zu Rut 1,1-19a von Anne Dill und Charlotte Scheller
I. Friedhof St. Petri Weende
I. Friedhof St. Petri Weende
CS Ein Spaziergang auf dem Friedhof St. Petri. Oft bin ich schon hier gewesen, habe Menschen zu ihrer letzten Ruhestätte geleitet und Trauernde begleitet. Manche Namen auf den Grabsteinen sind mir bekannt. Viele kenne ich nicht. Aber ich lese die Namen und die Jahreszahlen, wann sie geboren und wann sie gestorben sind.
Ein Stein ist wie ein Buch geformt, wie meine Bibel. Und darin, in meiner Bibel, finde ich eine Geschichte, die ganz lebendig erzählt ist. Von einer Frau, deren Namen wir kennen. Aber wir haben keine Jahreszahl, wann sie geboren ist oder wann sie gestorben ist. Die Geschichte ist noch viel älter als die Steine hier.
AD Rut heißt diese Frau. Eigentlich ging es ihr richtig gut. Sie hat einen Mann gefunden, den sie liebhat, und ihn geheiratet. Aber dann ist ihr Mann gestorben. Und sie ist allein zurückgeblieben. Ohne den geliebten Mann an ihrer Seite und auch ohne ein Kind. Sie ist schon viel zu selbstständig, um in das Haus ihrer Eltern zurückzukehren. Und so ist sie allein. Obwohl – ganz allein ist sie auch nicht.
CS Sie hat noch ihre Schwiegermutter, Noomi. Aber Noomi ist sehr traurig. Sie hat ihren Sohn verloren und auch ihren anderen Sohn. Und sie hat vor längerer Zeit schon ihren Mann verloren. Mit ihm ist sie aus der Heimat gekommen, aus Bethlehem. Und jetzt sind sie hier, in einem fremden Land. Eine Weile haben sie hier schon gelebt. Alles, was sie sich mit ihm aufgebaut hat, ist Vergangenheit. Noomi will in ihr Land zurückgehen. Ihre beiden Schwiegertöchter, Orpa und Rut, schickt sie nach Hause. „Geht zurück in euer Elternhaus. Ihr könnt euch etwas Neues aufbauen“.
AD Aber die beiden wollen nicht. Sie sagen: Wir kommen mit dir. Du sollst nicht allein auf diese weite und gefährliche Reise gehen. Komm, wir gehn zusammen los!“
CS Noomi lehnt ab. Dreimal sagt sie: „Geht nach Hause, Schwiegertöchter. Gott segne euch! Gott, der mir das alles angetan hat, wird euch segnen!“
AD Und dann guckt Orpa sie an und umarmt sie ein letztes Mal und küsst sie ein letztes Mal. Sie dreht sich um und geht zurück in ihre Heimat. Aber Rut bleibt und sagt: „Hör auf, auf mich einzureden. Ich weiß ganz genau, was ich hier tue. Ich bleib bei dir. Ich hab dich lieb. Denn dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du hingehst, da will auch hingehn und wo du bleibst, da bleibe ich auch. Gott tue mir dies oder das, aber nur der Tod wird uns trennen.“
CS Dagegen kommt Noomi nicht mehr an. Gegen so viel Entschlossenheit uns so viel Treue. Sie willigt ein.
AD Komm, wir gehen!
II. Zwischen den Wohnblöcken an der Goßlerstraße
CS Mich rührt sie an, Noomi, die Ältere. Sie lässt es darauf ankommen: Gott, bring mich nach Hause. Oder bring mich um. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Mein Leben ist zu Ende. Oder es fängt neu an. Ich spüre auch ihre Sehnsucht nach der Heimat, nach der Kindheit, wo alles in Ordnung ist. Hier, in Moab, erinnert sie alles an ihren Mann und ihre Söhne, die sie verloren hat. Sie ist sehr widersprüchlich. Und das mag ich an ihr. Ihr Name, Noomi, bedeutet „die Liebevolle“. Und liebevoll ist sie auch. Sie ist liebevoll zu ihren Schwiegertöchtern. Obwohl sie sagt, Gottes Hand war gegen mich gerichtet, betet sie zu diesem Gott, dass er die Schwiegertöchter segnet. Darin fühle ich mich ihr auch nah: Wenn ich manchmal gar nichts mehr weiß, wie mein Leben weitergeht, was ich mit mir anfangen soll, wenn alles auf dem Spiel steht – dann kann ich nur noch mein Herz in die Hand nehmen und sagen: Begleite mich, Gott. Bring mich nach Hause. Mach du was aus meinem Leben. Geh mit mir.
