Jetzt ist die Stunde! Weihnachtspredigt 2020 aus Christophorus

Thu, 24 Dec 2020 18:11:54 +0000 von Charlotte Scheller

zu Jesaja 11,1-10 von Anne Dill und Charlotte Scheller

CS Als ich ein Kind war, liebte ich vor Weihnachten besonders die Bilder und Geschichten, die von der himmlischen Werkstatt handelten. Viele Engel saßen an einem großen Tisch im Himmel. Dort war es sehr hell, alles glitzerte und sie schnitten und malten und klebten und bereiteten unsere Weihnachtsgeschenke vor. Ich mochte diese Geschichten auch noch, als ich schon lange nicht mehr glaubte, dass Engel sowas tun. Auf der Spitze unseres Christbaums musste ein Rauschgoldengel sein, wie es in Nürnberg üblich ist. So kam etwas von dem Glanz und dem Zauber der himmlischen Welt in unser Zuhause. 
 
AD Aber dieses Jahr passt es nicht. Die Familie feiert nicht zusammen, nur wenig Besuch über die Feiertage. Auch damals hat es nicht gepasst. Eine Hochschwangere, die sich auf eine weite Reise machen muss. Auf dem Rücken eines Esels, so stelle ich es mir vor. Bequem ist das nicht. Mindestens acht Tage werden sie unterwegs gewesen sein. Dann kommen sie an in Bethlehem und sie sind unerwünscht. Zuviel. Nur zwei von Vielen, für die es keinen Platz mehr gibt. Schließlich kriegen sie den Stall zugewiesen. Und dort wird das Kind geboren. 
An dieser Geschichte passt nicht viel zusammen. Von einer Hebamme, die Maria hilft, wird nichts berichtet. Maria und Josef sind allein in dieser Stunde. Auf sich gestellt. Vielleicht ist es ihnen ganz recht so. Niemand Fremdes, der sich einmischt. Aber vielleicht hätten sie sich auch jemanden an ihrer Seite gewünscht. Jemanden, der zumindest den Anschein erweckt, dass er für Ordnung und Struktur sorgt. Aber so ist es nicht. Das Kind wird mitten in der Nacht geboren. In der Dunkelheit und in der Kälte. Unter unwürdigen Bedingungen. Das ist die Zeit, die Gott ausgesucht hat. Kein Glanz, keine große Feier. Nach menschlichen Maßstäben passt es nicht. 
 
CS Die Hirtin aus der Weihnachtsgeschichte, die zuerst beim Stall angekommen ist, hat auch gedacht, es passt nicht. Sie hat nicht geglaubt, dass in ihrem Leben einmal ein Herr sie einlädt, zu ihm zu kommen. Nun kommt sie zum Stall und tritt ein in diesen besonderen Raum. Da liegt ein Neugeborenes in der Futterkrippe. Die Engel haben es den Hirten gesungen, nachts im Dunkeln auf dem Feld: Gott schickt seinen Retter, ein neugeborenes Kind. Es ist für euch geboren. Ihr seid die Ersten, die es sehen sollen! Die Hirtin schaut auf die kleinen Hände. Auf das winzige Wesen, fest eingepackt in Windeln. Sie denkt an die alte Weissagung: „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN.“
 
Die bisherigen Herren, auch die großartigsten, haben sich tot regiert. Die Dynastie des legendären Königs David ist ein abgestorbener Stumpf. Gott lässt einen neuen Herrn aufwachsen. Einen zarten Trieb. Der muss geschützt werden. Und gleichzeitig bringt er den Himmel zu uns herein. Ein Baby. „Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.“ Wenn er groß ist, werden ihm Treue und Gerechtigkeit so nah sein wie die Kleidung, die er auf dem Leib trägt. 
 
