Jesus sagt: Wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. (aus dem Predigttext Markus 10,35-45)
Ich wollte immer einen großen Mann, sagt sie. Einen, zu dem ich aufblicken kann. Und das kann sie. Er ist anderthalb Köpfe größer als sie. Er nennt sie "Kleintje", das heißt Kleine oder Kurze, alle Zärtlichkeit der Welt liegt in diesem Namen. Sie kocht ihm, was er gern isst, auch Braten und Koteletts, obwohl sie Vegetarierin ist und es sie schüttelt, wenn sie an der Fleischtheke steht. Gefühlt tausendmal ist sie umgezogen mit ihm, weil er ruhelos ist nach der Kriegsgefangenschaft, irgendwie nirgends zu Hause, nur bei ihr. Wenn eins der Enkelkinder nach einem Glas Limo fragt, zuckt sie die Achseln. Das kann ich nicht entscheiden. Das musst du den Opa fragen.
Es gab eine Zeit, da hat sie alles allein entscheiden müssen. Drei Söhne hat sie großgezogen. Den ältesten hat sie hamstern geschickt in den Hungerjahren. Als ihr Mann aus der Gefangenschaft zurückkam, hat sie ihm das Leben gerettet. Weil sie sich mit Ernährung auskannte und den von Wassersuppe Ausgezehrten behutsam ans Essen gewöhnte. Liebevoll hat sie ihn gepflegt, bevor er die Familie wieder verließ, um im Westen im Bergwerk zu arbeiten.
Ein halbes Jahr ist sie nun wieder ohne ihn gewesen, hat allein ihre Frau stehen müssen. Dann wartet sie nachts am Bahnwärterhäuschen auf die Gelegenheit zur Flucht. Koffer und Taschen und die drei Kinder. Sie tappen im Gleis an den Schienen entlang durch die Dunkelheit, das Jüngste im Bollerwagen. Endlich sehen sie Licht, ein Haus, sie klopfen an die Tür und werden eingelassen. Sie sind im Westen.
Die Familie ist wieder vereint. Sie umsorgt Ehemann, Kinder und Enkel. Sie nimmt sich zurück. Im Dienen ist sie groß. Sie kann streng sein. Nie ist sie lieblos. Sie betet mit den Kindern vorm Einschlafen. Singt ihnen vor. Keine Mahlzeit ohne Dankgebet. Keine Entscheidung ohne Rücksprache mit Gott. Wenn ihr etwas auf der Seele liegt, legt sie es ihrem Herrn vor. „So kannst du es auch machen“, sagt sie. „Wenn du einen Fehler gemacht hast. Bitte den Herrn Jesus um Verzeihung. Danach versuchst du, es wieder in Ordnung zu bringen“.
Zuletzt gehen ihre Gedanken eigene Wege. Der Verstand ist verwirrt. Das Herz nicht. Wenn im Altenheim die Kirchenlieder gesungen werden, singt sie mit. Ihre Augen leuchten. Ihre Stimme ist klar: „Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, / lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll, / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl“. (Paul Gerhardt, EG 361,7)