna ist stark. Sie traut sich, ihr Kind loszulassen. Sie traut Samuel zu, ein Diener Gottes zu werden. Sie traut Eli zu, für Samuel zu sorgen und seine besondere Begabung zu erkennen. Sie vertraut Gott.  

2 Hannas Lied vom Frieden
Hanna singt. Der ihre Geschichte aufbewahrt hat im ersten Buch Samuel, legt ihr einen Psalm in den Mund. Ein leidenschaftliches Lied. Damals hat ihr der Kummer die Kehle zugeschnürt. Nun lässt das Glück ihr den Mund übergehen. Über die Feinde, die ihr das Leben schwer gemacht haben, Menschen um sie herum und dunkle Gedanken in ihr drinnen, über diese Feinde lacht sie jetzt. Mein Herz ist voll Freude über den Herrn. Der Herr hat mich wieder stark gemacht. 

Damals hat sie ihren Kummer zu Gott getragen. Jetzt ist sie wieder zu Gott gekommen mit ihrem Dank. Sie hat mit Leib und Seele erlebt, dass Gott es gut meint mit ihr. Sie hat sich und ihr Kind in den Dienst des Höchsten gestellt. Größer geht es nicht. Gott steht fest wie ein Fels. Er hat die Säulen der Erde gebaut und die Welt darauf gegründet. Der Höchste hat das Licht von der Finsternis getrennt und Gutes von Bösem unterschieden. Er hat gezeigt, wohin die Reise geht. Gott führt ins Totenreich und wieder heraus.

Gott hat Hanna ein Kind geschenkt und eine Zukunft eröffnet. Nun singt sie von der Zukunft, die Gott für alle seine Kinder bereithält. Und für die ganze Welt. Ungerechtigkeit und Unterdrückung werden nicht ewig andauern. Der Höchste wird alles umkrempeln. Das Unterste wird nach oben geholt. Gott wird die Verachteten ins rechte Licht rücken. Er wird die Armen aus dem Dreck holen. Er wird sie mit den Herrschenden an einen Tisch setzen und dafür sorgen, dass man sie mit Würde behandelt. Die Hungernden werden satt und die Übersättigten werden sich ihr Brot selbst verdienen müssen. Wer nach Gottes Willen fragt, wird sicher auftreten. Wer gottlos handelt, wer das Leben anderer gering schätzt, wer selbst den Herrn spielen will über das Leben seiner Untergebenen, auf den wartet der ewige Tod. Der Bogen der Starken wird zerbrochen. Denn Gott allein tötet und macht wieder lebendig. Der Herr der Heerscharen entwaffnet die Kriegsherren. Er schickt einen König, der Gerechtigkeit und Frieden bringt. Einen Retter, der seine Kraft vom Höchsten kriegt.  
 
Hanna singt aus vollem Herzen. Sie singt von der Hoffnung, die aus dem Glauben kommt. Nicht bloß ihr eigener Glaube. Der Glaube ihrer Vorfahren klingt in dem Lied. Die Gebete, die sie von ihrer Mutter gelernt hat. Die Geschichten, die ihr Vater erzählt hat. Die Lieder der Freundinnen. Das Auf und Ab der Geschichte ihres Volkes. So singen wir auch. Im Singen verbinden sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Für einen Moment erfahren wir Frieden. Bekennen unsere Hoffnung, unseren Glauben, unseren Zweifel. Leihen uns die alten und neuen Lieder. Legen unsere Klagen in sie hinein. Geben der Sehnsucht Worte und Ton. Wagen ein Lob. Wir bleiben nicht allein bei uns. Bleiben nicht stehen in der Welt, wie sie jetzt ist. Mit den ungerechten Verhältnissen, in die wir verstrickt sind. Mit den Kriegen, die uns unheimlich nahe gerückt sind. Mit den Unstimmigkeiten in unserem persönlichen Dasein. Im Singen lassen wir die Verzagtheit hinter uns. Die Müdigkeit. Die Zweifel. Wir lassen uns aufrichten. Lassen die Hoffnung wieder herein, dass es noch mehr als alles gibt. Dass Gottes Reich kommt und Frieden wird auf Erden.  
 
3 Versöhnung in dieser Welt
„Ich glaube an Gottes Verheißung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, wo Gerechtigkeit und Frieden sich küssen. Ich glaube an die Schönheit des Einfachen, an die Liebe mit offenen Händen, an den Frieden auf Erden“. So heißt es schon 1990 im Friedensbekenntnis der Ökumenischen Versammlung von Seoul. Keine fromme Lyrik. Das Bekenntnis von Christinnen und Christen aus Afrika, Asien, Europa, 

Lateinamerika, Nordamerika, dem Nahen Osten, aus der Karibik und dem Pazifik ist politisch. Wie Hannas Psalm. Aus der Sehnsucht nach Frieden, aus der Hoffnung, dass Gottes Verheißung Wirklichkeit wird und die Niedergedrückten aufrichtet, wächst mutiges Handeln.  

Ich habe von einer jungen Frau gehört. Sie ist aus einem afrikanischen Land nach Göttingen gekommen. Am Groner Tor fand sie eine Unterkunft. In einem der Hochhäuser, die in einer Mischung aus Verachtung und Mitleid „Bunker“ genannt werden. Nach einigen Monaten konnte sie ausziehen. Aber sie ist in Verbindung geblieben mit den Menschen dort. Ihre Kirche ist ganz in der Nähe. Samstags bietet die Frau dort eine Kinderstunde an. Spiele. Etwas zu trinken, ein kleiner Imbiss. Eine Geschichte aus der Kinderbibel. Wenn die Kinder nicht von allein kommen, geht sie in das Hochhaus. Wandert über die Flure. Klopft an die Türen der winzigen Wohnungen. Redet mit Händen und Füßen. Lädt ein, geleitet die Kinder ins Gemeindehaus und wieder zurück in die Unterkunft. Die meisten sprechen Romanes. Ob sie die Bibel-Geschichte verstanden haben, ist nicht sicher. Aber sicher ist, sie sind einer mutigen Frau begegnet. Sie wagt etwas Ungewöhnliches. Sie bezeugt Gottes Barmherzigkeit und lebt den Frieden, der von Gott kommt.  

Vereinzelt können wir sie wahrnehmen, die Friedensmomente. Ich seh sie als Gottesgeschenk. Sie lassen aufatmen, machen Mut, vertreiben Tränen, locken ein Lächeln hervor. Wenn ein Kindergartenkind aus der Ukraine, ins Spiel versunken, die verstörenden Erlebnisse für ein Weilchen vergisst. Wenn eine Organisation junger Christ*innen Freiwillige in die ukrainische Stadt Dnipro schickt, und jetzt auch in die Erdbebengebiete in der Türkei und in Syrien, damit sie Hilfsgüter verteilen, bei Evakuierungen helfen und sich um Kinder kümmern, die nicht zur Schule können. Wenn ihre Eltern sie loslassen und für ihren Dienst segnen. Wenn andere sie mit Spenden und Gebet unterstützen. Wenn nach der Andacht im Christophorushaus eine Teilnehmerin mich einfach mal umarmt und mir einen Kuss auf die Wange drückt. Wenn wir in der Gemeinde oder der Region zusammensitzen, eine bunt gewürfelte Schar, jede mit ihren eigenen Ängsten und Hoffnungen, mit Glauben und Zweifeln, und der Raum von Gesprächen summt. Dann ist es Zeit, sich über Gottes Hilfe zu freuen. Er wird uns stark machen zum Frieden. Amen.  

Der Bogen der Starken wird zerbrochen - Predigt zu 1. Samuel 1,1-11 von Charlotte Scheller

zur Predigtreihe "Friedensbilder" Januar/Februar 2023 von Charlotte Scheller

Hast du schon mal Gott gesehen? Predigt am 15. Januar 2023 von Annika Weise

zu 2. Mose 33,18-23
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“, fragte mich Matteo, mein vierjähriges Babysitter-Kind und schaute mich dabei mit großen Augen an. Erwartungsvoll und ein wenig herausfordernd.
 
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Was soll ich antworten? Was würden Sie antworten? Natürlich muss ich Nein sagen. Ich muss Matteo enttäuschen – und alle anderen, die von einer angehenden Pastorin erwarten, dass sie über geheime Einsichten und Offenbarungen verfügt. Das tut sie aber nicht.
 
Allerdings: So ganz wohl ist es mir mit dem Nein auch nicht: Denn natürlich habe ich Erfahrungen mit Gott – nur nicht solche, die das Wort „Sehen“ im wörtlichen Sinne rechtfertigen. Wie soll ich darüber reden?
 
Wo es keine leichten Antworten gibt, wo weder Ja noch Nein so ganz richtig sind – da erzählt die Bibel Geschichten. Kaum einer ist in der Bibel Gott derart nahegekommen wie Mose im Sinai. Hören wir heute seine Geschichte – aus dem zweiten Buch Mose, Kapitel 33, 18-23:
 
Der Herr sprach zu Mose: Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen. Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen den Namen des HERRN vor dir: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.
 
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Ganz sicher kannte Mose diese Frage auch. Zumal alle wussten: Mose redet mit Gott. Regelmäßig. Er ist auf den heiligen Berg Horeb gestiegen. Er war drin in der Wolke, näher dran als sonst irgendeiner. Natürlich hat er Gott gesehen –wenn nicht er, wer dann?
 
Und doch kann Mose auf die Frage nicht ehrlich mit Ja antworten. Und das setzt ihm zu. Der Widerstand im Volk wächst. Seine Autorität ist umstritten. Je umstrittener die Wahrheit ist, für die man eintritt, umso dringender wünschte man etwas Unabweisbares in der Hand zu haben. Etwas, worüber nicht mehr argumentiert und gestritten werden muss.
 
Auch als Studierende wünschte ich manchmal, die Sache mit Gott wäre klarer, augenscheinlicher. Wir könnten die Zweifler und Spötter einfach widerlegen. 
 
Immerhin: Mose hat den Draht zu Gott. Er wendet sich direkt an ihn mit seinem Anliegen. Die Fragen der Anderen vermischen sich darin mit seinem eigenen Zweifel. Wir belauschen eine Art Backstage-Gespräch zwischen Gott und Mose, das große Vertrautheit belegt, aber eben auch eine letzte Reserve. Gott sagt dem Mose die schönsten und aufmunterndsten Dinge, die man sich denken kann: „Du hast Gnade bei mir gefunden.“ „Ich kenne deinen Namen.“
 
Doch diese Zusagen reichen Mose nicht. Er will mehr. Und so entsteht aus dem merkwürdigen Dialog eine noch merkwürdigere Szene – eine Art Versuchsanordnung, die Gott selbst vorschlägt. Die Szene liest sich wie ein Gleichnis für die menschliche Gotteserfahrung.
 
Der Mensch Mose soll sich in eine Felsspalte stellen. Da wird er sicher sein, geschützt vor der Urgewalt der göttlichen Präsenz. Der sichere Ort ist aber auch ein Ort beschränkter Sicht. Und die Deckung reicht noch nicht einmal – wenn Gott dann tatsächlich draußen vorbeigeht, sollen Mose die Augen zugehalten werden. Gott selbst hält Mose die Augen zu. Die Heiligkeit Gottes blendet wie das Sonnenlicht, in das man nicht ungeschützt schauen kann, ohne zu erblinden. Erst nachdem Gott vorbeigegangen ist, darf der Mensch Mose ihn von hinten sehen: im Weggehen und im Nachlassen seiner göttlichen Kraft.
 
Was für ein Bild! Gott ist für den Menschen einfach zu viel, jedenfalls Gott direkt, Gott in seiner Herrlichkeit. Darüber darf die Menschlichkeit Gottes in der Bibel nicht hinwegtäuschen: Es bleibt ein „unendlicher qualitativer Unterschied“ zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie der Theologe Karl Barth das genannt hat. Wenn Gott Gott ist, dann kann ihn kein Mensch fassen.
 
Was für ein Gedanke! Dass wir Gott im Moment seiner größten Nähe am wenigsten erkennen können. Es ist ein Paradox, das an vielen Stellen der Bibel anklingt, nicht zuletzt im Kreuz Jesu. Da, wo das Rätsel unseres Lebens besonders groß ist, wo uns die Fragen quälen, wo Dunkel uns umgibt – da werden uns womöglich nur die Augen zugehalten und Gott ist gerade nahe. Ohne dass wir ihn „sehen“. Ohne dass wir verstehen, was mit uns geschieht.
Mose macht eine Erfahrung an der Grenze. Nicht an Gottes Grenze. Nein, die Begegnung mit Gott konfrontiert ihn mit seiner eigenen Beschränktheit und Verwundbarkeit.
 
Darüber reden wir in der Kirche kaum. Wir reden über Gottes Freundlichkeit und Zugänglichkeit – zu Recht, denn beides erfährt Mose auch in dieser Geschichte. Aber wir reden selten über die Grenze, die uns Menschen gesetzt ist. Über die Fremdheit und Unverfügbarkeit Gottes. Darüber, dass wir Menschen Gott nur in Maßen „aushalten“. Wir vertragen die Wahrheit vorerst nur dosiert. In Abschattungen und Annäherungen.
 
Die gute Nachricht dieser Geschichte ist: Wir können Gott trotzdem erkennen. Der Prozess der Begegnung mit Gott wird hier sogar ziemlich genau beschrieben. In vier Schritten – und von Gott selbst.
 
"Zuerst – sagt Gott – will ich vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen“.
Damit beginnt es: Ich nehme Spuren wahr in meinem Leben. Ich realisiere dankbar und fröhlich, was mir an Gutem widerfährt.
 
Als zweites – sagt Gott – „will ich ausrufen den Namen des Herrn vor dir.“
Irgendwann haben wir von Gott gehört. Manche von Kindesbeinen an, manche erst viel später. Wir haben den Namen Gottes kennengelernt, und das heißt: die Geschichten, die Botschaft, die Zusagen, die sich mit diesem Namen verbinden. Mag sein, dass wir das Gehörte und das selbst Erlebte nur schwer zusammen bekommen haben. Dafür braucht es Zeit – und Abstand.
 
Denn es kann passieren – sagt Gott als drittes –, dass „ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten“ werde.
Das Nicht-Verstehen und Zweifeln kann ein notwendiger Teil der Begegnung mit Gott sein. Und alle, die zu schnell wissen, wer Gott ist und was Gott will, die machen sich womöglich etwas vor.
 
"Schließlich aber – sagt Gott – will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen“. 
Nach einer Weile macht es Klick. Was wir erlebt haben und was wir von Anderen hören, reimt sich zusammen. Wir erkennen uns und unser Leben in Gottes Licht – oft erst im Nachhinein. „Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, hat der Philosoph Sören Kierkegaard gesagt. Das gilt für Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis gleichermaßen. Wir sehen Gott gleichsam im Rückspiegel. Wir „haben“ die Wahrheit nie, sondern blicken ihr nach. Wir dürfen verstehen – aber nur so, dass wir uns nicht überheben.
 
„Hast Du Gott schon mal gesehen?“ Wenn diese Frage Ihnen gestellt wird, liebe Gemeinde, dann ermutige ich Sie, nicht einfach Nein zu sagen.
Dann erzählen Sie von den Spuren der Güte Gottes in Ihrem Leben.
Dann berichten Sie vom Namen Gottes, den andere Ihnen vorgesprochen haben. Dann reden Sie ehrlich über Unsicherheit und Zweifel.
Und vielleicht können Sie bezeugen, wie sich im Rückblick so manches zusammenfügte. Wie Ihre eigene Geschichte Sie auf den unsichtbaren Gott vertrauen lässt.
 
Denn sehen können wir Gott nicht. Aber erfahren lässt er sich sehr wohl und wir können uns sicher sein, dass er uns sieht. Amen.

