Sollten die Hirten nicht die Herde weiden? Predigt von Pastorin Anna-Katharina Diehl

Sat, 17 Apr 2021 13:41:56 +0000 von Charlotte Scheller

am Sonntag Misericordias Domini zu Hesekiel 34 in Auswahl
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600 vor Christus:
Ezechiel saß am Fluss von Babylon und war leer. Er fand keine Worte mehr vor Trauer und Mutlosigkeit.
Die Könige und die Minister Israels, die eigentlich hätten Hirten für ihr Volk sein sollen, hatten es stattdessen ins Elend geführt, in die Verbannung. Sie hatten mit den falschen Mächten paktiert, Gefahren falsch eingeschätzt und ihre Armen ausgebeutet. Die Babylonier hatten schließlich den Tempel zerstört und sie aus Jerusalem fortgeschleppt. 
Jetzt saß er hier, weit entfernt von seiner Heimat, in einem fremden Land, und wusste nicht mehr ein noch aus. Doch plötzlich wich seine Resignation und Ezechiel spürte neue Kraft! Er sprang auf und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Er fühlt wieder etwas! Er ist wütend! Und plötzlich verstand er, was da mit ihm geschah: 
Es waren Gottes Worte, die ihn belebten. Gott legte seine eigenen Worte in seinen Mund. Gott selbst sprach durch ihn und klagt an:
Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 
Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. 
Siehe, nun gehe ich gegen die Hirten vor und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.
 
 
Ca. 2121 Jahre später - 1521 nach Christus:
Der junge Theologieprofessor Martin Luther aus Wittenberg wurde durch Kaiser Karl V. in Worms verhört. Er war auf Grund der Inhalte seiner 95 Thesen als Ketzer angeklagt. 
Denn Luther hatte seinerseits angeklagt:
 
Die Bischöfe und den Papst, die eigentlich hätten für ihr Volk Hirten sein sollten. 
Aber in Luthers Augen hatten sie die Menschen kleingehalten, ihnen Angst vor einem strafenden Gott eingeflößt und den Armen mit dem Ablasshandel den letzten Penny genommen. Sie hatten den Menschen den direkten Zugang zu Gott verwehrt, indem sie alles durch ihre kirchlichen Institutionen kontrollierten. 
Wehe den Hirten (…), die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? 
 
Da stand er nun vor dem Kaiser und sollte widerrufen, was er geschrieben hatte. Doch er konnte es nicht. Alles in ihm sträubte sich dagegen. Stattdessen sagte Luther:
„Ich kann und ich will nicht widerrufen, weil weder sicher noch geraten ist, etwas wider das Gewissen zu tun. (…) Ich glaube weder dem Papst noch den Konzilen allein, weil es offensichtlich ist, dass sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben. Gott helfe mir. Amen“.
Luther kam durch das Lesen der Heiligen Schrift zu einem anderen Standpunkt als Bischöfe und Papst. Hatte nicht Gott selbst die selbstsüchtigen Hirten angeklagt, die ihre Herde vernachlässigt hatten?
 
 
Noch einmal 500 Jahre später.
Die Pflegerin Evelyn Müller auf der Intensivstation des Göttinger Klinikums war verzweifelt. Die letzten Tage, Wochen und Monate über hatte sie COVID-19 Patienten an Beatmungsgeräte angeschlossen und versorgt. Viele davon waren gestorben. Aber inzwischen lagen nur noch unter 80-jährige Patienten hier, weil die älteren inzwischen geimpft waren. Die Jüngeren starben nicht so schnell, weil ihr Immunsystem noch stärker war. Deshalb blieben sie länger auf der Station, was zu einer größeren Knappheit der Betten und zu noch mehr Arbeit führte…
Einen Corona-Zuschlag hatte Evelyn trotz der schweren Arbeit noch nicht erhalten. Da gab es noch bürokratische Hürden. Und überhaupt: 
Von ihrem niedrigen Lohn kam Evelyn gerade so über die Runden. Eine grundsätzliche Lohnerhöhung war vor kurzem bei Tarif-Verhandlungen von der katholischen Caritas ausgebremst worden. Und auch die evangelische Diakonie hatte sich ganz passiv verhalten und stillschweigend dabei zugesehen.
In Ihrer Not griff Evelyn zur Bibel und las:
So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten (…), die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? (…)
 
Ja, dachte Evelyn. Predigten die kirchlichen Träger nicht nach außen hin Nächstenliebe und Solidarität mit den Schwachen? Evelyn las weiter:
 
Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. (…)
Ich will meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; (…) Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.
Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr.
 
Wo, um alles in der Welt, war denn dieser Hirten-Gott heute, wo es bei ihr trüb und finster aussah, dachte sich Evelyn. Und warum wurde eigentlich immer von einem Hirten gesprochen? 
War es nicht die Aufgabe eines Hirten, sich liebevoll um die Schwachen, Kranken und Leidenden zu kümmern, was man heute im Volksmunde mit der sogenannten Care-Arbeit bezeichnete? Und wurde diese schwere Aufgabe nicht überwiegend von Frauen verrichtet, die Kinder betreuten oder Eltern und Großeltern pflegten und dafür gar nicht bezahlt wurden oder in schlecht bezahlten Care-Berufen arbeiteten, als Erzieherin oder, wie Sie selbst, Evelyn, als Intensivkrankenschwester?  
Waren es nicht überwiegend Männer, die seit Jahren die Politik in Staat und die Kirchen dominierten? Die eigentlich hätten Hirten sein sollen aber sich dann persönlich bereicherten, wie neulich erst wieder bei der Maskenaffäre?
Für Evelyn stand fest: Der Gott, der sie suchte und sie erretten wollte aus ihrem trüben und finsteren Ort, der Gott, der ihr nachging, ihr beistand und sie verstand, dieser Gott war kein Hirte. Er war eine Hirtin. 
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.
Amen.
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