Schwere Kost. Predigt zum ersten Fastensonntag, Invocavit, von Charlotte Scheller

Sat, 20 Feb 2021 15:39:33 +0000 von Charlotte Scheller

Johannes 13,21-30
Als Jesus das gesagt hatte, wurde er erregt im Geist und bezeugte und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten. Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ihnen wurde bange, von wem er wohl redete. Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische lag an der Brust Jesu, den hatte Jesus lieb. Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte, wer es wäre, von dem er redete. Da lehnte der sich an die Brust Jesu und fragte ihn: Herr, wer ist’s? Jesus antwortete: Der ist’s, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er nahm den Bissen, tauchte ihn ein und gab ihn Judas, dem Sohn des Simon Iskariot. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tust, das tue bald! Niemand am Tisch aber wusste, wozu er ihm das sagte. Denn einige meinten, weil Judas den Beutel hatte, spräche Jesus zu ihm: Kaufe, was wir zum Fest nötig haben!, oder dass er den Armen etwas geben sollte. Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht.
 
Ein Ausschnitt, ein einzelnes Bild. Der Rest eines schlimmen Traums, nicht zu greifen, aber auch nicht abzuschütteln. Wie ein Alptraum wirkt die Geschichte von Judas. Ein Hochverrat an der Liebe. Eine schlimme Sache, die man sich lieber nicht ins Gedächtnis rufen, über die man möglichst nicht predigen will. Wenigstens nicht zu Beginn der Passionszeit.
 
Aber sie gehört zur Geschichte Jesu, zur Passion, zu unserer Rettung. Sie ist ganz und gar keine Nebensache. Alle Evangelisten erzählen sie, Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, und jeder gibt sein Quäntchen Schärfe dazu. Der Ausschnitt, den wir eben gelesen haben, stammt von Johannes. Wer in seinem Gedächtnis kramt, mag die anderen Puzzleteile wiederfinden, als Blitzlichter in die Geschichte Jesu eingesprengt, fast versteckt unter den anderen Bildern. Judas Iskariot geht zu den Hohepriestern und bietet an, ihnen gegen Geld den Aufenthaltsort Jesu zu verraten. Sie bieten ihm dreißig Silberlinge. Später die Szene mit dem Kuss, im Garten Getsemane. Tausend Maler haben diesen Moment festgehalten, in dem alles, was ein Kuss bedeutet, Liebe, Vertrautheit, Zärtlichkeit, ins Gegenteil verkehrt wird. Jesus wird festgenommen und abgeführt. Und Judas nimmt ein bitteres Ende. Er sieht, dass Jesus zum Tode verurteilt ist. Er bereut, was er getan hat, und erhängt sich. Am liebsten möchten wir das nicht sehen. Vielleicht geht es auch Johannes so. Er zeigt das meiste davon nicht. Was hat er mit Judas im Sinn?
 
Judas ist zum Inbegriff des Verräters geworden. Er lässt den Freund im Stich, als der ihn am meisten braucht. Das schmerzt. Noch schmerzhafter ist das Motiv. Judas hat den Geldbeutel bei sich. Aus Geldgier verrät er Jesus. Manche Ausleger sehen ein anderes Motiv. Judas sei gar kein Verräter, lese ich bei dem Göttinger Theologen Lüdemann. Judas Iskariot. Der Beiname kann Mann aus dem Dorf Kariot heißen. Er könnte aber auch von „Sikariot“ kommen, das hieße dann „Dolchträger“. Möglich, dass Judas ein Dolchträger gewesen ist, Zelot, Guerilla-Kämpfer gegen die römischen Besatzer. Er hat erwartet, dass Jesus mit politischer Macht für die Befreiung seines Volkes kämpft. Im Griechischen steht „ausgeliefert“, nicht „verraten“. Aus Enttäuschung liefert er Jesus aus. Vielleicht will er Jesus provozieren, damit er endlich aus sich herausgeht. Und mit seiner gottgegebenen Macht dem Unrecht, das das Volk leidet, ein Ende setzt. Es wäre nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass eine Freundschaft verraten wird für eine brennende Überzeugung.  
 
Geldgier oder Überzeugung – es ist ein teuflischer Verrat. Der Teufel hat es ihm ins Herz gegeben, meint der Evangelist Johannes zu Beginn des Kapitels. Und jetzt nochmal: Als er den Bissen nahm, den Jesus ihm reichte, fuhr der Satan in ihn. Das macht ihn mir fremd. In Judas kann ich mich nicht wiederfinden, anders als in anderen Jüngern mit ihren Fehlern. Auch Petrus verrät Jesus. Aus Angst um sich selbst. Das kenne ich. Wer hat nicht schon mal beide Augen zugedrückt und gegen die christliche Überzeugung gehandelt. Den einen oder anderen feigen oder bösen Gedanken gehegt. Aber Judas mit seinem tödlichen Verrat bleibt mir fremd. Aus eigener Schuld tritt er aus dem Kreis heraus und wird von der Liste der Jünger gestrichen. Eine tragische Figur, mit der wir persönlich nichts zu tun haben wollen. Ich geh ihm gewöhnlich aus dem Weg.
 