Du, Gott, siehst nach mir. Predigt zur Jahreslosung 2023

von Charlotte Scheller

Du, Gott, siehst nach mir. Predigt zur Jahreslosung 2023

aus Genesis 16 von Charlotte Scheller

Hagar ist in der Wüste. Sie ist weggelaufen. Da, wo sie herkommt, ist es nicht mehr auszuhalten. Wohin? Sie weiß es nicht. Sie ist schwanger, ihr Herr hat mit ihr geschlafen. Ein Vorschlag ihrer Herrin Sarai. Die konnte nicht länger untätig bleiben. Zu lange hat sie schon gewartet, dass sich Gottes Versprechen erfüllt. Abram soll Ab-Raham werden. Vater von Vielen. Mit Nachkommen, zahlreich wie die Sterne am klaren Himmel. Begründer eines großen Stammes. Aber sie, Sarai, kann keine Kinder kriegen. Jedenfalls ist sie nicht schwanger geworden all die Jahre. Damit ist ihr Dasein unnütz. Unfruchtbar ihr ganzes Leben, ohne Zukunft, so ist es nun mal. Abram ist alt geworden, genau wie Sarai. Klug ist sie, die Herrin, führt ihrem Mann die Sklavin Hagar zu, damit sie ein Kind austrägt. Einen Sohn. Wenn sie ihn auf Sarais Schoß gebärt, ist er ihr Kind. 
 
Immerhin. Nebenfrau, Geliebte des Chefs, ist besser als Sklavin. Mit dem Kind im Leib, mit der guten Hoffnung, hat Hagar Macht gewonnen. Sie ist jung. Sie ist schön. Vor allem aber: Sie trägt Abrams Kind. Die Zukunft der Familie. Gottes Versprechen, es liegt in ihr. Hagar ist nicht mehr die Behandelte, nicht mehr bloß Besitz, jetzt handelt sie selbst. Sie lässt Sarai, die Herrin, ihre Verachtung spüren. Du, Sarai, hast die Fäden ziehen wollen. Hast, da der Allmächtige sich so lange Zeit gelassen hat, nachhelfen wollen und selbst etwas unternommen, damit die göttliche Verheißung wahr wird. Dein Plan geht nicht auf. Tja.
 
Sarai beklagt sich bei ihrem Mann. Abram zuckt die Achseln. Deine Magd. Mach mit ihr, was du willst. Sarai will, dass es aufhört. Dass die Frau mit dem schwellenden Bauch ihr aus den Augen geht. Dass sie nicht dauernd sehen muss, was ihr nicht geschenkt wurde. Und wonach sie sich so glühend sehnt. Sarai hat Mittel und Wege, um ihrer Magd das Leben zur Hölle zu machen. Irgendwann ist Hagar alles egal. Der Herr. Das Kind in ihrem Bauch. Sie will nur noch weg. 
 
In der Wüste findet sie sich wieder. Am kalten Boden. Unter dem klaren Nachthimmel. An einem Wasserloch. Sie muss eingeschlafen sein. Jedenfalls ist da etwas. Ein Lichtschein. Eine Stimme, die sie aus wirren Träumen ruft. 
Hagar, du Magd Sarais, wo kommst du her? - Wohin ich nicht zurückkann. 
Wo gehst du hin? 
Hagar antwortet nicht. Aber sie horcht in die Stille hinein und hört sie wieder. Eine Stimme in der Wüste. Irgendeiner, der plötzlich da ist, ein Engel, eine Botin, von Gott geschickt. Geh zurück zu deiner Herrin. Ordne dich ihr unter. 
 
Ich kann nicht. Kapierst du das nicht? Aber der Engel, oder wer immer es ist, redet weiter. Ich mache deine Nachkommen so zahlreich, dass man sie nicht zählen kann. Du bist schwanger und wirst einen Sohn zur Welt bringen. Den sollst du Ismael nennen. Das bedeutet „Gott hat gehört“. Denn Gott hat dich gehört, als du ihm deine Not geklagt hast. Dein Sohn wird wie ein Wildesel. Trotzig wie du. Widerborstig. Rastlos. Voller Leben, genau wie du.
 
Hagar hat am Boden gekauert. Die Knie angezogen, die Arme um den Bauch geschlungen. Jetzt dreht sie sich auf die Seite. Stützt sich auf dem staubigen Untergrund ab. Setzt einen Fuß auf. Den zweiten. Richtet sich auf, strafft langsam den Rücken, legt die Hand auf den Bauch, hebt den Kopf zum Sternenhimmel. Zahlreich. Gott sieht nach mir. Das ist sein Name. Und so heißt ab jetzt auch der Brunnen. Beer-Lahai-Roi. Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. 
 
Gott sieht nach mir. Ich erfahre Fürsorge. Wie die Studentin, die mit Fieber im Bett liegt und der Mitbewohner sieht nach ihr. Brauchst du was? Soll ich dir was einkaufen? Eine Suppe warm machen? Tee kochen? 
 
Der nach Hagar sieht, schickt einen Boten. Der setzt ihr den Kopf zurecht. Geh zurück. Ordne dich unter. Nicht unter Sarai letztendlich, sondern unter Gottes Willen: Du sollst Leben schenken, sollst Teil der Familie bleiben, auch wenn eure Geschichte einer Seifenoper gleicht wie alle Familiengeschichten. Du bist die Stärkere. Weglaufen führt nirgendwo hin. Hagar geht zurück, aber sie ist eine andere. Sie geht zurück, weil das zu Gottes Plan gehört. Weil das Leben in ihr, der Wildesel, Schutz braucht. Weil Leben schenken und Lebendiges bewahren Kompromisse notwendig macht. Weil Gott sie gesehen hat und einen Boten geschickt, eine Freundin, ein Ja zu ihr. Nun muss sie nicht mehr auf Sarai herabsehen und auch sonst auf keinen. Ihre Kraft kommt von innen, von Gottes Aufmerksamkeit, davon, dass er ihr den Engel nachgeschickt hat. Der dich behütet, schläft noch schlummert nicht. Gott geht dich suchen. Auch Hanna wird davon singen, viel später, schwanger mit Samuel nach vielen Jahren der Sehnsucht. Gott hebt die Dürftige aus dem Staub. Samuel, auch sein Name bedeutet „Gott hat erhört“. Und Maria wird das Lied wieder aufnehmen. Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen, singt sie, schwanger mit Jesus, den sie Immanuel nennen soll, „Gott ist mit uns“. Gott sieht nach uns, Gott hört, wenn wir ihn rufen in unserer Not. Die Ewige hört auch unsere stummen Schreie.
 
In der Wüste kannst du Gott begegnen. In der Nacht, in der Kälte kannst du etwas vom Wasser des Lebens finden. Plötzlich ist ein Wort da, ein Lied, ein Freund, ein Ja zu dir. Ein Engel. Das ist nicht bloß ein Nothelfer. Ein Engel kann auch ein Kopfzurechtrücker sein. Eine, die dir sagt: Kehr um. Du rennst in die falsche Richtung. Du rennst immer mehr in die Wüste rein, rennst wie Hagar Richtung Schur, das heißt Mauer. Du rennst in eine Sackgasse, aber dein Platz ist da, wo du herkommst. 
 
Gott sieht nach mir. Gott ist eine Wasserquelle. Gott gibt Leben. Gibt einer Frau Macht, die vierfach untergeordnet ist: Frau, Ägypterin, Magd, schlecht Behandelte. Ihre Flucht misslingt, sie muss zurück in die Abhängigkeit und Fürsorge. Und ihr Sohn Ismael, „Gotthatgehört“, wird einmal heimatlos umherwandern. Aber gerade die Heimatlosen hört Gott. Die Unbehausten. Die Lebendige sieht alle, die in der Wüste sind durch eigene Schuld oder durch schlechte Behandlung. Der Herr im Himmel überlässt dich nicht deinem Schicksal, selbst wenn du nicht übel Lust hättest zu sterben. Gott sieht nach dir, schickt eine Botin, die macht Wadenwickel, kocht Hühnersuppe, misst Fieber, betet für dich, damit du wieder Kraft kriegst und dahin zurückgehen kannst, wo du gebraucht wirst. Damit, was du an Leben und Zukunft in dir trägst, beschützt wird und eines Tages herauskommt. 
 
Zum Schluss nehmen wir uns einen Moment zum Nachdenken. 
 
Wenn mich heute Nacht ein Engel aufspürt oder eine, die Gott schickt, mich beim Vornamen nennt und mich fragt: Woher? Wohin? - was werde ich antworten? 
Was verbirgt sich in mir an Lebendigem und will ans Licht kommen? 
... ... ... 
 
Gott sieht nach mir. Jedem seiner Kinder geht er nach. Er sucht uns, wie der Hirte das verlorene Schaf sucht, bis er es findet und nach Hause trägt. Er macht stark, was an Gutem heranwachsen will in uns. Er gibt sein Leben für uns. Geht mit durch die Wüste, durch die Hölle des Todes, ins Leben. Der Hüter Israels schläft und schlummert nicht. Er behütet dein Weggehen und dein Wiederkommen. Jetzt und immer. Amen. 

Krippenspiel zum Hören und Predigt

Das Lied der bunten Vögel, Predigt zum 4. Advent 2022 von Johanna Bierwirth

In Ghana gehen die Kinder an Weihnachten von Haus zu Haus und singen das Lied von den bunten Vögeln. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg und für alle ist es ein großer Spaß, denn sie bekommen für ihren Gesang Süßigkeiten. Das Lied von den bunten Vögeln handelt von folgender Geschichte:

 

In einem Wald lebten fünf Vögel nahe beieinander. Der eine hatte weiße Federn, so weiß wie die Wolken am Himmel. Der zweite hatte flammend rote Federn, so rot wie die Blüten der Jacaranda Bäume. Der dritte hatte ein tiefblaues Gefieder, so blau wie der Himmel über Ghana. Der vierte hatte gelbe Federn, so leuchtend gelb wie die saftigsten Zitronen an den Bäumen. Und der fünfte hatte grüne Federn, so grün wie die Blätter im Wald. Auf der Suche nach Essen, so erzählen die Alten, entdeckten die Vögel, dass mit ihnen im Wald ein alter Mann lebte. Er sei, so hieß es, sehr großzügig. Also spannten die fünf prächtigen Vögel ihre Flügel aus und machten sich auf dem Weg zu ihm. Als sie von oben sein Häuschen entdeckten, stimmten sie ihren Kanon an: „Tse Tse Kule“ sangen die einen, „Tse Tse Kunsa“ die anderen, immer im Wechsel und immer schneller. Es klang als würde ein fröhlicher, vielstimmiger Chor durch die Luft tanzen. „Wir sind Geschwister, keiner kann uns trennen, einer für alle und alle für einen.“ Der alte Mann war hingerissen von dem Gesang und überhäufte die gefiederten Freunde mit dem besten Futter. So kamen sie jeden Morgen bei Tagesanbruch wieder und ernteten als Dank für ihren betörenden Gesang reichlich zu fressen. Doch irgendwann kam dem Vogel mit den weißen Federn der Gedanke: "Wenn ich früher als die anderen da bin und alleine singe, bekomme ich die köstlichsten Körner für mich alleine." Als gerade die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont strichen, flog der weiße Vogel allein los. Als er zur Hütte kam, stimmte er sein Tse tse an, es war kein vielstimmiges, fröhliches Lied, sondern nur ein einstimmiges tse, tse. Der alte Mann stürmte nach draußen, um zu sehen, wer den Lärm veranstaltete. Er erkannte den einsamen weißen Vogel nicht wieder und verscheuchte ihn. Nur kurz darauf kam der rote Vogel und stimmte sein einsames Lied an. Dann kam der blaue, der gelbe und der grüne Vogel, jeder versuchte für sich allein mit seiner Kunst den Alten zu betören und jeder wurde von dem Alten fortgejagt. Betrübt flogen sie zurück zu ihren Nestern, es dauerte eine Weile, bis der weiße Vogel von seinem Misserfolg erzählte, dann berichteten auch die anderen von ihrem missratenen Versuch. Erst herrschte betretenes Schweigen, dann mussten alle lachen, weil sie so töricht gewesen waren. Die Fünf beschlossen, künftig nur noch gemeinsam zu singen. Sie machten sich auf zu dem alten Mann, schließlich hatten alle lange nichts gegessen und waren sehr hungrig. Der Alte freute sich schon, als er die fünf prächtigen Vögel kommen sah. Er berichtete ihnen von den „komischen Vögeln“, die über seiner Hütte aufgetaucht waren und so gelärmt hatten. So schön wie an diesem Abend hatten die fünf Freunde noch nie gesungen, sie waren wieder vereint.

 

Im 4. Kapitel des Philipperbriefes stehen folgende Zeilen: 

Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch! Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe! Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen lasst eure Bitten in Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden! Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

 

Ein Satz, den wir jeden Sonntag hier im Gottesdienst hören. Hier in Christophorus hören wir ihn immer nach den Abkündigungen. Wenn berichtet wird, was unsere Gemeinde vorhat, wann sie sich treffen wird und für was wir Spenden sammeln. Zusammensein, füreinander Dasein, Bitten und Geben. Ich glaube, da ist er ein Stück da, der Friede Gottes. Dieser Friede, auf Hebräisch Schalom, ist nicht die Abwesenheit von Krieg. Sondern Friede meint hier die Gemeinschaft untereinander und mit Gott. Ich spüre diese Gemeinschaft ganz besonders im Weihnachtsgottesdienst. Da ist das für mich ganz präsent, deswegen freue ich mich auch so auf Weihnachten. Und das sagt auch Paulus im Brief an die Philipper: Freut euch! Freut euch, wenn ihr etwas vom Frieden Gottes spürt! Er fordert die Gemeinde auf, nicht für sich selbst zu sorgen, sondern füreinander. Und das in dem Wissen, dass Gott auch für diesen Frieden sorgt. Ein fröhliches Sorgen, ein beherztes sich Kümmern. Kein Sorgen, das einengt und Angst macht. Sondern ein Sorgen mit Mut und Liebe und der Gewissheit, dass Gott da ist.

In der Geschichte von den bunten Vögeln kommt mir dieser Gedanke nahe. Zusammen singen sie und bekommen ihr Futter. Alles scheint gut zu sein. Aber dann merkt einer: Ach, es wäre doch viel vernünftiger, ich würde allein singen und das Futter nur für mich haben. Aber einer allein kommt nicht weit. Im Gegenteil: Sie fliegen hungrig nach Hause. Aber wenn die bunten Vögel zusammen bleiben und als Gemeinschaft füreinander sorgen und miteinander singen, dann entsteht etwas Wunderbares: Der Friede Gottes wird für mich in dieser Geschichte sichtbar. Und dass Friede manchmal nicht vernünftig ist. Zumindest das, was wir oft unter Vernunft verstehen. Der Friede Gottes ist aber höher als die menschliche Vernunft. Daran müssen die Vögel erst erinnert werden. Der Friede Gottes fällt nicht einfach so vom Himmel. Der Friede möchte auch empfangen werden. Die Vögel merken plötzlich: Als wir zusammen gesungen haben, war es schöner. Und sie freuen sich, dass sie wieder zusammen sind. Und auf einmal ist der Friede wieder da.

Ich weiß aber auch, dass nicht alles gelingt, und sorgen wir noch so beherzt füreinander. In der großen weiten Welt gibt es Hunger und Krieg, auch wenn wir an Weihnachten mit Spenden und Gebeten viel für andere sorgen. Und auch hier in der Gemeinde finden sich viele helfende Hände, aber nicht alle sind versorgt. Ist der Friede Gottes also gar nicht da? Nur ein frommer Wunsch einer Predigerin?

Doch, er ist da. Den Frieden Gottes kann man nicht als etwas denken, was es nur ganz oder gar nicht gibt. Denn ich spüre ja, dass es Frieden hier auf der Erde gibt. Ich nehme aber auch so viel um mich herum wahr, was man ganz und gar nicht als Frieden bezeichnen kann. Hier in dieser Welt ist der Friede noch am Keimen. Ich glaube daran, dass der Friede Gottes ganz und gar da sein wird, wenn wir in Gottes Reich sein werden. Bis dahin aber suche ich den Frieden hier auf der Erde. Ich glaube, der Friede Gottes kann auch ganz klein und ganz kurz da sein. In kleinen Gesten, in kleinen Taten, in kleiner Hilfsbereitschaft. Und das selbst an den kältesten und dunkelsten Orten. Ein Teelicht hat auch nur eine kleine Flamme, aber in einem völlig dunklem Raum sieht es jede und jeder. 

