Karfreitags-Predigt und Gebet von Sup.i.R. Heinz Behrends

Thu, 09 Apr 2020 20:42:31 +0000 von Charlotte Scheller

Predigt
(Psalm, Lesung, Predigt, Gebet und Segen als Audio-Datei hier: 
Hast Du schon mal viele Tote auf einem Haufen gesehen
?
Ja, auf Fotos, in der Tagesschau. Särge. Bilder dieser Tage aus Italien. Oder aus New York. Kühltransporter, die am Hinterausgang der Kliniken auf die nächsten Särge warten. Die vielen Verstorbenen in der Corona-Pandemie.
Ja, und die Fotos aus Buchenwald? Tote unverhüllt. Die Amerikaner fanden sie vor, als die Nazis, die banalen Bösen, geflohen waren? Abgemagerte Leichen zu Bergen gestapelt. Brillen, Schuhe, Gebisse fein getrennt wie wir heute den Müll trennen! Fotos sind das.

Hast Du schon mal persönlich einen Menschen sterben sehen?
Du sitzt an seinem Bett und hältst aus. Da ist ein großes Geheimnis mit dir im Raum. Der Sterbende spricht nicht mehr, du nimmst jede Reaktion intensiv auf. Ein ganzes Leben geht dir noch einmal durch den Kopf. Du denkst an vieles, aber nicht an deinen eigenen Tod.
Aber später oder vorher, da ist plötzlich der Gedanke da. Du wirst auch einmal sterben.

Hast du schon einmal deinen eigenen Tod gesehen?
Nein? Oder doch? Als Kind war das manchmal so. In einer Phase von stillem Trotz, wo ich mich nicht beachtet fühlte, da habe ich mich tot gesehen. Ich bin tot und sehe die anderen auf meiner Trauerfeier. Sie bekommen endlich ein schlechtes Gewissen, dass sie sich nicht um mich gekümmert haben. Später, in Situationen großer Verzweiflung habe ich mich bei diesem Gedanken wieder erwischt. Aber nicht nur in diesen durchschaubaren Situationen habe ich meinen Tod gesehen. Bei jeder Beerdigung, wenn ich ins Grab sehe, 3 x Erde werfe, ist mir mein eigener Tod nahe. Das hat was Erregendes, etwas ganz Fundamentales. Manchmal erschreckend, aber auch beruhigend. Dieser Hauch des Lebens, der letzte Atemzug.

Hast du Jesus schon sterben sehen?
Ja, schon sehr oft, habe ein Kreuz in der Kirche, auf einem Bild betrachtet, betrachtet aus einer Distanz. Eine Bildbetrachtung. Als Grünewald dieses ästhetische Erleben um 1510 mit seinem Isenheimer Altar durchbrach, war da ein großer Aufschrei. Wie kann man das so genau darstellen! Für uns ist es mittlerweile wieder eine Kunstbetrachtung wie im Museum. Ästhetisches Erlebnis.

Noch schneller und besser sind wir, wenn es um den Umgang mit dem Sterben Jesu geht, auf der Deute-Ebene, der intellektuellen Ebene. Und da bietet uns ja die Bibel und so manche Predigt eine Fülle von Antworten an.

Jesus vertritt uns.
Die Menschen damals nehmen ihre Bibel, das Alte Testament zur Hilfe, das Kreuz zu deuten und sagen: Es bedarf eines Vermittlers zwischen Menschen und Gott, sagen sie.
Mose war einer, Elia und Jesus auch. Er vertritt uns vor Gott. Er handelt stellvertretend für uns. Gut, damit kann ich was anfangen. Stellvertretend handeln, das muss ich als Vater auch, solange die Kinder noch nicht auf eigenen Beinen stehen.

Er leidet stellvertretend. „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“. Das kann ich auch nachvollziehen. Nelson Mandela z. B. hat in 20 Jahren Gefängnis den Gedanken der Freiheit für alle Schwarzen wachgehalten, dass viele sich daran aufrichten konnten. Aber damit habe ich das Geheimnis des Kreuzes noch nicht erfasst. Es gibt viele Menschen, die viel länger und viel mehr gelitten haben als Christus.

Jesus ist stellvertretend gestorben. Das kenne ich auch. Wie viele Märtyrer in unserer Geschichte sind um einer Wahrheit willen gestorben: Gandhi, Bonhoeffer, Kolbe, und Jesus für Barrabas. Aber habe ich das Geheimnis des Kreuzes damit erfasst?

Er ist für meine Sünden gestorben: Selbst diesen Gedanken kann ich noch mit vollziehen. Das gibt es, dass jemand für einen anderen den Kopf hinhält.
Dass sich ein Mensch aus Liebe opfert, kenne ich. In einer Ehe ist ständig Krieg. Die Mutter versucht durch Verzicht, ihr Kind zu schützen und hält viel aus. Der Junge spürt, dass Mutter die eigenen Interessen bis zum Unglück unterdrückt, sich opfert und Garant seines Lebens ist. Irgendwann flippt Mutter völlig aus. Der Junge hat das Gefühl, er sei schuld am Unglück der Mutter. Mutter stirbt früh. Eine tiefe Wunde reißt in seine Seele. Opfer aus Liebe gibt es.

Aber habe ich das Geheimnis des Kreuzes verstanden? Ich denke, nein.

