zu Johannes 3, 1-13
(ausgehend von einer Predigt von Bernd Abesser in: Werkstatt für Liturgie und Predigt 3/2021, S. 143f)
Manchmal wache ich nachts auf, schrecke hoch aus einem Traum. Und dann liege ich wach. Gedanken rattern durch meinen Kopf wie auf einer Achterbahn. Was die Geschäftigkeit des Tages verdrängt hat, kommt hervor, macht sich breit und ich komme nicht wieder in den Schlaf. Mit jemandem reden wär jetzt gut, aber es ist ja mitten in der Nacht.
„Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Rabbi, wir wissen, dass du ein Lehrer bist, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.“
Was treibt einen um, dem solche Gedanken durch den Kopf gehen? Kann er nicht schlafen oder braucht er den Schutz der Dunkelheit? Warum dieses Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus laut Johannes mitten in der Nacht stattfindet, wissen wir nicht. Ist Nikodemus ein Grenzgänger oder sogar ein Grenzüber-schreiter? Er sucht den auf, der sich durch seinen Anspruch, von Gott zu kommen, über alle gesellschaftliche und religiöse Ordnung gestellt hat. Jesus, Gottessohn und Menschensohn.
Wer in jener Zeit dort unter der römischen Herrschaft und Kultur die Frage nach dem Sinn und Sein des Lebens stellt, kommt an Jesus nicht vorbei. Zu neu, zu radikal ist sein Auftreten, sind seine Worte. Nikodemus fragt nicht, er stellt fest: Rabbi, wir wissen, wer du bist. Wir! Die Pharisäer, die Glaubenswächter, diejenigen, denen Gottes Weisungen so sehr am Herzen liegen wie sonst keinem. Wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen. Keiner sonst kann so unerhörte Dinge tun. Nikodemus fragt sich: Wer ist dieser Jesus wirklich und wie fügt er sich in unsere religiöse Ordnung, unsere Tradition, unseren Jahrhunderte alten und festen Glauben?
Wenn es denn so wäre, Jesus, ein Lehrer von Gott, dann… ja was?
Kommt hier der Messias, auf den alle sehnsüchtig warten? Unerhörte Zeichen, oder soll man sagen Wunder, hat dieser Jesus getan: Wasser zu Wein verwandelt, einen Aufruhr im Tempelvorhof veranstaltet. Und er hat behauptet, den prächtigen Jerusalemer Tempel, immerhin 46 Jahre Bauzeit, in drei Tagen wieder aufzubauen, sollte er abgerissen werden.
Größenwahn! Gotteslästerung!
Was sollen Nikodemus und die Pharisäer von so einem halten, soll man ihn einfach ignorieren oder ist Gott wirklich auf seiner Seite?
Nikodemus muss mit ihm reden. Besser heimlich in der Nacht. Dass er mit Jesus redet, müssen nicht alle wissen. Danach kann er entscheiden.
„Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Und: Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“
Jesus fragt nicht, was Nikodemus eigentlich will. Scheinbar übersieht er, was Nikodemus doch umtreibt, was doch alle umtreibt: Kann wieder heil werden, was zerbrochen ist zwischen uns und Gott, zerstört, verletzt und verloren?
Im Grunde sagt Jesus: Nikodemus, du hast keine Ahnung. Was weißt du schon von Wasser und Geist? Hast du begriffen, was Johannes der Täufer gesagt hat? Nein, denn sonst würdest du nicht mehr fragen.
„Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von Neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeder, der aus dem Geist geboren ist.“
Ja, aber wie soll das gehen? Neu geboren werden, wie soll man das machen? Man wird geboren, das geschieht mit einem; man kann das nicht selbst herbeiführen. Und wenn man schon auf der Welt ist, wie soll das denn funktionieren? Wasser und Geist - ja, du als Christ denkst da an die Taufe. Aber Nikodemus fragt sich selbst und er fragt Jesus: Wie, bitteschön, soll das gehen?