Ich freue mich darauf, an Weihnachten etwas von dem Frieden Gottes zu suchen und zu entdecken.

Das Lied der bunten Vögel, Predigt zum 4. Advent 2022 von Johanna Bierwirth

Klopfzeichen. Predigt am 1. Advent 2022 von Charlotte Scheller

zu Offenbarung 3,14-20

Klopfzeichen. Predigt am Ersten Advent 2022 von Charlotte Scheller

zu Offenbarung 3,14-20 (Text unter der Predigt)

Klopfzeichen. Tack! Tack-tack-tack! 
Angespanntes Horchen, dann verhaltener Jubel: „Sie haben zurückgeklopft, es muss jemand am Leben sein, wir machen weiter, wir holen sie raus!“ Die Stimme des Leiters der Rettungskräfte. Und weiter: „Ist jemand verletzt? Bitte antworten!“- „Alle wohlauf“, ist aus der Tiefe zu hören. – „Wollt ihr irgendwas Besonderes zum Essen haben?“ – „Eine Zigarette, wenn‘s geht“. Lengede, Sonntag, 27. Oktober 1963, siebzehn Uhr zwölf, drei Tage nach dem Grubenunglück. 79 Kumpel konnten sich retten, bis jetzt sind 29 Tote zu beklagen. Wider besseres Wissen hat die Grubenleitung weiter bohren lassen. Die Klopfzeichen bedeuten: Die Verschütteten leben, zumindest die drei da unten. Bundeskanzler Erhard kommt, ein Telefon wird zu den Eingeschlossenen hinuntergelassen. „Ich habe gute Nachrichten hier oben gehört“, sagt er ihnen, „alle Deutschen sind mit Ihnen verbunden in der Zuversicht, dass Sie wieder das Licht des Tages erblicken werden“. Eine Zigarette gibt es vorerst nicht, aber Essen und Trinken werden den Erschöpften geschickt. Sie müssen weiter aushalten, viele Meter unter der Erde, in Dunkelheit, Nässe und Kälte, noch fünf Tage, bevor sie aus der Tiefe geborgen werden können. Später werden elf weitere Überlebende gerettet.
 
Klopfzeichen. An der Kirche von Laodizea. Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Laodizea ist eine reiche Stadt im Westen der heutigen Türkei. Bekannt durch ihr Bankwesen, ihren Wollhandel, die Ärzteschule. In der Augenheilkunde mischt man eine Salbe mit Quellwasser und Kräutern. In der Gemeinde pflegt man Glauben und Wohltätigkeit. Hier kannst du Christ sein, aber unauffällig, gerade so, dass es nicht peinlich ist. Weil du aber lau bist, lautet die Botschaft des Klopfenden, weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Wärst du bloß eindeutig, richtig kalt oder richtig heiß! Lauwarmes Salzwasser ist ein Brechmittel. Eure Haltung, liebe Christinnen in Laodizea, ist zum Kotzen. 
 
Harte Worte. Ein Blauer Brief. Absender Johannes. Er schickt Nachrichten vom Retter, Jesus Christus, von dem, der Amen heißt. Amen, das bedeutet: Das Gesagte ist wahr, sicher und verlässlich. Was geredet und was getan wird, sind ein und dasselbe. Nichts ist hinzuzufügen. Wie rettet Jesus? Mit seinem Wort, scharf wie ein zweischneidiges Schwert. Mit seinem Blick aus Augen wie Feuerflammen. 
 
Wieso rettet er überhaupt? Du sagst, steht in dem Blauen Brief, Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts! Ich bin in keiner Tiefe, bin nicht verschüttet, habe weder Hunger noch Durst, muss nicht um mein Leben fürchten und um keine Zigarette betteln. Gott sei Dank brauchen wir keinen Retter, wir bilden brav eine Rettungsgasse, wenn der Notarztwagen Richtung Uniklinik unterwegs ist, wir beten für die, die in Not sind, wir spenden, was wir können, trinken fair gehandelten Kaffee und sind froh, dass wir über die Runden kommen. Wir haben alles im Griff. Du sagst, ich brauche nichts, lässt er uns sagen, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß. Sind wir noch zu retten?
 
Tack! Tack-tack-tack! Noch ist Zeit. Er steht vor der Tür und klopft. Weil er uns lieb hat, weist er uns zurecht. Auch wenn es wehtut. Wie es nur eine gute Freundin tun darf, dir sagen, wo du richtig daneben liegst. Wie es nur ein liebevoller Vater darf oder ein treuer Mentor, dich auf den blinden Fleck in deiner Wahrnehmung aufmerksam machen. Hier, nimm die Augensalbe, dann siehst du klarer. Tack-tack. Soll ich aufmachen? 
 
Wenn er denn etwas hat, das ich mir selbst nicht geben kann. Ich bin ja hergekommen, weil ich von ihm was wissen will. Weil ich doch irgendwie auf Rettung warte, weil ich auf meine ganz eigene Art im Dunkeln hocke, in Nässe und Kälte und Todesangst, selbst wenn ich es warm und trocken habe. Ich warte. Er sagt, durch die noch geschlossene Tür hindurch sagt er: Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 
 
Er hat Gold, das im Feuer geläutert ist. Das ist etwas anderes als das, was man sich kaufen kann, wenn man denn Geld hat. Musik in Molltönen, die Tiefe erwächst aus der Klage. Eine Freundschaft, die lange besteht und manchen Streit überdauert hat. Eine Partnerschaft, die Höhen und Tiefen erlebt und gehalten hat. Eine Gemeinde, die sich immer wieder neu zusammenfindet und es schafft, für die Leute vor der Tür da zu sein. 
 
Er hat weiße Kleider, um die Scham zu bedecken. Ich darf die weißen Sachen anziehen. Die Erinnerung: Du bist getauft. Schon längst gerettet. Aus den dunklen Gedanken herausgezogen, aus den Versagensängsten und Schuldgefühlen, aus der nasskalten tiefen Nacht. Vor Gott muss ich nicht verstecken, wofür ich mich in Grund und Boden schäme. Ich kann die Tür aufmachen, mich zeigen, wie ich bin, und mich von ihm in den Arm nehmen lassen mitsamt meiner Unzulänglichkeit. 
 
Er hat Augensalbe, damit du sehen mögest. Ich sehe, ich kann nichts ohne ihn. Ich kriege meine Sehstörungen nicht allein in den Griff. Ich brauche sein Urteil und seinen liebevollen Blick, um klar zu sehen, was not tut und wer mich jetzt braucht. Er heißt Amen. Er bringt gute Nachrichten von oben. Die Zuversicht, dass ich Licht sehen werde, dass wir alle das Licht des Lebens sehen werden in dieser Welt und am Ende der Zeit. 
 
Sage ich, ich brauche nichts? Oder warte ich auf Klopfzeichen? Und wenn Gott anklopft, wie kriege ich das mit?
 
Ich erfahre sein Klopfen in einem Reichtum, wertvoller als jedes Bankkonto. Eine schenkt mir ihr Vertrauen, ein Lächeln, das ansteckt und Tränen vertreibt.
Einer lässt sich nicht abwimmeln, obwohl ich mich schäme und keinen sehen will. Er klingelt und hängt ein Geschenk an meine Tür, weiß verpackt. Schokolade und ein Brief. Du hast mich verletzt. Aber du bist und bleibst mir wichtig. 
Ich träume kurz vor dem Aufwachen, im Traum wage ich einen Schritt, den ich all die Tage zuvor nicht gesehen habe. Jetzt sehe ich klar, ich werde ihn gehen. Gerettet!
 
Jesus klopft behutsam an. Sein Klopfen ist leicht zu überhören. Er fällt nicht mit der Tür ins Haus. Sündig, elend und arm, das hält ihn nicht davon ab, anzuklopfen. In Laodizea. In Christophorus Göttingen. An meiner Herzenstür. Wer sagt, ich bin reich, ich brauche nichts, den bedrängt er nicht. 

Mache ich auf? Lasse ich mich ein auf das, was kommt, Menschen, Herausforderungen? Ich will seine adventlichen Geschenke haben. Klare Sicht auf die Not und die Schönheit in dieser Welt. Freundschaft und Nähe trotz meiner Fehler. Reiche, erfüllte Lebenszeit. 
 
Jesus ist nicht lau. Er ist leidenschaftlich für uns. Er gibt nicht auf, nach uns zu suchen, er bohrt nach und schickt Klopfzeichen, wenn wir lange verschüttet sind. Er bringt gute Nachrichten. Wir werden das Licht des Tages sehen. Sein Klopfen sagt: Rettung ist unterwegs.

14 Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes: 15 Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest! 16 Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. 17 Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
18 Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest. 19 Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße! 20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Mahl mit ihm halten und er mit mir. 

Lied 351 Ist Gott für mich, so trete

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Mein Herze geht in Sprüngen

Predigt zu Lied 351 am Ewigkeitssonntag 2022

Mein Herze geht in Sprüngen. Predigt am Ewigkeitssonntag 2022 von Charlotte Scheller

zu Lied 351 Ist Gott für mich
 
Gemeinde: EG 351,1+2
Nun weiß und glaub ich’s feste. Haben wir den Mund zu voll genommen? Ein Lied des Gottvertrauens singen an einem Tag, wo der Tod zum Greifen nahe scheint? Ein Lied gegen Trauer, Verlassenheit und schmerzhafte Erinnerungen? Überhaupt singen. Noch höre ich niemanden singend zurückkommen, der morgens mit Tränen zur Arbeit gegangen ist. Noch führt keine Straße mit fröhlichen, befreiten Menschen vom Friedhof durch die Stadt. Noch kenne ich niemand ohne Sorgen, ohne Ängste, ohne Schmerzen. Alle, die in diesem Jahr vor einem offenen Grab gestanden haben, wissen, wie einem da die Stimme versagt. Wer einen Menschen hergeben musste, weiß, wie tief das Dunkel sein kann, durch das man hindurch muss. Und immer wieder die Frage: Was wird aus mir? Mein Mann, meine Frau, meine Mutter, mein Vater, mein Sohn, meine Tochter ist nicht mehr am Leben. Wie soll ich damit fertig werden? 
 
Menschen trauern auf verschiedene Weise. Wer kann einem schon sagen, wie man damit fertig wird? Eine Studentin geht nicht mehr zur Uni. Statt dessen ist sie draußen, in den Feldern, im Wald. Ganze Tage ist sie mit ihrem Hund unterwegs, redet mit keinem Menschen. Redet in Gedanken mit ihrer Mutter, die gestorben ist. Sie war lange todkrank und doch ist ihr Tod unerwartet gekommen. Die junge Frau fühlt sich entwurzelt, aus allem herausgerissen, ohne Zuhause. Erst als die Wiesen morgens weiß sind vom Raureif, gibt sie ihre Wanderungen auf. Ein Freund nimmt sie mit zur Chorprobe. Das Requiem von Brahms wird geübt. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Die Stimmen der anderen geben ihr Halt. Die Worte und Klänge helfen ihr, ins Leben zurückzufinden. Sie kann nicht sagen, warum. 
 
Ist Gott für mich, so trete / gleich alles wider mich; / sooft ich ruf und bete, / weicht alles hinter sich. / Hab ich das Haupt zum Freunde / und bin geliebt bei Gott, / was kann mir tun der Feinde / und Widersacher Rott? (EG 351,1)
 
Den Liedern von Paul Gerhardt kann ich mich nur schwer entziehen. Sie machen Mut. Sie spenden Trost. Auch wenn ich nicht sagen kann, warum. Sind es die Worte oder ist es der Klang? Die Melodie stammt aus England. Die Worte kommen aus dem Herzen eines Mannes, der Schweres erlebt hat. Dieses Lied hat Paul Gerhardt vor gut dreihundertsechzig Jahren gedichtet. Er ist Pfarrer in Mittenwalde in Brandenburg. Da sind zu der Zeit überall die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges gegenwärtig. Von tausend Menschen leben noch zweihundertfünfzig. Viele sterbenskrank. Gerhardt und seine Frau haben selbst das bitterste Schicksal erlitten. Von ihren fünf Kindern sterben vier. Nur ein Sohn bleibt den Eltern. Wie kann man das überstehen? Welcher Freund wird nicht müde, solche Klagen anzuhören?
 
Nun weiß und glaub ich feste, / ich rühm’s auch ohne Scheu, / dass Gott, der Höchst und Beste, / mein Freund und Vater sei / und dass in allen Fällen / er mir zur Rechten steh / und dämpfe Sturm und Wellen / und was mir bringet Weh. (EG 351,2) 
 
Feste. Auch wenn der Verstand nicht mitkommt, das Herz möchte glauben. Möchte in Sturm und Wellen den Allerhöchsten an seiner Seite wissen oder wenigstens glauben. Wie einen guten Vater. Wie eine mitfühlende Freundin. Wie jemand, der nicht von deiner Seite weicht, wenn du durch das Dunkle musst. Aber ist er wirklich da? Auch für Paul Gerhardt ist Leiden eine Glaubensanfechtung. Sie mündet aber in der Erfahrung, dass Gott sein Leiden trägt. Dass der Glaube sein Halt ist. Leiden und Tod lassen uns manches Mal an Gott zweifeln. Seltsamerweise können wir aber gerade in der Verzweiflung Gott auch als besonders nahe erfahren. Der Lieddichter ermutigt uns, das Leiden nicht zu verdrängen. Es ist Teil des Lebens. Gerhardt hat keinen billigen Trost. Keine allgemein gültige Weisheit. Er spricht von sich selbst als einem verletzlichen Menschen. Ich bin vom Unheil betroffen. Ich werde von anderen verurteilt oder verurteile mich selbst. Was ich durchmache, ist die Hölle. Aber Gott sieht mich und mein Leben ganz persönlich. Er deckt mich mit seinen Flügeln, weil er mich liebt. 
 
EG 351,6+7
 
Menschen trauern auf verschiedene Weise. Wer kann schon sagen, wie man mit dem Leiden fertig wird? Mit dem eigenem. Und mit dem der Menschen, die man liebt. Der schwedische Autor Fredrik Backman erzählt von einer Mutter. Sie hat ihren Sohn verloren, als er noch ein kleines Kind war. Umso mehr versucht sie, ihre anderen Kinder zu behüten. Jetzt muss sie miterleben, wie ihrer Tochter Unrecht geschieht. Ihr ist Gewalt angetan worden. Der Täter wurde angezeigt. Aber es gibt keine Beweise. Die Ermittlungen werden eingestellt. Die Mutter merkt, sie hat auch ihr zweites Kind nicht beschützen können. Sie trauert. Sie ist wütend. Auf den Täter, auf die Welt und auf sich selbst. Sie steigt ins Auto und fährt in den Wald. So weit sie kann. Sie knallt die Fahrertür so heftig zu, dass sich das Blech verbiegt. Dann steht sie da und brüllt ihren Schmerz hinaus. Das Echo wird in ihrem Herzen nie verstummen.
 
Auch in den Versen von Paul Gerhardt ist es noch zu hören, das Echo des Schmerzes. Aber da ist noch ein anderer Ton. Nicht nur der Schmerz klingt in seinem Herzen nach. Sondern auch das Vertrauen. Gegen alle Vernunft. Wo hat er das her? Woher kommt dieser andere Ton in ihm? Vielleicht hat die Mutter an seinem Bett gesungen, als er ein Kind war. Vielleicht hat er einmal in höchster Angst geschrien und sein Vater hat ihn bei der Hand genommen. Irgendeine Erfahrung hat ein Körnchen Vertrauen in ihm gesät. Gottes Geist. Der hilft ihm das Abba schreien / aus aller meiner Kraft. Ich verstehe das so: Egal, ob ich im Wald stehe oder in der Kirche sitze oder vielleicht mit einem Freund spazieren gehe, ich kann meinen Schmerz hinausschreien. Laut oder leise. Abba, das heißt Vater. So können wir Gott nennen und ihm jeden Schmerz vor die Füße werfen. Laut brüllend oder flüsternd oder ganz unhörbar. Wie uns der Schnabel gewachsen ist oder mit den Worten eines alten Liedes. So oder so können wir unserem Herzen Luft machen. 
 