AD Ich mag Rut. Sie ist jung und mutig. Sie geht in die ungewisse Zukunft. In ein neues Land, das sie nicht kennt. Und die einzige Person an ihrer Seite ist ihre Schwiegermutter. Rut weiß gar nicht, was da auf sie zukommt. Aber sie sagt: „Ich gehe mit Dir.“
Das, was sie macht, ist eigentlich total unlogisch. Alle logischen Gründe sprechen dagegen. Aber Rut hört auf ihr Herz. Auf das, was sie tief innen drin fühlt. Dem geht sie nach.
So kann Gott an ihr, an ihrer Treue und Anhänglichkeit zeigen, dass er da ist. Er begleitet seine Menschen. Auch, wenn sie noch gar nicht zu seinem Volk gehören.
III. „Grüne Mitte“ Christophorus
CS Wir befinden uns in der „Grünen Mitte“. Auf der einen Seite die Christophoruskirche, auf der anderen Seite die Diakonie Christophorus.
AD Hinter diesen Fenstern leben viele Bewohnerinnen und Bewohner des Christophorushauses. Die, die sich um sie kümmern, sind ganz liebevoll für sie da. Sie nehmen sie in die Arme. Sie helfen ihnen auf die Füße. Sie sind so liebevoll füreinander da, als ob sie eine Familie wären. Dabei sind sie gar nicht verwandt. Aber das ist hier nicht wichtig.
CS Liebevoll füreinander da – ich denke an eine ältere Frau. Wir mussten ihren Sohn begraben. Ihre Trauer war so groß, dass sie sich zu Hause eingeschlossen hat. Sie hat keine Anrufe beantwortet, keine Musik gehört, ist nicht mehr rausgegangen. Bis ihre Freundin kam. Die hat Sturm geklingelt an der Tür. Die Frau musste einfach aufmachen. Die andere hat von unten gerufen: „Zieh dich an! Komm runter, wir gehen essen.“
Das haben sie dann gemacht. So hat die Freundin sie wieder ins Leben geleitet. Der Name „Rut“ heißt auch „Freundin“.
AD Ich denke an zwei andere Freundinnen, junge Frauen. Die eine bleibt treu an der Seite der anderen. Die hat ein Bewerbungsgespräch. Sie denkt, dass ihre ganze Zukunft davon abhängt. Die Freundin sagt zu ihr: „Ich komme mit. Du musst da nicht alleine hinfahren.“ Aber die Bewerberin wimmelt ab und sagt: „Nein! Ich weiß, es geht dir selbst gerade nicht gut. Du musst nicht mitkommen.“ Aber sie sagt: „Hör auf, auf mich einzureden! Ich fahre dich dahin.“ Und bevor sie dann später wieder zurückfahren, zieht sie auf einmal aus ihrer Tasche Sekt. Alkoholfrei. Und Schokolade. Und dann stoßen sie an.
CS Rut und Noomi sind nicht blutsverwandt. Ich sehe, es können auch Nachbarinnen sein, die füreinander da sind.
AD und CS:
Oder Kolleginnen.
Generationenunabhängig.
Mit Tränen. Schwüren. Versprechen.
Oder ganz unspektakulär.
Egal, ob wir uns ausgesucht haben.
Oder ob wir gar nicht zueinander passen.
Einfach, weil unsere Wege sich gekreuzt haben.
Weil wir eine Freude teilen. Oder einen Schmerz.
Weil Gott uns dies oder das getan hat.
Oder eben nicht.
IV. Am Taufbecken in der Christophoruskirche
CS und AD:
Endlich ist der lange Weg vorbei. Noomi und Rut sind angekommen.
In Bethlehem, in Noomis Heimatstadt.
Vor langer Zeit ist Noomi weggegangen, weil es hier kein Brot gab.
Jetzt ist sie wiedergekommen, weil es Brot gibt.
Seltsam! Sie sind in Beth-Lehem. Das heißt „Haus des Brotes“.
In Bethlehem kreuzen sich die Wege von verschiedenen Menschen aus verschiedenen Zeiten.
Der große König David stammt von hier.
Und glaubt man dem Evangelisten Matthäus, dann ist Rut eine der Stammmütter von Jesus.
Jesus ist in Bethlehem geboren.
Er ist geboren als unser Retter und unser Erlöser.
Wir sind auf den Namen von Jesus getauft. In seinen Tod und in seine Auferstehung hinein.
Jesus verbindet uns zu einer Familie.
Auch, wenn wir gar nicht zusammenpassen.
Auch, wenn wir uns einander nicht ausgesucht haben.
Jesus hält unsere Hoffnung hoch.
Auch, wenn es gar nichts mehr zu hoffen gibt.
Wenn Gott uns dies oder das getan hat.
Oder eben nicht getan hat.
Unsere Wege kreuzen sich in Jesus.
Amen.