Gegenfrage statt Antwort. Du bist ein Lehrer Israels und weißt das nicht? Du, Pharisäer, angesehener Ausleger der Schrift, vertraut mit den Weisungen des Mose, innig verwurzelt in der Tradition und allen religiösen Regeln und Gebräuchen. Du weißt das nicht? Zwischen Nikodemus und Jesus ein tiefer Graben, vergeblich Nikodemus‘ Bemühungen um ein Gespräch auf Augenhöhe. Nichts ist hier zu spüren vom menschenfreundlichen Jesus. Liebevolle Zuwendung, davon kann hier nicht die Rede sein.
Nein, das ist kein entspanntes theologisches Gespräch, kein tastendes Suchen nach der Wahrheit. Diese Kontroverse zieht sich durch das ganze Johannesevangelium. Johannes legt in diese nächtliche Szene hinein, was ihn selbst umtreibt: der Graben, aufgerissen zwischen jüdischen Lehrern und Judenchristen. Zwischen denen, die nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels sehnsüchtiger denn je auf den Messias warten, und denen, die im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Gottes Retter erkannt haben.
Ich verstehe Johannes so: Wer als Christ getauft ist, neu geboren aus Wasser und Geist, steht schon mit einem Bein in Gottes Reich und wartet nicht mehr. Es schmerzt Johannes, dass andere das nicht erkennen können oder wollen. Dass sie die christlichen Glaubensgeschwister aus den Synagogen vertreiben und ausgrenzen. Sie haben die Zeichen doch auch gesehen!
„Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage? Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn“.
Mag da einer ankommen von den Pharisäern, heimlich, in der Nacht, und Fragen haben, vielleicht eine Ahnung, was da durch Jesus auf diese Welt gekommen ist. Zu spät. Sie begreifen es sowieso nicht. Entweder neu geboren werden oder steckenbleiben im alten Leben. Die Schroffheit in der Rede Jesu ist kaum zu ertragen. Sie zeigt: Es ist ihm ernst. Es geht um Tod oder Leben. Sich ihm zuwenden, die Rettung in ihm sehen und annehmen, bedeutet Leben!
In dem Gespräch gibt es kein Auf Wiedersehen oder Gute Nacht. Nikodemus verschwindet im Dunkel. Wie er sich entscheidet, erfahren wir nicht. Johannes redet ja nicht zu den jüdischen Gelehrten. Er redet zu Christinnen und Christen, die nach Jesus fragen. Er will das Selbstbewusstsein der Christen mit jüdischem Hintergrund stärken.
Auch zweitausend Jahre später ist damit noch nicht alles erledigt. Was bedeutet uns Jesus von Nazareth, von dem Johannes sagt, dass er von Gott gekommen ist? Was ist unsere Hoffnung, unsere Sehnsucht? Darüber kann man durchaus nachts aufwachen und ins Grübeln kommen. Es gibt keine einfachen Antworten. Aber es gibt etwas, das wir dann tun können, wenn wir so wach liegen. Was wir uns von Nikodemus abschauen können: Aufstehen und zu Jesus gehen. Er ist von Gott gekommen. Zu mir! Ich kann ihm meine Fragen vorlegen und meine Ratlosigkeit. Meine Ideen, wie die Welt zu retten wäre. Wie Irdisches und Himmlisches zusammenkommen. Und den Kummer, für den mir die Worte fehlen. Ich bin getauft auf den Namen des Dreieinigen Gottes. Mit Wasser und Geist gesegnet. Das bedeutet: Jesus geht mit mir mit in die Tiefen meiner Fragen. Auch in die tödlichen. Sogar in den Tod geht er mit. Ich werde mit ihm auferstehen. Verstehen kann ich das in meinem Erdendasein nicht. Manches bleibt im Dunkeln in meinem Leben und Glauben.
Martin Luther hat mal gesagt: Ich muss täglich neu hineinkriechen in die Taufe. Eine Art umgekehrte Geburt. Zurückkehren in Gottes Schoß. Denn Seine Gnade reicht, so weit der Himmel ist. Amen.