Was mich an Paul Gerhardts Lied berührt: Es bleibt nicht bei der Trauer stehen. Auch nicht bei der Gottesverbundenheit. Am Ende lässt sich das Herz bewegen. Es kann nicht für immer traurig bleiben. Auch wenn das Echo des Schmerzes nie ganz verstummt, kann es sich doch wieder öffnen. Das Sonnenlicht wieder hereinlassen. Sich erlauben, sich wieder zu freuen. Zu lachen. Die Menschen um sich herum wahrzunehmen. Die Sonne, die dem Herzen lacht, ist Jesus Christus. Und was den Menschen, in dessen Brust es schlägt, singen lässt, ist, was im Himmel ist. Was ist im Himmel? Da wohnt Gott selbst ganz nah bei den Menschen. Er wischt alle Tränen von ihren Augen. Da gibt es den Tod nicht mehr und Leid und Geschrei und Schmerz sind verschwunden. 
 
Singen wir miteinander von dieser Hoffnung. Nehmen wir einander in den Zeiten der Angst bei der Hand. Stützen wir uns gegenseitig, dass es niemanden mehr ohne Hoffnung gibt. Denn Gott selbst will unser Leben erneuern und verwandeln. Wir werden erleben, wovon wir jetzt noch träumen. Unser Mund wird voll Lachens sein, aus tiefstem Herzen, und unsere Zunge wird Gott rühmen.   
 
EG 351,13

Dranbleiben! Predigt am Vorletzten Sonntag im Kirchenjahr, 13.11.2022, zu Lukas 18,1-8

von Charlotte Scheller (angeregt durch eine Bibelarbeit von Margot Käßmann beim Kirchentag 2013)

Wer schon mal in Göttingen im Kino war, kennt den Spot. Alte Dame, sehr aufrechte Haltung, heller Blazer, rote Bluse, Perlenkette, weiße Haare, Brille, strenges Gesicht. Musik ist zu hören, schrill, abgehackte Akkorde. Die Frau wendet den Kopf, würdevoll. Man sieht einen jungen Mann, hemdsärmlig, eben hat er ein sargtiefes Loch geschaufelt, nun schiebt er ein rotes Auto hinein. Dann steht die Frau neben ihm, schlägt mit ihrem Gehstock auf seine Arme, zeigt ihm ein Telefonbuch. Das Örtliche. Hampe-Werbung vorne drauf. Schwenk, ein blauer Lastwagen fährt auf einen Schrottplatz, eine Kranschaufel greift ein kaputtes Auto, wir sehen den Mast mit dem Firmenschild. Hampe Recycling. Der Werbespot dauert knapp zwanzig Sekunden. Alle, die in den vergangenen 28 Jahren in Göttingen ins Kino gegangen sind, kennen ihn. Er ist Kult.
 
Dreißig Sekunden braucht Jesus, um folgende Geschichte zu erzählen:
In einer Stadt lebte ein Richter. Der hatte keine Achtung vor Gott und nahm auf keinen Menschen Rücksicht. In der gleichen Stadt wohnte auch eine Witwe. Die kam immer wieder zu ihm und sagte: ›Verhilf mir zu meinem Recht gegenüber meinem Gegner.‹ Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: ›Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig. Deshalb will ich ihr zu ihrem Recht verhelfen. Sonst verpasst sie mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht.‹«
 
Es folgen zwanzig Sekunden für die Anwendung: 
Und der Herr fuhr fort: »Hört genau hin, was der ungerechte Richter hier sagt! Wird Gott dann nicht umso mehr denen zu ihrem Recht verhelfen, die er erwählt hat – und die Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Das sage ich euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen! Aber wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden? 
 
Weniger als eine Minute Lesezeit. Und alles drin. Was Jesus sagt, ist unmittelbar verständlich. Die ihm zuhören damals, haben Erfahrung mit ungerechter Behandlung. Mit willkürlichen Richtern. Damit, dass du kämpfen musst, um zu deinem Recht zu kommen. Und womöglich auch damit, dass das Gespräch mit Gott oft ein zähes Ringen ist. 
Die Geschichte ist witzig. Und absolut klar, wer hier der Böse ist und wer die Gute. Wie in dem Spot mit der Hampe-Oma. Ein Mann, eine Frau. Einer mit Macht und eine ohne Macht. Einer, der Angst kriegt und eine, die unerschrocken bleibt.
 
Die Frau nervt. Manchmal müssen Menschen das, um zu ihrem Recht zu kommen. In der jüdischen Bibel werden Witwen, Waisen und Fremdlinge in einem Atemzug genannt. Männer und Frauen mit wenig Rechten. Sie stehen unter Gottes besonderem Schutz. Wer Achtung hat vor Gott, soll für sie eintreten. Nicht aus Mitleid, sondern weil die Kinder Israels selbst fremd waren in Ägypten. Weil ihr Gott sie von der Unterdrückung in die Freiheit geführt hat. Und wer weiß schon, wann du selbst die Zuwendung eines Menschen zum Überleben brauchst?
 
Die Witwe kommt immer wieder, um den Richter zu bedrängen. Er soll tun, was seine Aufgabe ist: Recht sprechen. Es wird um Vermögenssachen gehen, nachdem ihr Mann gestorben ist. Um ihre Existenz und ihre Würde. Sie lässt sich nicht abwimmeln, obwohl ihr klar sein muss, der Richter ist korrupt. Wo nimmt sie die Kraft her, ihn immer weiter zu bedrängen? Sie hat, anders als Oma Hampe, nichts Schlagkräftiges in der Hand. Sie hat nichts als ihre Beharrlichkeit.
 
Ich lese von einer Frau in Simbabwe. Tsitsi Dangarembga. Sie ist Schriftstellerin. Letztes Jahr hat sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekommen. Sie musste mehr als dreißig Mal zum Gericht.  Zwei Jahre lang wurde gegen sie ermittelt in Harare. Sie hat an Demonstrationen teilgenommen. Ein Schild hochgehalten, auf dem stand: "Wir wollen etwas Besseres, reformiert unsere Institutionen". Sie protestiert gegen Korruption. Man wirft ihr ungenehmigte Versammlung vor, Anstiftung zur Gewalt, Verstoß gegen die Covid-Regeln, Bigotterie. Nun ist sie verurteilt worden. Geldstrafe. Sechs Monate Haft, zur Bewährung ausgesetzt. Fünf Jahre unter strenger Kontrolle. Ein Anschlag auf das Recht der freien Meinungsäußerung. Auf die Rechte derer, die Schutz brauchen. Sie kämpft weiter, beharrlich.
 
Der Richter hat keine Achtung vor Gott. Und nimmt keine Rücksicht auf Menschen. Er ist konsequent in seiner Selbstbezogenheit. Jesus nennt ihn den ungerechten Richter. Juristen würden ihm Willkür vorwerfen. Dabei ist er sehr klar über sich selbst: Ich habe keine Achtung vor Gott und nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Er macht weder sich noch anderen was vor. Gott ist ihm egal und er ist kein Menschenfreund. Die Frau geht ihm auf den Geist. Er würde sie gern vergessen, aber nun stellt er sich vor, sie könnte ihm einen Schlag ins Gesicht verpassen. Es sind seine Gedanken, Jesus sagt nicht, dass sie ihm gedroht hätte. Das ist witzig, das Kino in seinem Kopf bewegt ihn, von seinen gottlosen Prinzipien abzuweichen. Ehe sie mich schlägt, verhelfe ich ihr lieber zu ihrem Recht. 
 
Seine Phantasie, das mit dem Schlagen. Selig sind, die Frieden stiften, lehrt Jesus. Er verzichtet auf jede Gewalt. Und stirbt einen gewaltsamen Tod. Seine Freunde sagen, Gott hat ihn auferweckt von den Toten. Gottes Zeichen: Am Ende ist Leben. Im Frieden. Der auferstandene Herr kommt wieder, um sein Friedensreich groß zu machen in unserer Welt. Aber bis es so weit ist, kann es geschehen, dass gewaltsam Unterdrückte sich zusammentun und sich wehren. Notfalls mit Gewalt. Bis der Gegner die Waffen streckt und die Grenzen neu abgesteckt werden und die Witwen zu ihrem Recht kommen und Waisen und Fremdlinge Schutz finden, wie es ihnen zusteht. 
 
Hört genau hin, sagt Jesus. Selbst der ungerechte Richter tut schließlich, was die Frau erbittet. Wird dann nicht Gott erst recht denen, die er liebhat, zu ihrem Recht verhelfen, wo sie doch Tag und Nacht zu ihm rufen? Wird er sie etwa lange warten lassen? Ich sage euch: Er wird ihnen schon bald zu ihrem Recht verhelfen!
 
Ich höre das. Aber was, wenn ich andere Erfahrungen mache? Es gibt das lange Warten. Die Durststrecken im Glauben. Das Gefühl, dass Gott schweigt, dass mein Rufen ins Leere geht, mein Flehen, mein stummes Gebet. Gerade dann, wenn ich ganz unten bin. Wenn ich Gott am meisten brauche. Wenn ich nicht schlafen kann vor Sorge um einen Menschen, den ich liebhabe. Wenn ich die Bilder vom Krieg nicht aus dem Kopf kriege. Die Nachrichten von den verschwundenen Kindern aus Cherson und Mariupol. Von den Protesten im Iran nach dem Tod der sechzehnjährigen Masha Amini, von den Festnahmen, von den mehr als zweihundertfünfzig weiteren Toten. Wenn ich Tag und Nacht gebetet habe: Bitte nicht, Gott, bitte, bitte nicht! Und das Schlimmste doch passiert. Wenn meine Schülerin in der Krankenpflegeschule mich fragt: Wie kann er so viel Leid zulassen, Ihr Gott, und ich stumm bleibe, weil Gott uns warten lässt, was dann?
 
Mir dämmert, Lukas erzählt diese Geschichte nicht, um mir zu sagen: Wenn du nur lange genug nervst, macht Gott das, was du dir wünschst. Es geht ums Dranbleiben. Die Witwe lässt nicht locker. Sie hält den Kontakt, ruft sich in Erinnerung, läuft Tag für Tag bei dem mitleidlosen Richter auf, damit er sie nicht aus dem Kopf kriegt. Damit sich die Sache zwischen ihm und ihr nicht erledigt. Die Einleitung der Geschichte bei Lukas, das Intro des Spots vom Richter und der Witwe: Jesus wollte den Jüngern deutlich machen, dass sie immer beten sollen, ohne darin nachzulassen
 
Immer beten. Offenbar sind die Christ*innen, denen Lukas schreibt, müde geworden im Beten. Offenbar ist noch nicht eingetreten, was ihnen versprochen wurde. Dass Gottes Reich kommt. Dass der Menschensohn wiederkommt und Recht spricht. Dass allen Menschen geholfen wird. Lasst den Gesprächsfaden nicht abreißen, sagt Lukas. Gerade nicht auf den dunklen Strecken. Hört nicht auf, mit Gott zu reden. Hört auch, was ungerechte Richter sagen. Hört hin, schottet euch nicht ab von der Welt. Mischt euch ein, mischt mit, wo es möglich ist als Christ*innen, in dem Glauben, dass Gott es anders will, dass Gott kommt und Recht schafft. Lasst euch nicht davon abbringen, der Ewigen eure Sehnsucht hinzuhalten und euren Dank, die Freude, den Zweifel, sogar die Leere.
 
Ich muss an unsere Kirche denken. An die offene Tür und das Schild: Die Kirche ist geöffnet. An die Kerzen, die dort jeden Tag angezündet werden. An die drei Menschen, Mutter, Vater, Tochter. Sie waren nicht von hier, sie klingelten an dem einen Morgen, als noch zugeschlossen war, und sagten: Können wir bitte in die Kirche, unsere andere Tochter ist im Krankenhaus, sie wird operiert. Wir haben schon in der Klinikkapelle gebetet. Jetzt möchten wir hier eine Kerze anzünden. Wir können und wollen nicht lockerlassen, Gott zu bitten für unser Kind. Ich denke an die herausfordernden Momente, wo ich sage, ich kann das jetzt nicht, überhaupt nicht, mach du bitte, Gott, du hast mich schließlich hierhergebracht. Aber auch an ganz normale Zeiten, an das alltägliche Tun und Lassen, jeder Tag hat seine eigenen schweren Momente. Und die schönen. Not lehrt beten, aber die Freude tut es auch, die Freude lockt ein Lied auf unsere Lippen, ein Lächeln, ein Gottseidank. Ein Kind ist geboren. Eine Liebe wird gefeiert. Die Erleichterung, in einem freien Land zu leben, ohne willkürlicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Es ist gut, einen Ort zu finden und eine Zeit im Tag, um anzudocken an Gott. Ein Lied, eine Kerze, im Stillen angezündet, ein Gedanke: Hier bin ich, Herr im Himmel, Ewige. Geh du heute mit mir. Wenn ich das Glockenläuten höre. Beim Aufwachen oder vor dem Einschlafen. Ein kurzer Satz, ein Atemzug zu Gott hin ist schon genug.
 
Zuletzt, erzählt Lukas, am Ende der Geschichte, sagt Jesus: Wenn der Menschensohn kommt, wird er so einen Glauben auf der Erde finden? Ich glaube schon. Wenn der Menschensohn kommt, wenn Gott als Mensch unterwegs ist auf unserer Erde, wird er Leute finden, die Gott vertrauen. Männer und Frauen und Kinder, die sich nach Gerechtigkeit sehnen und sich davon nicht abbringen lassen. Die den Nächsten lieben und sich selbst, weil Gott es tut. Amen. 

Was gibt Halt? Anknüpfung an Ruts Gedanken

von Katharina Haley Raddatz

Was gibt Halt? Anknüpfung an Noomis Gedanken

von Charlotte Scheller

Was gibt Halt?

Gedanken zu Rut und Noomi Buch Rut, Kapitel 1 und 4

Rut (Katharina Haley Raddatz)
Ich kann Ruts Geschichte und ihre Gefühle sehr gut verstehen. Vor fast zwei Jahren habe ich meine Heimat auf den Philippinen verlassen und bin nach Deutschland gezogen. Das war keine einfache Entscheidung, aber ich wusste, dass Gott einen Plan für mich in Deutschland hatte. Tief in mir wollte ich auch meine deutschen Wurzeln näher kennenlernen. Am Anfang habe ich mich sehr fremd gefühlt hier in Deutschland. Alles war anders und das Klima war kälter. Aber ich habe mich in meiner Gemeinde in Springe sehr wohl gefühlt und wurde dort auch gut aufgenommen. Durch die Tiefen der Sehnsucht nach meiner Heimat und den schwierigen Prozess, meinen Platz

hier in Deutschland zu finden, habe ich erlebt, wie Gott mich gestärkt und gesegnet hat.

Noomi

(C. Scheller) Was gibt Halt? Noomi und ihr Mann haben alles zurückgelassen. In ihrem Heimatland, in ihrer Stadt Betlehem, war keine Zukunft. Die Stadt heißt „Haus des Brotes, aber sie konnten ihr Brot zu Hause nicht mehr verdienen. Sie sind nach Moab gezogen, Noomi und ihr Mann Elimelech. Sein Name bedeutet: Mein Gott ist König. Noomis Name bedeutet: Meine Freude. Ihre Söhne wandern mit ihnen aus. Machlon und Kiljon. Die Namen bedeuten: der Schwächliche und der Gebrechliche.

Was gibt Halt? Familie. Ein Zuhause. Nicht unbedingt der Ort, an dem du lebst. Aber die Menschen, die dich lieben. Mit denen du lachen kannst, die mit dir weinen und schweigen. Mit denen du den Glauben teilst, die Lieder, das Brot auf dem Tisch.

