zu 2. Timotheus 1,1-10
von Studienpraktikantin Anne Schlüter
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Es wird langsam dunkel. Zum ersten Mal an diesem Tag spürt Paulus eine kühle Brise, einen feinen Windhauch, der die heiße Luft in der Zelle für einen Moment von seiner Haut trennt. Durch das kleine, vergitterte Fenster hoch über ihm fallen jetzt die Schatten, welche der Olivenbaum auf dem Gefängnisvorplatz jeden Spätnach-mittag an die Hauswand wirft. Sie tanzen ein wenig an der Zellenwand, an der Wand der Zelle, in der Paulus eingesperrt ist.
von Studienpraktikantin Anne Schlüter
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Es wird langsam dunkel. Zum ersten Mal an diesem Tag spürt Paulus eine kühle Brise, einen feinen Windhauch, der die heiße Luft in der Zelle für einen Moment von seiner Haut trennt. Durch das kleine, vergitterte Fenster hoch über ihm fallen jetzt die Schatten, welche der Olivenbaum auf dem Gefängnisvorplatz jeden Spätnach-mittag an die Hauswand wirft. Sie tanzen ein wenig an der Zellenwand, an der Wand der Zelle, in der Paulus eingesperrt ist.
Seit ein paar Tagen befindet er sich nun hier in Rom. In Jerusalem wurde er von den Römern verhaftet und hierher überführt. Er blickt auf die Wand ihm gegenüber. Plötzlich werden die Schatten vor seinen Augen zu Bildern.
Es sind Bilder der vergangenen Jahre, Bilder all der Orte, die Paulus bereist hat. So vielen Menschen ist er unterwegs begeg-net, so vielen hat er das Evangelium verkündigt, Jungen und Alten, Frauen und Männern, in den Synagogen und auf den großen Plätzen der römischen und griechischen Städte.
Viele sind zum Glauben gekommen, ließen sich taufen, wurden seine Schwestern und Brüder in Christus. Andere hingegen machten ihm das Leben schwer, unvergesslich die Vorwürfe, die Anklagen.
All dies ist jetzt vorbei, niemals wieder wird er jene Orte, jene Menschen sehen. Die Schatten werden länger, wie an jedem anderen Tag. Für Paulus jedoch ist es ein Tag real gewordener Endlichkeit, eine unüberwindbare Grenze zwischen dem was war und dem was ist. Denn Paulus weiß, dass er sterben wird, zum Tode verurteilt. Einen Moment lang verspürt Paulus den Impuls, seine Gedanken wegzuschieben, alle Bilder auszublenden, sich abzulenken.
Erinnerungen können schmerzhaft sein. Manche von ihnen gelten einem Moment, den man am liebsten niemals erlebt hätte. Andere gelten Momenten, denen man hinterhertrauert und die doch nie mehr zurückkommen. Mit den Erinnerungen kommen auch Scham, Trauer, Enttäuschung oder Wut an die Oberfläche des Bewusstseins. Wäre es da nicht einfacher, sich nicht zu erinnern?
Auf den ersten Blick scheint es fast so. Auch Paulus ringt mit sich und der Angst vor den eigenen Gefühlen - der Angst vor dem, was ihm entgegenkommt, wenn er in sein Herz blickt.
Doch Paulus sagt zu sich: Wird nicht gerade aus dem Schmerz heraus das Herrlichste geboren? Hat Gott selbst nicht seinen eigenen Sohn aus der Tiefe des Todes ins Leben zurückgeführt? Nicht weggesehen hat Gott, nicht verdrängt, nein – gelitten hat er, gelitten unter dem Verlust des geliebten Sohnes. 3 Tage lang. Und dann? Mit dem Ostermorgen kommt die Erlösung, die Heilung. Der Auferstandene trägt die Narben – geheilte Wunden. So wie es Erinnerungen gibt, die nicht mehr schmerzen, obwohl sie von Verletzungen zeugen.
Paulus weiß, dass sein Weg zur inneren Heilung gerade erst beginnt. Er spürt auch, dass er ihn gehen muss, um Frieden zu finden. Doch es kostet Kraft, sich dem Schmerz zu stellen und all das zu fühlen, was kaum zu ertragen ist. Paulus hat Angst. Kann er allein überhaupt soviel Kraft aufbringen? Der Apostel schließt die Augen und murmelt: Herr, all meine Kraft kommt aus dir.
Und dann gibt er sich den Erinnerungen hin. Da erscheinen vor seinem Auge vertraute Gesichter. Es sind die Gesichter von zwei Frauen, Lois und Eunike. Welch großartige Gefährtinnen sie ihm gewesen sind! Und da ist auch das Bild von Timotheus, dem Jungen von Eunike.
Paulus spürt die Tränen auf seinen Wangen, heiß und nass suchen sie sich ihren Weg zu seinem Kinn. Wie gerne würde er ihn wiedersehen! Timotheus, der so viel zweifelt. Der sich nicht vorstellen kann, dass Jesus jeden Moment wiederkommt. Timotheus, der sich fragt, wo Gott in dieser Welt denn überhaupt noch zu finden ist. Timotheus, der kaum noch daran glaubt, als Christ einen Unterschied in der Welt zu machen.