Gott opfert seinen Sohn
Gott ist zornig über die Sünde der Menschen und muss in seinem Zorn durch ein Blutopfer befriedigt werden und opfert seinen eigenen Sohn. Da hört mein Verständnis auf. Welch blutrünstiges Gottesbild! Eine alte vorchristliche Deutung - durch das Alte Testament verstärkt - fließt in die Deutung des Kreuzes ein. Gott braucht Befriedigung für seinen Zorn über unsere Sünde. Er bringt seinen Sohn um, damit er mit uns zufriedengestellt wird. Was tobt sich da in Phantasien ab. Wie viele Passionslieder sind von diesem Gedanken besetzt. Ich möchte ihn nie mehr denken. Als ich das in einer Rundfunkandacht einmal sagte, hatte ich hinterher böse Anrufe. „Sie verwirren die Menschen“, mailte mir ein empörter Hörer. Selbst ein Theologieprofessor aus Göttingen beschimpfte mich öffentlich. Trotzdem, unmöglich die Deutung.

Darum alle Deutungen beiseite.
Ich schaue noch einmal in die Geschichte. Matthäus, Markus und Lukas sind mir dabei eine Hilfe. Sie deuten in ihrem Bericht des Todes Jesu nicht, sie beschreiben.
Hast du Jesus schon einmal sterben sehen? Sie schütten ihm Galle in den Wein. Das ist zum Kotzen. Sie ziehen ihm die Kleider aus und stellen ihn bloß. Du liegst im Sterben und die Erben kloppen sich. Pilatus weiß über Jesus Bescheid, aber er folgt der Gunst des Volkes. Kaiphas weiß Bescheid, aber er will lieber Blut des einen als das vieler. Petrus verspricht Treue und leugnet. Judas will anstacheln zum Handeln und bewirkt das Gegenteil. Selbst Simon trägt das Kreuz gegen seinen Willen. Sie handeln alle aus Angst. Sie sind nicht, was sie sein möchten. Sie können sich nicht fallen lassen. Jesus setzt an die Stelle der Angst sein ganzes Vertrauen.

Das ist meine Deutung des Kreuzes, wenn Sie so wollen: Nicht Gott hat seinen Sohn geopfert zur Versöhnung. Sondern Jesus hat ein Leben gelebt, wie Gott es für uns gedacht hat. Diesem Leben und diesem Gott, seinem Vater ist er treu geblieben. Er hat sich diesem Leben und diesem Gott anvertraut.

Das Kreuz, das ist das Bild großer Hingabe.
Ich ahne ihre Kraft. Im Sterben lerne ich meine absolute Bedürftigkeit.
Ich kann und muss nichts mehr tun. Ich lasse alles los. Kann es sein, dass ich Gott dort am nächsten bin? Weil ich auf mich selbst verzichten muss? Welche Liebe dort am Kreuz Jesu!
Ich sehe auf seine Wunden und versuche, das auszuhalten. „Mich in das große Meer der Liebe zu versenken.“ Wenn wir mit jemandem eine Angstpartie durchstehen, sagen wir: „Ich wäre fast mit dir gestorben.“ Hast du seinen Tod gesehen? Ja, und er ist so etwas wie ein stellvertretender Tod. In ihm sehe ich meine Unfähigkeit zu glauben und meine eigene Gottesferne. Sie beschämt mich heute. Und darum bin ich ihm und mir ganz nahe.
Christus ist am Kreuz der Handelnde. Er handelt in seinem großen Vertrauen gegenüber seinem Vater. Gott, sein Vater, bestätigt ihn durch die Auferstehung. Es ist die Liebe Christi, nicht das Bedürfnis Gottes, dass Blut fließt.

Jetzt müssen wir noch eines klären.
In der Liturgie des Abendmahls sagen wir: Christi Leib für dich gegeben, Christi Blut für dich vergossen.
Es scheint allem zu widersprechen, was ich bisher gesagt habe. Die Liturgie leitet sich von Paulus 1.Kor 11 ab. Da steht das so.
Ich halte mich an Lukas.
Dort heißt es: dies ist mein Leib für dich gegeben, dies ist der Kelch in meinem Blut für euch vergossen.

Vergleichspunkt sind Leib und Kelch. Also die Verbundenheit mit Christus und die Gemeinschaft derer, die zu seinem Leib gehören.
Ich weiß, ich stolpere noch.
Brauche ich das? Dass er für mich stirbt? Will ich das? Für meine Sünde? Bin ich ein schlechter Mensch? Die Frage bleibt.

Das ist meine Antwort, mein Weg: Ich suche die persönliche Beziehung zu Christus, schaue ihn am Kreuz an und ahne, was Hingabe, was Liebe ist und sage beschämt: Danke.
Für mich gestorben - Du!

Gebet
Jesus Christus, deine Liebe ist groß. Du hast dich hingegeben. 
Du hast für das Wort deines Vaters eingestanden und den Tod auf dich genommen. 
Rache, Gewalt und Unbarmherzigkeit haben bei dir keinen Raum. Wir danken Dir.
Wir bitten Dich in diesen Tagen: Steh allen bei, die Angst haben 
um ihre Gesundheit, um ihre Zukunft. Tröste sie.
Stärke alle, die sich kümmern um die Gefährdeten, die Kranken. 
In den Krankenhäusern, den Altenheimen, in den Häusern.
Begleite die Sterbenden, die ohne Beistand der Familie gehen müssen. Nimm sie gnädig auf.
Lenke die Sinne all derer, die Verantwortung in der Politik haben. 
Dass sie nicht lügen, dass sie besonnen entscheiden.
Behüte uns selbst.
Du kennst das Leiden, die Angst, den Spott, den Verrat.
So bist du uns ganz nahe.
Amen.

Heinz Behrends, Superintendent i.R., Nikolausberg
Quelle: Heinz Behrends
Hauptaltar Klosterkirche Nikolausberg, Tafel 3: Am Kreuz
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