Noomi hat die liebsten Menschen verloren. Ihr Mann, Gott-ist-mein-König, ist gestorben und ihre Söhne, der Schwächliche und der Gebrechliche, sind auch tot. Die Schwieger- töchter sind ihr geblieben, Orpa und Rut. Sie haben noch keine Kinder, sind nicht durch Fleisch und Blut mit ihr verbunden. Noomi gibt sie frei. Mein Name bedeutet Freude, aber mein Schicksal ist zu bitter für euch. Geht nach Hause zu euren Eltern. Ihr seid von hier, ihr seid jung. Fangt von vorn an. Ich bin alt. Ich habe Sehnsucht nach meiner Heimat. Wo man meine Sprache spricht. Wo mir jedes Haus und jeder Baum vertraut sind. Wo abends der Duft von Brot, auf heißen Steinen gebacken, durch die Gassen zieht.

Die Schwiegertöchter weinen. Sie sind sich nah in der Trauer. Orpa gehorcht. Sie küsst ihre Schwiegermutter und kehrt ihr den Rücken. Wie ihr Name es sagt, die sich Abwendende. Rut widerspricht. Ich lasse dich nicht im Stich! Wo du hingehst, dahin gehe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott! Was auch immer dieser Gott mir noch antut – außer dem Tod kann mich nichts von dir trennen.

Was gibt Halt? Ruts Name bedeutet Freundin. Rut bleibt treu. Vertraut ihr Leben Noomis Gott an. Geht mit der Älteren in ein unbekanntes Land. Und da findet sie Leben und Freude. Wie tröstlich das ist. Du musst nicht selbst allen Glauben haben. Du kannst dich mitnehmen lassen zum Glauben von einer anderen. Von Noomi lerne ich: Selbst wenn du alle wegschickst, selbst wenn du sicher bist, du bist vollkommen allein auf der Welt, es gibt einen Menschen. Eine Freundin. Eine Tochter. Einen Sohn oder Gott weiß wen. Gott schickt dir einen Menschen.

Rut bleibt. Ihren neu geborenen Sohn legt sie der Schwiegermutter auf den Schoß. Obed. Sein Enkel wird ein berühmter König, David. Und einmal wird aus Ruts Treue und aus Noomis Stadt Betlehem, dem Haus des Brotes, ein anderer König hervorgehen. Einer, dessen Worte Halt geben. Sehnsucht stillen. Gesund machen. Einer, der selbst Brot ist für die Hungrigen und Licht für die Welt. Jesus Christus. Wir tragen seinen Namen.

Ungebetener Gast. Predigt am 23.10.2022 zum Besuchsdienstjubiläum (Charlotte Scheller)

zu Lukas 19,1-10

Ungebetener Gast. Predigt am 23.10.2022 zum Besuchsdienstjubiläum (Charlotte Scheller)

zu Lk 19,1-10 Zachäus
Es gibt Gäste, die lassen sich lange bitten. Andere laden sich ganz einfach selbst ein. Es gibt Gastgeberinnen, die haben richtig Stress, wenn Besuch sich ansagt. Putzen die Zimmer. Kaufen groß ein. Kochen und backen und schmücken. Andere stellen spontan noch einen Teller auf den Tisch. Gieß Wasser zur Suppe, heiß‘ alle willkommen. 
 
Zachäus, von dem wir eben gehört haben, ist gar kein Gastgeber. Er hat keine Einladungen verschickt. Im Gegenteil. Er hat sich auf einen Maulbeerfeigenbaum verzogen. Ein Beobachterposten. Zachäus hat gehört, dass Jesus in der Stadt ist. Er kann Leute gesund machen. Und vergibt Sünden. Das ist krass. Jeder vernünftige Mensch wird einsehen, dass das nur Gott kann, Sünden vergeben.  
 
Zachäus ist nicht besonders religiös. Eher ein Mann der klaren Fakten. Es zählt, was am Ende des Tages bleibt. Konkret, wieviel Geld in der Kasse ist. Die Zöllner kassieren bei den Einwohnern ab. Zachäus kassiert, was die Zöllner einnehmen, und leitet es weiter an die römischen Behörden. Natürlich nicht alles. Hier ein kleiner Betrug, da ein bisschen Erpressung. Zachäus ist reich. Er hat ein Haus, teure Klamotten und einen ansehnlichen Weinkeller. Trotzdem spürt er manchmal so was wie Sehnsucht, er weiß nicht, nach was. Jedenfalls will er diesen Jesus sehen. Er ist natürlich nicht so dumm und stellt sich mitten in die Menge unter die Halleluja-Sänger. Viel zu peinlich. Außerdem trampeln die ihn womöglich tot. Er ist ziemlich klein, wenn er nicht in seinem Oberaufseher-Sessel sitzt. Fast alle, die ihn kennen, sind wütend auf ihn. Deshalb sitzt er jetzt im Baum. Sehen und nicht gesehen werden. 
 
„Zachäus, komm runter!“ Das gibt es jetzt nicht. Der steht jetzt unten am Baum. Dieser Jesus. Er guckt hoch und sieht ihm direkt in die Augen. Die Tarnung ist im Eimer. Alle glotzen. Manche stoßen sich an und kichern. Jesus drängelt. „Schnell, steig runter. Ich muss heute bei dir zu Gast sein!“
 
Moment, denkt Zachäus. Er. Muss. Heute. Zu Gast sein. Bei mir?! Zachäus rutscht vom Maulbeerfeigenbaum runter, egal, wie dumm das aussieht, egal, ob er sich das Oberzollaufsehergewand zerreißt, er rennt nach Hause. Brot und Wein müssten noch da sein. Fleisch und Gemüse kann er unterwegs einkaufen. Alles soll richtig festlich sein! Er ist kein schlechter Koch. Bloß sitzt er meist alleine beim Essen. Wenn du immer als erster zum Buffet darfst, wird das auf die Dauer langweilig. Aber heute kommt Jesus, der hat sich selber eingeladen und Zachäus freut sich extrem. 
 
Jesus geht einfach hin. In unserem Besuchsdienst machen wir es anders. Wir fallen nicht mit der Tür ins Haus. Wir respektieren die Privatsphäre unserer Geburtstagskinder, rufen an, fragen: Passt es Ihnen heute oder darf ich wann anders kommen? Und wenn wir die Telefonnummer nicht kennen, schicken wir eine Karte. Ich besuche Sie gern, wenn Sie das möchten. Und hören mehr als einmal: Danke, sehr nett, aber Besuch muss nicht ein. Vielleicht ein andermal. 
 
Nicht so bei Zachäus. Er freut sich so sehr, dass er seinen Beobachterposten verlässt. Ob er mitkriegt, wie die andern rumstehen und sich ärgern? Das passt einfach nicht, finden die Freunde von Jesus. Ein Geldeintreiber, und Jesus geht zu dem ins Haus. Weiß er noch, was er selbst gesagt hat? „Glückselig seid ihr, die ihr arm seid. Denn euch gehört das Reich Gottes“. Wie kann Jesus sich bei einem Superreichen einladen? 
 
Zachäus hört nichts davon. Er kocht und brät, deckt den Tisch, schleppt Wein nach oben, zündet Kerzen an und freut sich wie verrückt! Sie werden wohl eine größere Runde sein da um Zachäus‘ Tisch, endlich mal, Jesus und seine engsten Weggefährten und Zachäus. Und die Meckerer hören auf zu meckern. Spätestens, als Zachäus zu dem Gast sagt: Sprich du das Dankgebet. Jesus nimmt das Brot und dankt Gott dafür. Er bricht es und gibt es weiter. So macht er es immer, wenn sie zusammen essen. Jesus und seine Freunde und manchmal auch Leute, die gar nicht dazu passen. Heute also bei Zachäus. Bei einem Menschen voller Schuld. Irgendwas krempelt sich gerade um in Zachäus. Nicht nur die Uniform hat einen Riss gekriegt. 
 
Was sie reden beim Essen, Jesus und Zachäus, erfahren wir nicht. Bloß dass sie zusammen sitzen. In Zachäus‘ guter Stube. Und dass Zachäus etwas ändert in seinem Leben nach diesem Besuch. Er hat Jesus in sein Haus gelassen. Hat ihn bewirtet und sitzt mit ihm am Tisch. Nicht draußen auf seinem Baum. Nicht in einem Gotteshaus. Sondern in seinem privaten Zuhause. Hier gibt es kein Oben und Unten. Hier sind nur zwei Menschen, die miteinander reden. Einander zuhören. Etwas teilen von ihrem Leben. Die vertrauten Abläufe durchbrechen und die Einsamkeit. So geschieht es oft, wenn Menschen aus der Gemeinde andere besuchen. Mit wieviel Liebe wird der Kaffee gekocht. Der Teller mit Keksen gereicht, manchmal mit zittrigen Fingern. Das Fotoalbum geöffnet und nicht selten das Herz. Einer ist gekommen, der nicht zur Familie gehört. Eine ist hier, weil sie mich besuchen will. Ich. Muss. Heute. Bei dir. Zu Gast sein!
 
Was geredet wird zwischen Besucherin und Gastgeber, wird nicht weitererzählt. Jedenfalls nicht im Detail. Manchmal zehrt der Gastgeber noch lange von dem Zusammensein. Und die Besucherin geht beschenkt nach Hause. Das Gespräch wirkt nach, die Gedanken gehen im Stillen weiter, die Begegnung hat gut getan. Manchmal ergibt sich eine neue Sicht. 
 
Zachäus ist zu einer Entscheidung gekommen. Er sagt zu Jesus: „Herr, sieh doch: Die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen. Und wem ich zu viel abgenommen habe, dem zahle ich es vierfach zurück.“ Ich kann mir vorstellen, wie alle plötzlich still sind, als er das sagt. Das Erstaunliche ist nicht, dass er alles zurückzahlen will, sogar vierfach. Das Erstaunliche ist das kleine Wort „Herr“. Zachäus war immer selbst der Boss. Aber jetzt soll Jesus der Bestimmer in seinem Leben sein. Er sagt „Herr“ zu Jesus. Er ist zu Gott zurückgekommen. Von Gott aus gesehen, hat er sowieso immer dazugehört. In Bibel-Sprache ist er ein „Sohn Abrahams“. Nur hat er das vergessen. Jetzt ist Jesus zu ihm ins Haus gekommen und Zachäus kann etwas anders machen in seinem Leben.
 
In Jesus ist Gott zu Besuch. Er will alle bei sich haben. Bei jedem zu Gast sein, unabhängig von der Herkunft, den Finanzen, dem Ansehen. Jesus zeigt uns, wie wir die Grenzen überwinden können, nach denen wir uns sonst sortieren. Er lädt sich ein bei einem, den die anderen nicht im Blick haben. Der sich selbst nicht im Blick hatte als Teil der Gemeinde. Jesus nimmt Platz. Zeigt Interesse. Widerspricht den Meckerern, die lieber nichts mit dem Außenseiter zu tun haben wollen. Und das Wunderbare ist: Er verlangt keine Gegenleistung. Er hält Zachäus seine Sünden nicht vor. Er will nicht bekehren. Er kehrt bloß selber ein bei einem Mitmenschen, einem Kind Gottes wie du und ich.
 
Das hat sich die Besuchsdienstarbeit auf die Fahne geschrieben. Seit 70 Jahren und für die Zukunft. Menschen aufsuchen da, wo sie zu Hause sind. Ohne Wertung. Wie oft hören Besuchende: Ich bin kein Kirchgänger. Aber ich freu mich, dass Sie kommen. Dann freuen sie sich selbst. Sie machen ihren Dienst gern. Hören zu. Lassen sich auf das Gespräch ein, das manchmal im Alltäglichen bleibt und manchmal in erstaunliche Tiefen führt. Immer kann etwas Wunderbares passieren, wenn jemand zu Besuch ist. Im Namen Jesu. Amen. 

Alles wird gut - Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis am 09.10.2022

Alles wird gut - Predigt zum 17. Sonntag nach Trinitatis am 09.10.2022

Wenn sie spricht, hören die Mächtigsten der Welt zu. Nicht nur ihre Worte, auch ihre Jugend provoziert bei vielen Hörenden Ablehnung. Schon von klein auf hat sie begriffen, was andere nicht wahrhaben wollen. Ihr kindliches Gesicht lässt kaum ahnen, was für scharfe Worte aus ihrem Mund kommen. Sie scheidet damit die Geister. Wie ein Schwert fährt ihre Botschaft durch die Gesellschaft. Jetzt braucht sie Personenschutz. Aber sie redet und streikt weiter. Doch wieviel hat sich bisher wirklich verändert? Sie opfert ihre Jugend, aber der Rauch verweht. Was nützt es ihr denn, wenn ihr Gesicht in Schulbüchern abgedruckt wird? Jetzt ist sie berühmt und soll zufrieden sein, aber das war doch gar nicht ihr Ziel. Sie wollte, dass die Alten auf die Jungen hören. Dass das fette Europa hinübersieht zu den schmalen Inseln, die bald im Meer verschwinden. Sie ist angetreten gegen die Ignoranz der Welt. Aber ob Greta Thunberg es schaffen wird, dass die Menschheit wirklich aktiv gegen den Klimawandel wird, wissen wir noch nicht. 

Wenn er sprach, hörten die Ohmächtigen der Welt zu. Eigentlich gab sein Vater ihm den Namen Rolihlahla, was bedeutet: Am Ast eines Baumes ziehen. Gemeint ist ein Unruhestifter. Er stiftete Unruhe in einer Ordnung der Weißen. Ja, sie hatten alles ganz penibel geordnet. Hier die Weißen, da die Schwarzen. Eine Masse an Schildern zeigte ganz genau, wer wo eintreten durfte. Aber er redete gegen die Schilder an. Gegen die Ordnung. Seine Botschaft ließ ein ganzes Land beben. Also haben die Weißen versucht ihn zum Schweigen zu bringen. Immer wieder. 27 Jahre Gefängnis. Eine winzige Zelle, jeden Tag Maisbrei. Aber er redete weiter. Und die Menschen versammelten sich hinter ihm. Und dann hörten auch die Mächtigen zu. Als Präsident wollte Nelson Rolihlahla Mandela eine neue Ordnung schaffen, in der Schwarze und Weiße zusammen leben konnten. Eine Regenbogennation. Ein Lichtblick angesichts jahrhundertelanger kolonialer Verbrechen auf der ganzen Welt. Aber der Rassismus in unserer Gesellschaft und anderswo wirft noch immer lange Schatten.  

Wenn er sprach, hörten die Leute aus den Dörfern ihm zu. Er erzählte nicht irgendwas, vor allem nichts Privates. Seine Mutter ließ er abblitzen, als sie bei ihm sein wollte. Er sprach kaum über sie, er sagte auch nichts über seine Geburt oder Kindheit. Generell hatte er es nicht so mit Familie. Zumindest nicht mit seiner leiblichen. Er zog umher und erzählte Geschichten. Manche Geschichten fanden die Leute seltsam, aber irgendwie schön. Wie diese Geschichte vom kleinen Senfkorn, das zu einem großen Baum wird. Manchmal konnte er richtig hart sein. Wenn er sagte, man müsse sich das Auge ausreißen, wenn man eine andere Frau begehrte, wandten sich die Leute kopfschüttelnd ab oder begannen Streit. Er sagte: Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Seltsam, denn eigentlich sprach er doch auch von Liebe. Dass er das Licht der Welt sei. Aber nur weil da einer von Liebe sprach, wurde die Welt nicht liebevoller. Er ist dann gestorben. Als er nicht mehr sprechen konnte, sprachen andere für ihn. Sie haben ihr Bündel genommen, sind losgezogen und haben die Sache mit der Liebe weitergesagt. Leider oft auch mit dem Schwert. Kein Schwert aus Worten, sondern in echt. Jesus von Nazareth hat von Liebe gesprochen, aber oft waren seine Anhänger mehr Schatten als Licht für die Welt.