Paulus hat Verständnis für Timotheus. Als er selbst sich damals für Christus entschied, schien das Reich Gottes zum Greifen nahe! So verkündigte er vor aller Welt die Botschaft vom Gekreuzigten. Jesus – eines von unzähligen Opfern der Geschichte, ein weiterer sinnloser Tod. Doch etwas ist anders: Sein Tod markiert einen Neunanfang. Denn Jesus wird wiederkommen und Gerechtigkeit für alle walten lassen. Er wird denen das Leben zurückgeben, denen Leid und Schmerzen zugefügt worden sind. Paulus ist davon fest überzeugt. Doch Timotheus gehört zu einer anderen Generation. Bisher ist Christus nicht wiedergekommen. Müssen wir denn alles selbst machen? Bleiben wir am Ende dann nicht ausgebrannt und kraftlos zurück? Soweit Paulus in seiner Zelle.
Es ist nachvollziehbar, dass Timotheus zweifelt und zögert. Mir geht es manchmal sehr ähnlich. Seit dem Tod Jesu sind mittlerweile Jahrtausende vergangen und noch immer regieren tod-bringende Mächte unsere Welt: Armut, Krieg, Ausbeutung, Flucht und Vertreibung. Und dazu kommen noch persönlichen Sorgen und Ängste. Woran also noch festhalten? Das lodernde Feuer des Glaubens, welches einst in Paulus brannte - heruntergebrannt, zu einem kleinen Funken?
Selbst wenn dem so ist, dieser kleine Funke genügt! Gott hat die Menschen nicht sich selbst und ihren selbstgemachten Strukturen über-lassen. Er hat Jesus schließlich von den Toten auferweckt, auch wenn seine Wiederkunft noch aussteht. Gott ist nicht einverstanden mit dem gewaltvollen Tod, mit Verletzung und sinnlosem Leiden. Und er ist mächtiger als menschliche Gewalt, sogar mächtiger als menschliche Todesgewalt. Gottes Gerechtigkeit triumphiert übers Kreuz. Jesus lebt! Und Gott, der das Leben geschaffen hat, begleitet auch uns in Tod und Schmerz, damit wir – wann auch immer - heil werden können.
Noch einmal kehren wir zurück zu Paulus in die Zelle. Auch dort sind zunächst Angst und Schmerz und der Apostel ist allein mit seinen Gefühlen. Statt zu verdrängen entscheidet er sich jedoch dazu, hinzuschauen. Paulus weiß, wie er die Kraft dazu aufbringen kann, denn er kennt die Quelle: Gott bietet uns seine Kraft an und es ist genug für alle da! Die Erinnerungen und sein Herz leiten Paulus zu Timotheus und plötzlich weiß Paulus, was aus seinem Schmerz heute Herrliches geboren werden kann: Er greift zu Papyrus und Tinte und beginnt zu schreiben.
Paulus, nach dem Willen Gottes zum Apostel von Jesus Christus berufen – mit dem Auftrag, das neue Leben zu verkünden. Denn Gott hat es denen versprochen, die zu Christus Jesus gehören. An Timotheus, mein geliebtes Kind.
Ich wünsche dir Gnade, Barmherzigkeit und Friede von Gott, dem Vater und Christus Jesus, unserem Herrn. In meinen Gebeten denke ich unablässig an dich, bei Tag und bei Nacht. Ich habe deinen aufrichtigen Glauben vor Augen. Es ist derselbe Glaube, der schon in deiner Großmutter Lois und in deiner Mutter Eunike wohnte. Und ich bin überzeugt, er wohnt auch in dir. Aus diesem Grund möchte ich dich an etwas erinnern: Fach doch das Feuer der Gabe Gottes wieder an. Denn der Geist, den Gott uns geschenkt hat, lässt uns nicht verzagen. Vielmehr weckt er in uns Kraft, Liebe und Besonnenheit. Gott hat uns gerettet, er hat uns berufen durch seinen heiligen Ruf. Das geschah nicht etwa aufgrund unserer Taten, sondern aus seinem eigenen Entschluss – und aus der Gnade, die er uns schon vor ewigen Zeiten in Christus Jesus geschenkt hat. Aber jetzt wurde diese Gnade offenbar durch das Erscheinen unseres Retters Christus Jesus. Er hat den Tod besiegt. Und er hat durch die Gute Nachricht unvergängliches Leben ans Licht gebracht (aus 2Tim1,1-10).
Der Brief von Paulus liegt jetzt auch bei uns im Briefkasten. Egal ob wir uns gerade als Apostel, als Zweifelnde, als Starke oder als Schwache im Leben und im Glauben verstehen. Was wir damit anfangen, bleibt jedem und jeder selbst überlassen. Amen.
Text: BasisBibel
Text: BasisBibel