Anders gesehen oder: Engelsmoment an der Bushaltestelle

Wed, 09 Jun 2021 17:59:38 +0000 von Charlotte Scheller

Anders gesehen 
oder Engelsmoment an der Bushaltestelle
Dialog von Charlotte Scheller und Anne Dill, anknüpfend an eine Beobachtung in Göttingen-Weende.
Das ungekürzte Gespräch als Audio unter diesem Beitrag.
 
CS: Letzten Samstag bin ich zu Fuß gegangen und an einer Bushaltestelle vorbeigekommen. Als ich vorbei war, habe ich mich noch einmal umgedreht. Ich bin zurückgegangen. Irgendwas war seltsam an der Bushaltestelle. 
 
AD: Was war denn da?
 
CS: Die Bushaltestelle war leer. In der Mitte sind ja immer mehrere unbequeme Hocker an der Wand. Sie hängen in der Luft. In dieser Haltestelle standen rechts und links von diesen Metallhockern zwei Stühle. Ganz bequem, mit gedrechselten Holzbeinen, geschwungenen Lehnen und einem dicken Polster mit Blumenmuster. 
 
AD: Also Küchenstühle?
 
CS: Guck mal, ich habe ein Bild hier.
 
AD: Wirklich wie Küchenstühle! 
Ich sehe da noch etwas. Vorne ist ein ganz abgewrackter Mülleimer. In der Glasscheibe spiegelt sich die Straße. Man sieht mehr von der Straße in der Spiegelung als in der Wirklichkeit. 
 
CS: Über den Hockern hängt der Fahrplan. Ich sehe, dass Autos auf der Straße unterwegs sind. Es ist laut, es ist eine Bushaltestelle. 
 
 
AD: Diese Küchenstühle passen da eigentlich gar nicht hin. Weißt du, woran sie mich erinnern?
 
CS: Nein, woran?
 
AD: An die Küchenstühle von meiner Oma. Die sahen genauso aus. Und es gab noch eine Eckbank dazu. Das war schön in ihrer Küche, wenn wir da am Tisch saßen. 
 
CS: Warum?
 
AD: Weil wir erzählt haben und gegessen und gespielt. Alles an diesem Tisch. Wir haben aus der Schule berichtet und sie hat von früher erzählt. Wir haben überlegt, was wir zusammen machen. Es war so richtig Geborgenheit.
 
CS: Vor meinem inneren Auge sitzen an der Bushaltestelle Leute auf den weichen Stühlen. Die Mitte ist frei. Ich stelle mir vor, was sie sagen:
 
X: Ist die 21 schon durch?
 
Y: Keine Ahnung. Ich muss in die 12.
 
X: Ich muss die 21 unbedingt kriegen! Wenn ich die verpasse, ist meine Mutter wieder sauer. Sie wird mir gar nicht die Tür aufmachen. Wenn ich nicht Punkt zwölf Uhr da bin, macht sie nicht auf. Schon schwierig mit den alten Leuten.
 
Y: Hm.
 
X: Gucken Sie mal, was ich gekauft habe. Hier, der Schlafanzug. Ob ihr der gefallen wird?
 
Y: Keine Ahnung.
 
X: Und die Bluse mit den rosa Punkten. Ich glaube, die wird sie mögen. Ich mache mir Sorgen um sie. Ich komme da hin und bringe ihr die schönen Sachen mit. Aber wenn ich am nächsten Tag wieder anrufe, sagt sie: Das ist ja toll, dass du dich auch mal meldest! Seit einer Woche habe ich nichts von dir gehört!
 
Y: Das ist schlecht.
 
X: Sie sind wohl nicht so gesprächig heute?!
 
Y: Tut mir Leid! Es war einfach ein richtig dummer Tag. Eigentlich bin ich gar nicht so. Aber ich habe verschlafen und dann kam ich zu spät und dann hat mein Chef gemeckert und dann hat das Internet nicht funktioniert. Einfach gar nichts hat geklappt. Und jetzt bin ich auch schon wieder zu spät dran.
 
X: Und dann sitzt hier noch so eine und textet Sie zu. Tut mir wirklich Leid!
 
Y: Nein, so meinte ich das gar nicht. Ich… bin auch auf dem Weg zu meiner Mutter. Die ist auch ganz schön schwierig. Wenn ich komme, sagt sie: Ach, kommst du auch mal? Dann will man eigentlich am liebsten schon wieder gehen.
 
X: Das kann ich mir vorstellen. Ich kenne es. Man hat dauernd ein schlechtes Gewissen, obwohl man weiß, dass man sich um sie kümmert und sie liebhat.
 
Y: Ja, aber irgendwie ist es dann so, als ob es doch nicht genug ist. Und dann ist es schwierig. Sie kennen das ja.
 
X: Oh, die 21 kommt. Ich wünsche Ihnen alles Gute bei Ihrer Mutter!
 
Y: Gleichfalls.
 
CS: Der Bus ist gekommen. Die eine Person ist eingestiegen. Das Gespräch ist zu Ende. Ich denke noch darüber nach. Die Stühle mit dem Polster, die Einladung, sich zu setzen und zu erzählen, erinnern mich an ein Bibelwort: „Gastfrei zu sein, vergesst nicht. So haben einige ohne ihr Wissen schon Engel beherbergt.“ Hebräer 13,2
 
AD: Wo kann ich heute jemandem einen Stuhl hinstellen?
Quelle: Charlotte Scheller
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