Im Jesajabuch steht:

Hört mir zu, ihr Bewohner der Inseln!
Gebt acht, ihr Völker in der Ferne!
Der Herr hat mich in seinen Dienst gerufen,
als ich noch im Mutterleib war.
Schon im Schoß meiner Mutter
hat er mir meinen Namen gegeben.
Er hat mir Worte in den Mund gelegt,
so scharf wie ein Schwert.
Versteckt in seiner Hand,
hat er mich bereitgehalten.
Wie einen spitzen Pfeil
hat er mich in seinem Köcher aufbewahrt.
Er sagte zu mir: »Du bist mein Knecht.
Du trägst den Namen ›Israel‹.
Durch dich will ich zeigen, wie herrlich ich bin.«
Ich aber sagte: »Ich habe mich vergeblich bemüht,
für nichts und wieder nichts meine Kraft vertan.
Doch der Herr verhilft mir zu meinem Recht,
mein Gott wird mich belohnen.«
Ja, der Herr hat mich schon im Mutterleib
zu seinem Knecht gemacht.
Ich sollte Jakob zu ihm zurückführen
und ganz Israel bei ihm versammeln.
So wichtig war ich in seinen Augen,
mein Gott gab mir die Kraft dazu.
Und jetzt sagt er: »Ja, du bist mein Knecht.
Du sollst die Stämme Jakobs wieder zusammenbringen
und die Überlebenden Israels zurückführen.
Aber das ist mir zu wenig:
Ich mache dich auch zu einem Licht für die Völker.
Bis ans Ende der Erde reicht meine Rettung.« 
 
 
Wer ist dieser Knecht Gottes, von dem dieses Lied handelt? Man kann sich den Kopf darüber zerbrechen, wen Jesaja hier meint. Die christliche Tradition kannte von Anfang an nur eine Antwort auf die Frage nach der Identität des Gottesknechtes: Natürlich Jesus Christus. Aber ist das wirklich so eindeutig? 
Das Lied über den Gottesknecht ist ein jüdischer Text, denn er steht in der jüdischen Heiligen Schrift, die wir Christ*innen als Altes Testament übernommen haben. Ich habe ein Interview mit der jüdischen Theologin Edna Brocke gelesen und war erschrocken. Sie erzählt darin, dass die Gottesknechtlieder viele Jahrhunderte lang nicht mehr in der Liturgie der Synagoge eingebunden worden seien. Warum? Weil die Christen mit ihrer Deutung, dass Jesus der Gottesknecht sei, so laut waren, dass der Text für Jüdinnen und Juden einen bitteren Beigeschmack bekomme habe. Erst in jüngerer Zeit fänden die Gottesknechtlieder wieder vermehrt Eingang in den jüdischen Gottesdienst. Beispielsweise an Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, der diese Woche gefeiert wurde. In der jüdischen Theologie gibt es viele Deutungen des Gottesknechtes. Es könnte das ganze Volk Israel gemeint sein, oder ein Teil davon. Es könnten besondere Einzelpersonen gemeint sein. Oder ein Prophet, der zur Zeit des babylonischen Exils lebte. Oder sogar ein Messias, der noch kommen wird. Ich finde es wichtig, dass wir jüdische und christliche Deutungen ins Gespräch miteinander bringen. Es hat mir neue Perspektiven auf den Text geöffnet. Ich kann die Geschichte Jesu mit dem Gottesknechtlied verknüpfen. Ich kann aber auch darüber hinaus weiterdenken. 
Was da über den Gottesknecht berichtet wird, ist eine Story über Helden: Es gibt Menschen, die etwas zum Guten verändern wollen. Die ein Ideal haben. Aber sie prallen gegen eine Mauer aus menschlicher Ignoranz und Hass. Und nicht alles gelingt! Sie scheitern auch, machen Fehler und am Ende fragt man sich vielleicht: Hat es irgendwas genützt? Aber die Hoffnung ist, dass Gott sie unterstützt. Gott gibt mir die Kraft! So heißt es im Lied. Und wenn kein Mensch auf der Welt einem die Entbehrungen dankt: Mein Gott wird mich belohnen. Gott ist das Licht der Welt und dieses Licht können wir weitergeben. Wer das Licht Gottes weiterträgt, ist Gottes Knecht und Gottes Magd. 
Ob auch Greta Thunberg oder Nelson Mandela von sich selbst sagen würden, dass sie Gottes Licht weitertragen, weiß ich gar nicht. Als ich das Gottesknechtlied gelesen habe, musste ich irgendwie an Menschen wie sie denken. Mir fallen viele ein, die sich für das Gute eingesetzt haben oder es immer noch tun. Und die dafür Ablehnung erfahren. Oder die Angst haben, sich vergeblich zu bemühen. Ihre Biographien auf das Gottesknechtlied zu beziehen, war ein Experiment. Ich wollte herausfinden, wieviel dieser Text mit Menschen heute zu tun hat. Und ich habe gemerkt: Ich muss kein Messias sein, um mich in diesem Text wiederzufinden. Mein ganz persönlicher Anknüpfungspunkt ist die letzte Zeile: Bis ans Ende der Erde reicht meine Rettung. Das gibt mir Hoffnung! Alles wird gut! Die Menschen fangen Kriege an, kaufen den Ärmsten das Getreide weg, verscherbeln unsere Erde. Aber alles wird gut! Es fühlt sich gerade gar nicht danach an für mich. Aber alles wird gut! Alles wird gut. Ja, Hoffnung klingt manchmal vollkommen unvernünftig. Aber noch unvernünftiger finde ich es, nicht zu hoffen. Denn dann habe ich schon verloren. Zum Glück glaube ich an Gott. Und mein Gott gibt mir diese Hoffnung, die ich so dringend brauche. Dieses Hoffnungslicht trage ich gerne weiter. Dann fühle ich mich wie eine ganze kleine Gottesmagd. Alles wird gut! Daran glaube ich. 
Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. So heißt es im Wochenspruch. Es könnte genauso gut der Leitspruch der Gottesmägde und Gottesknechte sein. Mit Glauben und Vertrauen an das Gute, an die Liebe, an Gott, kann die Welt und alles, was auf ihr schief läuft, überwunden werden. Bis ans Ende der Erde reicht seine Rettung. Ein Licht für die Welt. Ein Licht, das weitergetragen werden will. Alles wird gut.
Amen.

Sehen lernen. Minipredigt zum Erntedank 2022 von Charlotte Scheller

Zum Nachlesen unter diesem Beitrag

Sehen lernen. Minipredigt zum Erntedank 2022 von Charlotte Scheller

zu Markus 10,46-52 (Bartimäus)
In der Kirche werden wir es ausprobieren. Ein paar Momente nichts sehen. Blind durch die Kirche tappen. An der Hand eines anderen Menschen. Ohne zu wissen, wo es langgeht. Dann die Augenbinde abnehmen. Sehen, was da ist: bunte Tücher in allen Regenbogenfarben. Die Kerzen. Die Menschen neben uns mit ihren schönen Augen und ihren freundlichen Gesichtern. Rote Äpfel, grüne Birnen, blaue Pflaumen, braune Kartoffeln. Sonnenblumen. All die Farben, mit denen Gott die Welt geschmückt hat. Blau wie der Himmel an einem strahlenden Oktobertag. Oder das Meer, wenn es ruhig ist. Rot wie die letzten reifen Tomaten im Garten, wie eine einzelne Rose, wie das Blut und die Liebe. Gelb der Weizen kurz vor der Ernte, wie die fröhliche Sonnenblume, wie der Geschmack eines Löffels Sommerblütenhonig auf der Zunge. All das, was satt macht, nicht nur im Bauch, auch in der Seele. Was gut schmeckt und uns fröhlich macht. 
 
Der blinde Mann, Bartimäus, sieht überhaupt nichts mit seinen Augen. Er hört aber, dass Jesus vorbei geht und mit seinem Herzen sieht er: Jesus kann helfen. Obwohl ich am Rand bin und im Weg sitze und die anderen sagen, ich störe nur mit meinem Geschrei: Jesus, Sohn Davids, hilf mir doch! Jesus wird mich hören! 
 
Kinder finden das vielleicht ganz normal. Mami, Papi, hilf mir, schreien sie viele Male am Tag, und dann helfen die Eltern. Uns Erwachsenen fällt es schwerer, um Hilfe zu bitten. Obwohl wir uns manchmal blind fühlen. Vielleicht sind wir traurig. Da war ein Mensch, den wir liebhatten. Und jetzt können wir ihn nicht mehr sehen. Oder wir finden unsere Kinder anstrengend und haben kein Auge dafür, wie wunderbar sie sind. Oder wir haben Sorgen um unsere liebsten Menschen und um diese verrückte Welt. Oder wir können uns selbst nicht sehen.
 
Bartimäus schreit zu Jesus. Das ist das einzig Richtige. Das können wir auch machen, wenn wir das Schöne nicht mehr sehen in unserem Leben. Rufen: Jesus, hilf mir! Und wenn nichts passiert, noch lauter: Jesus, Jesus, hilf mir! Er hört uns. Die Kinder genauso wie die Erwachsenen. Er hört uns sogar, wenn wir gar keinen Ton rauskriegen. Wenn wir nur flüstern oder ihn in Gedanken ganz laut rufen. Jesus nimmt unsere Sorgen ernst. Er geht mit uns. Er ist auch da, wenn wir ihn nicht sehen können. So wie Bartimäus ihn erst nicht sehen konnte. Wir hören von Jesus, so wie Bartimäus von ihm gehört hat. Er ist jetzt hier, ganz nah. Er hilft uns sehen. Er zeigt uns, was schön ist und gut schmeckt. Ihm können wir vertrauen. Amen.

Predigt zu Lukas 10,25-37 (Der barmherzige Samariter) am 13. Sonntag nach Trinitatis

Wenn ich Gott eine Frage stellen dürfte, dann wüsste ich ganz genau, welche das wäre. Ich stelle mir vor, wie Gott und ich uns in Sesseln gegenübersitzen. Gott, darf ich dir eine Frage stellen? Klar, nur zu, du darfst mich alles fragen. Gott, wie komme ich in den Himmel?

Seit Menschengedenken träumen wir von einer besseren Welt. Und wenn das nichts mehr nützt, dann träumen wir wenigstens vom Himmel. Vom ewigen Leben. Vom Paradies. Vom Reich Gottes. Und alles, was uns auf der Erde hier so bedrückt, Krieg, Armut, Einsamkeit, Streit, all das soll es dort nicht geben. Nur Frieden. Endlich Frieden. 

Nun ist es so, dass meine Frage an Gott kein reines Gedankenexperiment ist. Tatsächlich ist schon vor mir jemand auf die Idee gekommen, Gott nach dem ewigen Leben zu fragen. Genauer gesagt, wurde Jesus das gefragt. Ein Gesetzeslehrer kam zu ihm und fragte: „Meister, was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ Und Jesus stellt die Gegenfrage, was denn im Gesetz, also in der jüdischen Heiligen Schrift, dazu geschrieben steht. Und damit verweist er auf das Doppelgebot der Liebe. Aber was ist das? Es sind zwei Bibelstellen, die zusammengestellt wurden. Ihr Wortlaut ist folgender: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst“. Doch der Gesetzeslehrer hakt nach. Wer ist denn mein Nächster?

Und dann erzählt Jesus eine Geschichte, und zwar die vom barmherzigen Samariter. „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte es ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.

Um das mal kurz festzuhalten: Was ist dieser Samariter für ein Wahnsinns Typ? Während die anderen beiden das Leid des Verletzten sehen, aber einfach weitergehen, jammert es den Samariter. Er handelt, weil er Mitgefühl hat. Und er gibt so viel, kostbares Öl und Wein und Geld, um dem Verletzten zu helfen. Das beste aber: Der Samariter fragt nicht, was für ein Mensch da liegt. Im biblischen Text steht tatsächlich auch einfach nur „Mensch“, es kann also jeder sein. Der Samariter hilft unabhängig vom Geschlecht, vom Alter, von der Herkunft des Menschen. Und dass der Samariter der Held in der Geschichte ist, erkennt auch der Gesetzeslehrer. Und Jesus sagt: So geh hin und tue desgleichen! Und das sagt Jesus nicht nur zu dem Gesetzeslehrer. Das sagt er auch zu uns.

Wie schön wäre diese Welt, wenn alle Menschen barmherzige Samariter wären? Dann würde wohl niemand im Mittelmeer ertrinken. Dann würde keinem die medizinische Versorgung verwehrt werden, wenn die Versicherung fehlt. Dann würden alle satt werden, weil wir teilen statt wegschmeißen würden. Oder anders gesagt: Dann wäre die Welt genau so, wie ich eben den Himmel, das Paradies, das Reich Gottes beschrieben habe. Nur eben schon hier auf der Erde. Aber das Problem ist bekannt: Die Menschen sind nicht so wie der barmherzige Samariter. Manchmal schon, manchmal kommt man da ganz nah dran. Aber leider gibt es auf der Erde auch einige Räuber. Und die können so unfassbar viel Leid verursachen, dass auch viele Samriter*innen nicht dagegen ankommen können. Das Paradies bleibt also fern.

Gott und ich sitzen in den Sesseln und schweigen. Aber dann sagt Gott: „Meine Antwort gefällt dir nicht, oder?“ Ich setze mich aufrechter hin. „Doch, schon. Das mit der Liebe ist ja eine gute Sache. Aber ich schaffe das nicht. Ich kann nicht hingehen und desgleichen tun wie der Samariter. Ich sehe so viel Leid, aber ich kann nicht allen helfen und ganz ehrlich: Manchmal will ich es auch gar nicht.“ Keine Ahnung, ob man mit Gott so sprechen darf, aber er wirkt nicht verärgert. Etwas leise antwortet er: „Ja, das ist schwer. Aber vielleicht ist der erste Schritt ja, schonmal kein Räuber zu sein. Sei in der Geschichte wenigstens nicht diejenige, die den Menschen überfällt, halb tot schlägt und sich davon macht. Das ist doch schon mal ein Anfang, oder?“ Ich nicke. Gott fährt fort: „Und dann musst du genau hinhören auf das, was ich gesagt habe. Ich sage nicht: Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!, sondern: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Ich sehe schon, wie du die Stirn runzelst, denn alle Menschen lieben ist ja genauso utopisch wie allen Menschen helfen. Trotzdem ist mir dieses Gebot wichtig. Denn alle so sehr zu lieben, wie man enge Freunde liebt, das geht ja wirklich nicht. Aber es gibt eine Grundform der Liebe. Respekt. Begegne den Menschen mit Respekt. Und meine Güte ja, auch das ist schwer! Aber meine Worte sind auch kein Wohlfühl-Mantra! Sondern meine Worte sollen hier auf der Erde etwas zum Guten bewirken. Und stell dir eine Welt vor, in denen alle sich mit Respekt begegnen. Und wenigstens darum sollte man sich doch bemühen, oder?“ Ich blicke nach unten, weil ich mich ertappt fühle. Zögerlich antworte ich: „Ich wollte dein Gebot nicht kleinreden. Ich wünsche mir so sehr, dass das alles einfacher ist. Ich möchte doch so gerne das Paradies schon hier auf der Erde haben.“ Gott richtet sich auf und blickt mich eindringlich an. „Du kannst nicht allen helfen. Du kannst den Krieg in der Ukraine nicht beenden. Du kannst kein hungerndes Kind im Jemen sättigen. Du kannst noch nicht einmal dem obdachlosen Menschen in der Innenstadt eine Wohnung geben. Aber was du kannst, ist allen mit Respekt zu begegnen. Sieh hin, wo das Leid ist. Fühl mit, wo Angst und Kummer sind. Tröste, wo Tränen fließen. Und wenn du helfen kannst, hilf! Und wenn du nicht helfen kannst, dann akzeptier das, aber ignorier die Betroffenen nicht. Und halte es wie der Samariter: Mitgefühl und Hilfe sind unabhängig davon, wie jemand aussieht, wo jemand herkommt, wer jemand ist.“ 

Ich will zu meiner Tasse Tee greifen, und in dem Moment wache ich auf. Ich sitze im Sessel, aber niemand sitzt mir gegenüber. Das Gespräch mit Gott war nur ein Tagtraum. Nur in meinem Kopf. Aber die Worte klingen in mir nach. Das ewige Leben, das Paradies, das Reich Gottes. Es ist noch nicht gekommen. Aber ich kann davon träumen. Und auch auf der Erde schon einen kleinen Schritt hineinwagen an diesen wunderbaren Ort, wenn ich hingehe und desgleichen tue. Amen.