AD Man kann das auch andersrum sehen. Da, wo Treue und Gerechtigkeit sind, ist dieser Retter. „Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören“. Es gibt Momente, in denen man mehr sieht, als die Augen sehen. In denen man hinter das schaut, was ist: Zwei Menschen am Küchentisch. Das Gespräch kocht hoch, sie beginnen zu streiten. Es wird unfair. Ein Wort gibt das andere. Einer greift an, der andere schlägt zurück. Dann verschiebt sich der Fokus des Gesprächs. Für einen kurzen Moment ist klar: Es geht gar nicht um die Beziehung zwischen den beiden. Es ist eine andere Verletzung, die der eine schon lange mit sich herumträgt. Er fühlt sich allein gelassen, lange schon, von denen, die das Sagen haben. Die Regeln werden an ihm vorbei gemacht. Er möchte gesehen werden. Sein Gegenüber erkennt das in diesem Moment. Der Streit ist vorbei. Für einen kurzen Moment ist die Wahrheit hinter der Wahrheit aufgeschienen. In diesem Augenblick ist Frieden. Sie wissen, wir bleiben einander treu. Auch wenn wir unterschiedliche Vorstellungen haben von dem, was Recht ist. „Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften“.
 
CS Hier geht es nicht einfach um die Kleidung, die der Retter auf dem Leib trägt. Es ist die spezielle Kleidung, die er um die Hüften trägt, nah an den Lenden. Hier wird etwas gezeugt. Ein neuer Sprössling aus der alten, verrotteten Wurzel der Herrschenden. Ein Mensch. Gott zeigt in ihm: Ich bin treu. Ich bringe Gerechtigkeit für die, die sonst nicht gesehen werden. 
 
AD Am Anfang ist dieser Spross ganz zart. Man muss ihn behüten, damit er nicht zerbricht. Es dauert, bis er groß und stark wird. Und doch steckt in ihm schon die Kraft eines ganzen Lebens. Ich erinnere mich noch, als mein neu geborener Bruder in seinem Körbchen lag. Obwohl ich noch gar nicht richtig laufen konnte, habe ich mich hochgezogen. Ich wollte ihn unbedingt sehen. Ich wusste, dieses kleine Wesen ist etwas Besonderes. 
 
CS Die Hirten in Bethlehem kriegen nicht viel zu sehen. Ein Baby in einem Stall. Später in Jerusalem ein gebrochener Mann am Kreuz. Und doch bekennen sich seit seinem Tod überall auf der Welt Männer und Frauen zu diesem schwachen Herrn. Unabhängig davon, welcher Herrscher das Land regiert. Christus ist der Retter. Geboren, gekreuzigt, gestorben und auferstanden als erster von uns. Er ist uns so nah ist wie die Kleider, die wir am Leib tragen. Wenn er unser Herr ist, trägt auch das, was wir tun, Frucht.
In Polen, hörte ich, sitzt man am Heiligen Abend lange am Tisch. Um Mitternacht wird angestoßen. Jeder wünscht jedem „Frohe Weihnachten“. Die Gläser klingen aneinander. Einer vergibt dem anderen ausdrücklich alles Unrecht und jede Beleidung des vergangenen Jahres. So wird Friede auf Erden.
 
AD Überall wird jetzt Weihnachten gefeiert. Obwohl es gerade gar nicht passt. Aber Gott sucht diese Stunde aus. Er braucht kein durchgeplantes Fest. Er kommt in das Ungeplante, in unser Durcheinander. Wir müssen die Welt nicht für diesen einen Abend besser machen. Wir können es auch gar nicht. Gott kommt genau da hin, wo nicht alles gut ist. Sein Friede ist größer als alles, was wir uns vorstellen können. 
 
CS Sein Friede macht meinen Horizont größer. Wenn ich aus dem Fenster meines Büros schaue, sehe ich einen riesengroßen Weihnachtsmann. Er steht auf dem Balkon einer Wohngruppe. Hinter dem Fenster Männer und Frauen in Rollstühlen oder Gitterbetten. Diejenigen, die sich um ihr Wohl kümmern, geben ihre ganze Liebe, damit sie etwas von der Weihnachtsfreude spüren. Was damals in Bethlehem geschah, kann an jedem anderen Ort geschehen. Jederzeit. Amen.
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