Anders Dietrich Bonhoeffer. Er saß im Gefängnis, weil er sich verantwortlich fühlte und in der Pflicht, etwas gegen Hitler und sein Regime zu tun. Als Christ, als Lehrer, als durch seine Herkunft und Ausbildung Privilegierter. Bonhoeffer hat Judas ganz nah an sich herangelassen. Im Frühjahr 1944 liest er in seiner Gefängniszelle die Leidensgeschichte Jesu. Bei Matthäus. Er stolpert über ein paar Worte gleich zu Beginn: Da ging Judas, einer von den Zwölfen, hin (Mt 26,14). Bonhoeffer schreibt: „Ob wir etwas spüren von dem Grauen, mit dem der Evangelist dieses kleine Satzteilchen geschrieben hat? Judas, einer von den Zwölfen. Was war hier mehr zu sagen? Das heißt doch, es war unmöglich, dass dies geschah, es war ganz unmöglich und es geschah doch. Nein, hier ist nichts mehr zu erklären und verstehen.“ Mit Bonhoeffer begreife ich: Judas, der Verräter, ist keiner von den Anderen. Er kommt aus dem engsten Freundeskreis. Er hat mit Jesus gelebt, er hat neben ihm geschlafen und seinen Worten gelauscht, hat ihm Fragen gestellt, ihn mit Kindern lachen sehen und mit ihm hundertmal das Brot gebrochen. Judas war ganz nah dran am Sohn Gottes. Er kannte seine Botschaft auswendig. Der Verrat kommt nicht von außen, sondern von innen. Der Schrecken, der Bonhoeffer so mitnimmt, ist auch für mich verstörend. Und doch beginnt die Passion mit eben diesem Verrat. Ein Schritt auf dem Weg Jesu, der unsere Rettung ist. Ohne den Verrat des Judas keine Kreuzigung. Ohne den Kreuzestod Jesu keine Auferweckung. Jesus reicht Judas den Bissen, der ihn als Verräter entlarvt. Als ob er selbst den ersten Schritt tut ins Dunkel hinein. Als ob er selbst Satan ermächtigt, sein tödliches Werk zu tun. Dann wäre Judas ein Werkzeug Gottes. Um seinen Plan zu verwirklichen, um uns vom ewigen Tod zu erlösen. 
 
Dann wäre Judas selbst ein Opfer. Dann bräuchte er kein Gewissen zu haben, sondern sich nur auf Gottes Plan zu berufen. Aber Gott will uns als freie Menschen, mit eigenem Urteilsvermögen. Wir sind keine Marionetten des Schöpfers, keine Ausführenden eines bereits zu Ende geschriebenen Stückes. Bonhoeffer graut es eben nicht davor, dass Judas zum Opfer von Gottes Kalkül geworden wäre. Ihm graut es, weil wir als Menschen nicht davor gefeit sind, uns so zu entscheiden, wie Judas es getan hat. Auch Jesus ist die Erschütterung anzumerken, obwohl er doch den Plan kennt. Jesus wurde betrübt in seinem Geist. Einer unter euch wird mich verraten. Einer, der hier mit mir am Tisch sitzt. Ich ahne, was Bonhoeffer meint. In mir selbst ist der Abgrund. In mir selbst entdecke ich die Möglichkeit, Judas ähnlich zu sein, und das macht, dass es mir graut. Wie soll mich diese Geschichte stärken? Sie ist schwere Kost, eigentlich ganz unverdaulich.
 
Als er nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Und es war Nacht. Judas hat sein Heil verwirkt. Er hat sich gegen Jesus entschieden. Er tritt aus dem Licht hinaus und in die Finsternis. Begibt sich selbst außerhalb der Reichweite von Jesus, des Lichts der Welt. Hat sich entlarvt. Entborgen. Ohne Christus steht er absolut nackt da. 
 
Ist er mir wirklich so fremd? Manchmal, in schwarzen Augenblicken, blitzt auch in mir ein Zweifel auf, eine Hoffnungslosigkeit, die dem Verrat nicht unähnlich ist. Die anderen Jünger sind sich auch nicht so sicher. Einer unter euch, hat Jesus beim Abendessen gesagt. Und Petrus fragt den Jünger, den Jesus liebhat, der an seiner Brust liegt beim Festmahl. Das ist nicht ein Liebling, dem Jesus den Vorzug geben würde. Es ist einer, der schon weiß, wie es kommen wird. Einer, der von Ostern her auf das alles schaut. Wer ist es, fragt Petrus ihn, von dem Jesus so redet? Die Unsicherheit ist greifbar: Jeder von uns könnte es sein. Johann Sebastian Bach erzählt das mit seiner Musik. In der Johannes-Passion heißt es: Wer hat dich so geschlagen, mein Heil? Und die Antwort: Ich, ich und meine Sünden, / die sich wie Körnlein finden / des Sandes an dem Meer, / die haben dir erreget / das Elend, das dich schläget, / und das betrübte Marterheer.
Kein Solo, der ganze Chor singt. Wir alle, wir sind’s. Wir haben Jesus Kummer gemacht. Die Worte sind aufrührend. Judas sitzt plötzlich neben mir in der Bank. Ich treffe ihn bei der Vorstandssitzung. Und ich seh ihn im Spiegel, wenn ich mich anziehe für den Gottesdienst. 
 
Bei Bach sind die bestürzenden Worte von der Musik gehalten. Ihr Dichter Paul Gerhardt hat sie wunderbar auf die Melodie eines anderen Liedes gelegt: O Welt, ich muss dich lassen. Am Ende vertraue ich mich dir an, Gott, in Jesus Christus. Am Ende darf ich auch der sein, der an seiner Brust liegt. Denn ich kann jeden Fehler, selbst den tödlichsten, zu ihm bringen und an sein Kreuz legen. Der Theologe Helmut Thielicke hat es so gesagt: „Das Neue Testament ist (…) gute Botschaft für Judas. Jesus ist am Kreuz nicht wegen Judas gestorben, er ist für Judas gestorben. Er ist für die abgründigste Tat des Menschen gestorben, für den schlimmsten Verrat, die gemeinste Geste, die größte Gier. Er ist für uns gestorben. So endet die Geschichte des Judas nicht mit seinem Tod. Sie endet mit Jesu Worten am Kreuz: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ 
Quelle: Anne Dill
Festmahl im Vorderen Orient
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