Unterwegs. Predigtgedanken am 28.8.2022 zu Psalm 122

Heute ist der 122. Psalm unser Predigttext. Liturgisch gehört er zum Israelsonntag, dem 10. Sonntag nach Trinitatis. Wir können ihn als Einladung lesen. Jeder Gang zur Kirche ist eine kleine Wallfahrt. An jedem Sonntag.
 
Psalm 122
1Ich freute mich über die, die mir sagten:
Lasset uns ziehen zum Hause des Herrn!
2Nun stehen unsere Füße
in deinen Toren, Jerusalem.
3Jerusalem ist gebaut als eine Stadt,
in der man zusammenkommen soll,
4wohin die Stämme hinaufziehen,
die Stämme des Herrn,
wie es geboten ist dem Volke Israel,
zu preisen den Namen des Herrn.
5Denn dort stehen Throne zum Gericht,
die Throne des Hauses David.
6Wünschet Jerusalem Frieden!
Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
7Es möge Friede sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen!
8Um meiner Brüder und Freunde willen
will ich dir Frieden wünschen.
9Um des Hauses des Herrn willen, unseres Gottes,
will ich dein Bestes suchen.
 
1 Aufbruch
Einen Weg beschreibt der Psalm. Eine Wallfahrt, eine Pilgerreise. Dreimal im Jahr, so steht es in der Tora, sollen die Glaubenden aufbrechen aus ihrem Alltag und „vor Gott erscheinen“. Die großen Feste. Passah, das Wochenfest und das Laubhüttenfest. Zusammenkommen, Gott danken für alles, was er gibt, etwas mitbringen von den Früchten der Arbeit, Gottes Gegenwart feiern. Ich freute mich über die, die mir sagten: Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN! Der Psalmbeter ist gern aufgebrochen zum Haus Gottes. Offenbar ist er nicht allein gegangen. Er wurde eingeladen zur Reise nach Jerusalem. Ob er es weit hatte oder ganz in der Nähe des Tempels wohnt, wird nicht gesagt. Nur dass er sich gefreut hat.
 
Ich denke zurück an die Male, da ich aufgebrochen bin zu einer Reise voll Vorfreude. Eine Urlaubsreise fällt mir ein mit den Eltern. Am Vorabend konnte ich nicht einschlafen vor Aufregung. Dann weckt mich die Mutter, draußen ist es noch dunkel, kühle Nacht umfängt mich, ich rolle mich auf der Rückbank des Autos zusammen und werde erst wieder wach, als die Morgensonne mich an der Nase kitzelt, hunderte von Kilometern weiter südlich. Vorfreude erfüllt mich. Ich werde die Berge sehen. Die Freundinnen wiedertreffen im Quartier. Die freie Zeit in der Familie genießen und feiern. 
 
Ich denke an den Aufbruch heute, am Sonntagmorgen. Das Weckerklingen. Das Glockenläuten auf der Fahrt zur Kirche, nicht nur bei uns wird zum Gottesdienst gerufen. Der Verkehr ist anders in der Stadt an diesem Morgen. Leute sind unterwegs zu Gottes Haus. Andere Glaubende treffen. Das Schöne vor Gott bringen und das Schwere. Das lebendige Wort hören. Segen erfahren. 
 
Die Pilger sind angekommen. Von weither oder von nahem. Wie jeden Sonntag oder ausnahmsweise, weil sie nur selten kommen. Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Meine Füße sind da, denke ich. Aber was ist mit meinem Kopf? Und wo steht mein Herz? Eine Freundin hat Erfahrung als Pilgerin. Wenn du mit den Füßen gehst, sagt sie, ist die Chance groß, dass Kopf und Herz mitkommen. Sie hat recht. Das Gehen tut gut. Die Zeit, die ich mir für den Weg nehme, ist kostbar. Ob ich nun langsam gehe oder schnell, kilometerweit in Wanderstiefeln oder behutsam, nur wenige kleine Schritte, an der Hand eines anderen. Ich gehe den Weg in die Kirche bewusst. Suche mir einen Platz hier drinnen, nicht zu weit weg vom Altar und nicht zu nah dran. Bleibe einen Moment stehen. In der Kirchentür oder in der Bank. Hier bin ich, Gott. Bringe mit, was mich beschäftigt, das Gute und das Schlimme. Meine Klage und meinen Dank. 
 
2 Blick zurück nach vorn
Der Aufstieg war anstrengend. Die Stadt liegt auf dem Berg. Nun steht der Pilger im Stadttor. Der Blick zu seinen Füßen lässt ihn alle Mühen vergessen. Die großen Stadtmauern. Die Ordnung der Häuser und Straßen. Die prächtigen Gebäude, der Königspalast, die Gerichtshöfe, der Tempel. Von allen Seiten strömen Pilgerscharen dorthin. In diesen Mauern bist du sicher und geborgen. Alles hat seine Ordnung. Hier kommen die Glaubenden zusammen, du bist nicht allein mit deinem Gebet, mit deiner unvernünftigen Hoffnung auf einen unsichtbaren Gott. Die Bauten der Stadt erinnern an die goldenen Zeiten. Als Salomo König war. Der sprichwörtlich weise Herrscher, der sich von Gott ein gehorsames Herz erbat, damit er für sein Volk Gerechtigkeit bewirken könne. Hier sollen sich die Stämme Israels treffen. Einander wahrnehmen als ein Volk. Den Namen Gottes, nicht den eigenen Namen, preisen. Nach seinem Willen fragen. Fest gefügt wie die Steine, sind auch die Beziehungen in der Stadt Gottes. Jeder hat seinen Platz. Jede ihr Dach überm Kopf. Jeder spürt den Glanz der Gegenwart Gottes auf seinem Gesicht. Den liebevollen Blick des Schöpfers.
 
Wenn es jemals so war, ist es Vergangenheit. Oder Zukunft, Vision, Hoffnungsziel. Dass alle zusammenkommen und mit einer Stimme Gott loben. Dass in mir alles zusammenkommt. Das Beten und Reden und Tun. Das Empfangen und Weitergeben, das Wandern und Ausruhen. Dass die verzwickten Beziehungen in Ordnung kommen. Zu manchen, mit denen ich unterwegs bin. Zu denen, mit denen ich ohne es zu wollen auf Kriegsfuß stehe. Zu mir selbst. Zu Gott. Am Ende der Zeit, so verkünden es die Propheten, werden alle Völker zum Gottesberg und in die heilige Stadt kommen. Das Krumme wird gerade. Das Zerbrochene heil. Das Geknickte wird aufgerichtet. Unversöhnliche Gegner werden zu Nachbarn. 
 
Wo ist mein Wallfahrtsort, frage ich mich. Was ist mein heiliger Ort, an dem ich mich an Gottes Gegenwart erinnere und an die Zukunft, die auf mich wartet? Ich nehme mir einen Moment Zeit. Schicke meinen Kopf, mein Herz auf Pilgerreise an einen Ort, an dem ich Gottes Gegenwart gespürt habe. 
 
3 Segenswunsch
Stellen Sie sich vor, Sie sind zu Gast gewesen. Sie waren unterwegs und haben bei Freunden ein Dach überm Kopf gefunden. Einen Platz zum Schlafen. Ein Tischgebet, eine gemeinsame Mahlzeit. Am Ende, zum Abschied, wünschen Sie der Gastgeberin Glück und den Hausbewohnern Frieden und Gesundheit. Wünschet Jerusalem Frieden! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Friede sein in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen! Fünfmal klingt das Wort „Frieden“ an im letzten Teil des Psalms. Shalom, das reimt sich auf Jerushalajim. Shalom bedeutet Wohlergehen, Zufriedenheit, Unversehrtheit, Sicherheit. „Jehi Shalom“, „Möge Friede sein“ ist ein Friedensgruß, ein jüdisches „Ave“ oder „Grüß Gott“. Friede in deinen Mauern und Glück in deinen Palästen. Wir hören die Nachrichten aus dem heutigen Israel, sehen die Bilder. Wie weit entfernt ist die Heilige Stadt in Palästina vom Frieden. Wie dringend nötig das Gebet um Frieden und Glück. Wie nötig war es immer schon, denn es war ja nie wirklich Frieden in seinen Mauern. Es waren nie wirklich selbstlose Herrscher in seinen Palästen, die der Stadt Bestes suchten anstatt den eigenen Vorteil. Auch in unserer Stadt ist kein Friede, hinter so vielen Mauern herrscht Unglück, unter jedem Dach ein Ach. Um meiner Brüder und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes, will ich dein Bestes suchen. Alleine schaffen wir es nicht. Allein kriegen wir nicht mal in unseren Häusern den Frieden hin, nicht in der Stadt und nicht in unserem Land und schon gar nicht auf der ganzen Erde. Darum tut es gut, dass wir zusammenkommen in Gottes Haus. Dreimal im Jahr oder dreißigmal oder auch nur einmal im Leben. Gott danken für das Gute, das er uns sehen lässt. Nach seinem Willen für uns fragen. Uns nach seinem Segen ausstrecken. Und einander in Gottes Namen Frieden wünschen. Danach können wir wieder losgehen. Hinuntersteigen in unseren Alltag. Und weitergehen im Licht unseres Gottes. Amen. 

Unterwegs. Predigtgedanken am 28.8.2022 zu Psalm 122

von Charlotte Scheller

2022-08-07 Josefs Lied. Matthäus 1,18-25 gereimt und nacherzählt

Inspiriert durch Herman van Veens Lied "Was man tut und wo man steht - Du kannst ja wählen". Daraus wurde auch die erste Hälfte des Kehrverses übernommen.

1 Der Satz „Empfangen / durch den Heil'gen Geist“,
ihr sprecht ihn meist / unbekümmert mit.
Ich frag mich nun, / könnt ihr das einfach tun,
ich mein', es ist doch klar, / dass da einer litt.

Wenn du verliebt bist 
und dich für sie aufhebst,
sie höchstens mal küsst,
dann bist du hilflos, 
du fragst dich, was soll das, wie geht das, 
dass sie schwanger ist?

Refr.: Was man tut und wo man steht,
wie man's wendet, wie man's dreht, 
eins ist klar, das Leben geht / so oder so vorbei.
Ob du nach dem Schöpfer fragst, 
ob du Ja zu Jesus sagst,
ob du Mut hast oder zagst, / ist nicht einerlei.
 
2 Mit der Geburt / von Jesus war das so,
es machte mich nicht froh, / dass Maria schwanger war.
Was sollt ich tun, / ich überlegte nun,
dass am wenigsten mies / wär', wenn ich sie verließ‘.
 
Ich geh klammheimlich,
dann wird's nicht so peinlich 
für sie und für mich.
Sie würd' verlassen,
doch würd‘ man sie nicht hassen, 
sie wahrt‘ das Gesicht.

Refr.: Was man tut und wo man steht,
wie man's wendet, wie man's dreht, 
eins ist klar, das Leben geht / so oder so vorbei.
Ob du nach dem Schöpfer fragst, 
ob du Ja zu Jesus sagst,
ob du Mut hast oder zagst, / ist nicht einerlei.
 
3 Kein schlechter Plan, / ich fasste wieder Mut,
doch ging es mir nicht gut / und ich lag lange wach.
Ja, ich schlief kaum, / doch war da dieser Traum,
das heißt, mir ist nicht klar, / was es wirklich war.

Da war ein Lüftchen,
ein winziger Windhauch,
ein Feuer, ein Licht,
War das ein Engel,
ein stiller Begleiter,
ein Fürchte-dich-nicht?
 
4 Der Engel sagt, / ich weiß, du fühlst dich schlecht,
doch hast du nicht ganz recht, / denn du wirst hier gebraucht.
Du bist gefragt / bei dem, was hier beginnt,
weil Jesus, Gottes Kind, / auf Erden Menschen braucht. 

Du wirst jetzt Vater,
Beschützer, Berater,
Vertrauter und Mann.
Wirst beide lieben,
wirst sie nicht betrüben,
nimm Gottes Plan an! 
 
5 Ich sagte Ja, / auch wenn’s nicht einfach war,
weil ich nur Nebel sah / in diesem Gottesplan.
Ich hatte Scheu, / es war alles so neu,
zwar war Maria treu, / doch ich rührte sie nicht an.

Bis dann die Nacht kam,
wo Gottes Sohn zur Welt kam,
zwei Hände voll Leben.
Ein kleines Menschlein,
so zart und vollkommen,
ich hab‘ mich ergeben. 
 
Refr.: Was man tut und wo man steht,
wie man's wendet, wie man's dreht, 
eins ist klar, das Leben geht / so oder so vorbei.
Ob du nach dem Schöpfer fragst, 
ob du Ja zu Jesus sagst,
ob du Mut hast oder zagst, / ist nicht einerlei.

(Charlotte Scheller)

Josefs Lied. Matthäus 1,18-25 gereimt und nacherzählt

Josefs Engels-Traum. Predigtgedanken am 7. August 2022 von Charlotte Scheller und Johanna Bierwirth

Klartext (Charlotte Scheller)
 „Träume sind Schäume“, geht eine Redensart. Wer von uns hat nicht schon mal ein Kind in den Armen gehalten, zitternd, schwer atmend, und in sein verschwitztes Haar gemurmelt: Es ist alles gut. Du hast nur geträumt. Auch als Erwachsene kennen wir Alpträume, die wir nicht leicht abschütteln. Und schöne Träume, die wir festhalten wollen an der Schwelle zum Aufwachen. Die zerplatzen dann oft wie Seifenblasen, werden fortgetragen vom Tag, bloß ein Gefühl bleibt, eine Sehnsucht, nichts Bestimmtes.
 
Josef träumt. Er hat lange wach gelegen. Hat sich hin und her gewälzt in seinem Bett. Nun, da er weiß, seine Verlobte ist schwanger. Eins ist sicher, das Kind ist nicht von ihm. Josef ist fromm und gerecht, der Glaube ist seine Richtschnur. Was soll er tun? Er könnte sich offen von Maria trennen. Dann steht sie als Ehebrecherin da. Im schlimmsten Fall wird sie gesteinigt. Josef fasst einen Plan. Er wird sie heimlich verlassen. Dann kann sie zu ihren Eltern zurück. Sitzen gelassen mit einem Kind. Das wird seinen Heiligenschein als Gerechter trüben, aber ihr wird es das Leben retten. 
 
Der Mensch denkt, aber Gott lenkt. Ein Engel erscheint ihm. Er kennt Josef mit Namen, mit seinem königlichen Stammbaum, er sagt „Josef, du Sohn Davids“ zu ihm und damit ist klar, wo die Reise hingehen soll. Zu Gottes Sohn. Dem wahren König. Er sagt „Fürchte dich nicht“, denn man kann das Fürchten kriegen, wenn es nicht so geht, wie man es sich ausgedacht hat in schlaflosen Nächten. „Fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen, denn was sie empfangen hat, das ist vom Heiligen Geist“. Einen Sohn wird sie gebären. Und er, Josef, soll ihm den Namen Jesus geben, das heißt „Gott rettet“. Das ist dann genau der, den die Propheten an-gekündigt haben, Immanuel, der Gott-Mit-Uns. 
 
Unglaublich. Gottes Engel redet Klartext in diesem Traum und Josef weiß es. Er wacht auf und schmeißt seine klug ausgedachten Pläne über Bord. Der Traum krempelt ihn um, alles, was recht ist, Josef steckt zurück aus Liebe zu Maria, aus Gehorsam zu Gott, wer weiß das schon. Er steht zu Maria. Er hält sich offen für weitere von Gottes seltsamen Wendungen. Er wird nochmal träumen und mit Mutter und Kind nach Ägypten fliehen und ihr Leben retten. Mir geschehe, wie du gesagt hast, sagt Josef und ergibt sich dem Willen Gottes. Legt seine Tatkraft in diesen Willen. Stellt seine Vorbehalte zurück und seine Bedürfnisse. Bis das Kind geboren wird, berührt er Maria nicht. Später wird er selbst noch Vater, sechs Kinder werden ihm und Maria noch geboren und die ganze Zeit bleibt Josef im Hintergrund. 
 
Das möchte ich von Josef lernen. Mich zurücknehmen mit dem, was ich für recht und billig halte. Auf Gottes Stimme hören. Seinen Engel wahrnehmen, nachts im Schlaf, wenn meine Gedanken zur Ruhe kommen. Oder vielleicht auch am Tag. Diesen Engel, der seifenblasenzart meinen Namen sagt und „Fürchte dich nicht“.
 
Innere Stimme (Johanna Bierwirth)
 Am Tag ist alles super laut. So viele Eindrücke, die auf mich einprasseln. Ich kann die eigenen Gedanken gar nicht hören. Wenn ich schlafe, ist die Welt leiser. Die ganz leisen Gedanken, die ich am Tag gar nicht gehört habe, können nun zu Wort kommen. Und manchmal bringen sie mich damit auf eine ganz neue Spur. 
Ein Beispiel: Ich gehe durch die Göttinger Innenstadt, ich muss schnell noch einige Besorgungen machen. Plötzlich läuft mir eine alte Schulfreundin über den Weg, ich nenne sie mal Nina. Ich halte kurz an, will aber eigentlich schnell weiter. Ich frage sie, wie es ihr geht. Ja, ganz gut. Ach ja schön. Na ja, man sieht sich! Und weg. 
 
In der Nacht habe ich einen Traum: Ich gehe durch die Göttinger Innenstadt. Nina liegt auf dem Boden. Ich versuche den Notruf anzurufen, aber meine Finger sind wie gelähmt, ich kriege es irgendwie nicht hin. Ich laufe weg und als ich wiederkomme, ist Nina weg. Ich wache wieder auf. Und denke nach. Hatte Nina nicht viel blasser ausgesehen als sonst? Ich schreibe ihr bei Instagram, ob es ihr wirklich gut geht. Nein, tut es nicht. Studium abgebrochen. Unterbewusst habe ich vielleicht gemerkt, dass es ihr nicht gut geht. Aber in der Eile wollte oder konnte ich es gar nicht wahrhaben. Aber die leisen Stimmen haben mich im Traum daran erinnert.
 
Ich weiß gar nicht, ob dieser Impuls von Gott kommt. Vielleicht ist es ja auch mein Gewissen oder irgendein Teil meines Unterbewusstseins. Irgendwie kommt mir die Vorstellung seltsam vor, dass Gott wie ein Untermieter in meinem Bewusstsein sitzt. Wie frei bin ich dann noch in meinen Entscheidungen? Ich glaube eher daran, dass ich Gottes Botschaft verinnerlicht habe: Achtet aufeinander, helft einander. Als ich von Nina träumte, ist mir kein Engel begegnet und Gott hat auch kein Machtwort gesprochen. Aber eine leise Stimme in mir hat mich an sein Wort erinnert: Achtet aufeinander, helft einander. Und auf diese Stimme habe ich gehört. Und wenn ich so darüber nachdenke, dann war Gott eben dadurch doch in allem gegenwärtig.

Josefs Engels-Traum. Predigtgedanken am 7. August 2022 von Charlotte Scheller und Johanna Bierwirth

Karfreitag: Psalm, Evangelium, Predigt, Gebet und Segen

von Superintendent i.R. Heinz Behrends, Nikolausberg

Mahlfeier zu Hause am Tisch

Gründonnerstag

Der Tag, der an das letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Freunden erinnert. Andachten und Gottesdienste können wir am Fernseher oder im Internet mitfeiern, aber Abendmahl ist nicht virtuell. Es ist leiblich und gegenständlich, zu schmecken und zu sehen, wenn auch nicht zu begreifen: Jesus mitten unter uns. Ich bekomme etwas in meine ausgestreckte Hand, kaue das Brot, schlucke den Wein. Dieses Jahr feiern wir Gründonnerstag so nicht.

Sie können sich zuhause bei einer Mahlzeit an das Abendmahl erinnern. 
  • Sie decken Ihren Tisch einfach und festlich für sich allein oder für die Familie. Vergessen Sie Blumen und Kerzen nicht!
  • Vielleicht haben Sie ein Kreuz oder Sie basteln eins aus Zweigen aus dem Wald oder Garten.
  • Sprechen Sie ein Tischgebet, das Sie kennen, z.B.:
„Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.“

  • Jede/r am Tisch zündet eine Kerze oder ein Teelicht an und sagt dazu einen Dank.
  • Eine/r liest die Geschichte des letzten Abendmahls, Matthäusevangelium Kapitel 26, Vers 18-30:
18 Jesus sagte zu seinen Jüngern: »Geht in die Stadt zu dem und dem Mann – richtet ihm aus: ›Der Lehrer lässt dir sagen: Die Zeit, die Gott für mich bestimmt hat, ist da. Ich will bei dir das Passamahl feiern zusammen mit meinen Jüngern.‹« 19 Die Jünger machten alles so, wie Jesus ihnen aufgetragen hatte. Und sie bereiteten das Passamahl vor. 
20 Als es Abend geworden war, ließ sich Jesus mit den zwölf Jüngern zum Essen nieder. 21 Während sie aßen, sagte er zu ihnen: »Amen, das sage ich euch: Einer von euch wird mich verraten.« 22 Die Jünger waren tief betroffen. Jeder einzelne von ihnen fragte Jesus: »Doch nicht etwa ich, Herr?« 23 Jesus antwortete: »Der sein Brot mit mir in die Schale taucht, der wird mich verraten. 24 Der Menschensohn muss sterben. So ist es in den Heiligen Schriften angekündigt. Wie schrecklich für den Menschen, der den Menschensohn verrät. Er wäre besser nie geboren worden!« 25 Da sagte Judas, der ihn verraten wollte, zu Jesus: »Doch nicht etwa ich, Rabbi?« Jesus antwortete: »Du sagst es!« 26 Beim Essen nahm Jesus ein Brot. Er lobte Gott und dankte ihm dafür. Dann brach er das Brot in Stücke und gab es seinen Jüngern. Er sagte: »Nehmt und esst! Das ist mein Leib.« 27 Dann nahm er den Becher. Er sprach das Dankgebet und gab ihn seinen Jüngern. Er sagte: »Trinkt alle daraus! 28 Das ist mein Blut. Es steht für den Bund, den Gott mit den Menschen schließt. Mein Blut wird für die vielen vergossen werden zur Vergebung ihrer Schuld. 29 Das sage ich euch: Ich werde von jetzt ab keinen Wein mehr trinken.  Erst an dem Tag werde ich mit euch neu davon trinken, wenn mein Vater sein Reich vollendet hat.« 30 Jesus und seine Jünger sangen die Dankpsalmen. Dann gingen sie hinaus zum Ölberg. [Basisbibel]

Sie denken an Abendmahlsfeiern oder tauschen sich darüber aus: 
    •  Mein erstes Abendmahl …
    • Wo war es?
    • Wer hat mit mir vor dem Altar gestanden?
    • Ein Abendmahl, das mir viel bedeutet hat.

  • Sie essen dabei gemeinsam, bedienen sich gegenseitig, achten darauf, was wer braucht, lassen sich Zeit für Gedanken und Gespräch.
  • Zum Schluss sprechen Sie ein Dankgebet, z.B.:
  „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewiglich. Amen.“   

(Quelle: Amelie zu Dohna, Pastorin in Bardowick)

Musik am Mittwoch: Lobe den Herren!

Evangelisches Gesangbuch Nr. 317, Choralbearbeitung von Johann Gottfried Walter und Strophe 4, eingespielt in St. Jacobi von Martin Begemann 4 Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet, der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet. Denke daran, was der Allmächtige kann, der dir mit Liebe begegnet. Text: Joachim Neander 1680, Mel.: Halle 1741

Ein Versprechen. Mittwochsgedanken von Thomas Plate

Aus dem Labyrinth ins Freie. Predigt zum Ostersonntag 2023

zu 1. Korinther 15,19-26 (Charlotte Scheller)

Ein Mosaik im Fußboden der gewaltigen Kathedrale in Frankreich. Zwölf Meter im Durchmesser, eine Christophorus-Kirchenlänge in etwa. In der Kreisfläche ein Weg aus 273 Steinen. Es geht hin und her, in kleinen Schleifen und großen Kurven. Wenn du in die Mitte willst, musst du jedes Viertel des Kreises mehrmals durchwandern. Es bleibt dir kein Schritt erspart. Immer wieder denkst du, jetzt kommst du zum Ziel, und dann geht es ganz nach außen. Die Strecke ist ungefähr so weit wie der Weg von der Kirche bis zu Kuskas Blumengeschäft. Es geht nur in eine Richtung. Verlaufen kann man sich nicht. Höchstens vor der Zeit schlapp machen. Bist du erst in der Mitte angekommen, geht es auf demselben Weg wieder nach draußen. Im Mittelalter, heißt es, haben der Bischof und seine Kirchenleute den Weg durchs Labyrinth getanzt. In der Kathedrale, jedes Jahr am Ostertag. 
 
In Knossos auf Kreta soll in alter Zeit ein gemauertes Labyrinth gewesen sein. In der Mitte hauste der Minotaurus, ein Ungeheuer, dem Menschen geopfert werden mussten. Jedes neunte Jahr, sieben Jungfrauen und sieben junge Männer. Ist das Leben so, ein unüberschaubarer Weg, und in der Mitte oder am Ziel lauert ein Ungeheuer, das einen verschlingt? - Ein Mann pflegt seine Frau. Immer haben sie alles geteilt, Schönes und Schweres, haben sich geliebt und sind zusammen alt geworden. Nun lässt ihr Gedächtnis sie im Stich. Sie versinkt in ihrer eigenen Welt und lässt ihn allein mit der Verantwortung für sie beide. Wo ist der eine Mensch, der mich versteht, wo ist Gott, dem ich vertrauen kann? - Eine Mutter ist mit ihren vier Kindern geflohen. In der Heimat ist Krieg und Gewalt. Aber hier, in der Flüchtlingsunterkunft, ist es trostlos, sie versteht das Land und die Leute nicht, ein Kind ist krank, hilflos steht sie vor Behörden und Ärzten. Ich habe keine Freude mehr, sagt sie. Wo ist Hoffnung zu finden?
 
An die Gemeinde in Korinth schickt der Apostel Paulus einen kräftigen Brief. Die Themen sind: Glaube, Liebe und Hoffnung. Die Hoffnung hat nur einen einzigen Grund: Jesus Christus ist vom Tod auferstanden. Die Hoffnung kennt keine Grenzen, sie hofft einfach mal alles. Für alle Menschen. Paulus schreibt:
 
Wenn wir nur für dieses Leben auf Christus hoffen, sind wir bedauernswerter als alle anderen Menschen.Nun ist Christus aber vom Tod auferweckt worden, und zwar als Erster der Verstorbenen. Denn durch einen Menschen kam der Tod in die Welt. So bringt auch ein Mensch die Auferstehung der Toten. Weil wir mit Adam verbunden sind, müssen wir alle sterben. Weil wir aber mit Christus verbunden sind, werden wir alle lebendig gemacht.
Das geschieht für jeden nach dem Platz, den Gott für ihn bestimmt hat: Als Erster wird Christus auferweckt. Danach, wenn er wiederkommt, folgen alle, die zu ihm gehören.Dann kommt das Ende: Christus übergibt Gott, dem Vater, seine Herrschaft. Zuvor wird jede andere Herrschaft, jede Gewalt und jede Macht vernichtet. Denn Christus muss so lange herrschen, bis Gott ihm alle seine Feinde zu Füßen gelegt hat. Der letzte Feind, den er vernichten wird, ist der Tod (1. Korinther 15,19-26)
 
Was für eine Aussicht! Der Tod wird vernichtet. Darauf läuft alles hinaus. So hat Gott es gewollt von Anfang an, als er die Welt erschuf, als er die Menschen ins Leben rief, als er seinen Sohn auf die Erde schickte, Christus, die lebendige Kraft seines Wortes. Die Frauen kommen zum Grab und sind erschrocken: Das Grab ist leer. Ein Engel ist vom Himmel gekommen. Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier. Er ist auferstanden! Ihr Herz zittert noch vor Furcht, dann bricht die Freude sich Bahn. Sie stürzen davon und erzählen es weiter. Der Herr ist auferstanden! In die Einsamkeit wird eine unwiderstehliche Zuversicht eingelassen. Die letzte Macht des Todes ist gebrochen!
 
Aber es ist Streit entstanden über diese Aussicht. Manche denken, wir brauchen Gott nicht zur Überwindung des Todes. Der moderne Mensch kann das selbst. Die Medizin arbeitet daran, den Tod hinauszuschieben, ihn eines Tages ganz zu überwinden. Auch wenn jetzt noch nicht alles möglich ist. Es ist eine verbreitete Vision: Der Tod ist der letzte Feind, aber eines Tages überwinden wir ihn. 
 
Daran glaube ich nicht. Mensch zu sein heißt sterblich zu sein. Mitten im Leben tritt der Tod uns entgegen. Wer ihn verdrängt, verabschiedet sich von der Wirklichkeit. Das Starke an unserem Glauben ist aber: Ich muss den Tod nicht leugnen. Ich werde ihn auch nicht überwinden. Aber ich werde auch nicht aufhören, darauf zu hoffen, dass am Ende Leben ist. Wie am ersten Ostermorgen. Das leere Grab, dessen Anblick die Frauen zum Zittern bringt und sie dann alles hoffen lässt. Einfach alles! Es gibt ihn noch, den Tod. Aber er wird nicht mehr der Bestimmer sein in unserem Leben. Gott ist der Bestimmer. Er bringt uns das Leben.
 
Das feiern wir an Ostern. Das soll uns bestimmen! Der gekreuzigte Jesus bleibt nicht im Tod. Gott nimmt ihn zu sich auf. Der Tod ist immer noch schrecklich real. Jesus ist wirklich gestorben. Er wurde wirklich begraben. Aber sein Tod behält nicht das letzte Wort. Jesus lässt ihn hinter sich. Er besiegt das Ungeheuer, vor dem wir uns zu Recht fürchten. Damit nimmt er vorweg, was für uns alle verheißen ist. Der Weg führt aus dem Labyrinth hinaus. 
 
Unsterblich werden wir nicht durch Ostern. Aber es braucht auch niemand dem Tod eine letzte Macht einzuräumen. Die Seele darf jubeln und tanzen, wie die Frauen, die vom Grab wegrennen, wie die Gläubigen, die auf dem Labyrinth tanzen. Wie die Christenmenschen in aller Welt, die heute wieder singen, allem Leid zum Trotz: Christ ist erstanden! Vielleicht kennen Sie auch dieses Lied: Lord of the dance. „They cut me down and I leapt up high“, beginnt die letzte Strophe. – Sie haben mich umgeworfen und ich bin wieder aufgesprungen. Hochgeschnellt. Die Seele jubelt und tanzt, denn Ostern ist das Fest des Lebens. 
 
Es gibt ja einen Ausgang aus dem Labyrinth. Manchmal brauchen wir andere, um ihn zu sehen. Ich denke an den Mann, dessen Frau sich schon weit von ihm entfernt hat auf dem Weg des Vergessens. Einmal in der Woche legt er eine alte Schallplatte auf, „ihr Lied“. Er zieht sie aus dem Sessel hoch, nimmt sie in die Arme und wagt, ungeachtet des Rollators, ein Tänzchen mit ihr. Sie ist selig, in dem Moment ist die Vergesslichkeit vergessen und die Liebe ist ewig. Ich denke an die Frau, die der vierfachen Mutter den Rücken stärkt. Sie spricht für sie bei den Behörden. Fährt die Kinder zum Arzt. Hält der Mutter die Hand. Organisiert für Flüchtlinge und Nachbarn ein Fest in der Unterkunft und feiert mit ihnen, allem Leid zum Trotz, fröhlich. 
 
Der aufrechte Gang gehört zu Ostern. Der Tanz aus dem Labyrinth. Jeder von uns darf erhobenen Hauptes gehen. Jede kann schauen, ob sie einer andern dabei helfen kann, sich aufzurichten und der Zukunft entgegen zu gehen. Oder zu tanzen. Denn Christus ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden!