Einfach durchkommen. Predigt zu Jer 29 (Anne Dill)

Sat, 31 Oct 2020 23:05:03 +0000 von Anne Dill

Predigt zu Jeremia 29 (Anne Dill)
 
Ich träume von einem Ort, an dem alles gut ist. An diesem Ort scheint die Sonne. Es ist Sommer und warm. Ich kann barfuß laufen. Unter meinen Füßen sind grünes Gras und Blumen. Ich kann sie riechen. Ein Schmetterling fliegt vorbei. Vielleicht brummt ein Flugzeug in der Ferne. Um mich herum toben Kinder. Ihr Lachen ist schon von Weitem zu hören. An diesem Ort sind alle Menschen, die ich liebhabe und die mir wichtig sind, um mich herum. Jeder hat sein eigenes Haus. Die Häuser sind ganz verschieden. So wie die Menschen: Es gibt Villen und Holzhütten und alte gemütliche Häuser. Wenn man durch die Straßen geht, dann begegnet man sich. Man lächelt sich an oder umarmt sich. Oder man nickt sich kurz zu und geht dann weiter. 
Wenn ich mit jemandem reden oder jemanden umarmen will, kann ich zu einem der vielen Häuser hingehen und an der Tür klingeln. Dann ist einer da, der mir zuhört. 
Und umgekehrt freue ich mich, wenn es an meiner Tür klingelt und der, der davorsteht, sagt: Ich wollte mal vorbeigucken. 
Zu Hause ist meine Familie. Ich kann sein, wie ich bin. 
Das Coolste: Gott ist auch da. Man kann ihn wirklich sehen. Und sich ihm in die Arme schmeißen. Er ist wie ein Mensch, der mich festhält. Ich weiß sicher: Gott ist da. 
 
Dieser Ort ist ein Traum. Unsere Realität ist eine andere. Ganz besonders jetzt. Wir sehnen uns danach, dass wir alle unsere Lieben in den Arm nehmen können. Dass wir jeden besuchen können, unsere Eltern, Freundinnen, Geburtstagskinder, die Kranken und dass jeder kommen kann, den wir sehen wollen. Wir sehnen uns danach, keine Angst zu haben: Um liebe Menschen, um den Job oder davor, krank zu werden. 
Wir fragen uns: Wann ist es denn endlich wieder gut? Wann ist wieder Alltag? Und vielleicht fragen wir auch: „Gott, wo bist Du denn eigentlich? Eigentlich wünsche ich mir doch, dass ich weiß, Du bist da. Gerade jetzt brauche ich Dich besonders.“
 
Die Israeliten haben Ähnliches erlebt: Sie wurden von einer fremden Macht besiegt und in ein fernes Land verschleppt. Alles war ganz anders, als sie es kannten. Sie wollten nur zurück nach Hause, in die Heimat. Dahin, wo sie wissen, wie alles läuft. Dahin, wo ihre Eltern sind. Ihre Kinder, Nachbarn, Kampfgenossen, Knechte, Händler, Handwerker. Ihr Gotteshaus, ihre Felder, Fischgründe, Gärten. Ihr Herd, ihr Weinkeller. Sie haben auch gefragt: „Wie lange geht das noch? Was sollen wir hier machen? Wir kennen uns nicht mehr aus in diesem Alltag und in unserem Leben.“
 
In diese Situation hinein spricht der Predigttext aus dem Buch Jeremia:
(1) Dies sind die Worte des Briefes, 
den der Prophet Jeremia von Jerusalem sandte
an den Rest der Ältesten, die weggeführt waren,
an die Priester und Propheten
und an das ganze Volk, 
das Nebukadnezzar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte.
 
(4) So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, 
zu allen Weggeführten,
die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen lassen:
(5) Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte,
(6) nehmt Euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter,
nehmt für Eure Söhne Frauen
und gebt Eure Töchter Männern,
dass sie Söhne und Töchter gebären;
mehrt Euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.
(7) Suchet der Stadt Bestes, dahin ich Euch habe wegführen lassen.
und betet für sie zum HERRN;
denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s auch Euch wohl.
 
(10) Denn so spricht der HERR:
Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind, so will ich Euch heimsuchen
und will mein gnädiges Wort an Euch erfüllen,
dass ich Euch wieder an diesen Ort bringe.
(11) Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über Euch habe, 
spricht der HERR:
Gedanken des Friedens und nicht des Leides,
dass ich Euch gebe Zukunft und Hoffnung.
(12) Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten,
und ich will Euch erhören.
(13) Ihr werdet mich suchen und finden;
denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet,
(14) so will ich mich von Euch finden lassen, spricht der HERR.
 
Diese Worte klingen total widersinnig. Die Israeliten wollen sich ja gerade keine Häuser in der Fremde bauen. Sie wollen zurück nach Hause. Sie wollen sich nicht in diesen Umständen einrichten und wünschen sich die alte Normalität zurück. Jeder hat seinen eigenen Sehnsuchts-Ort in der verlorenen Heimat, seinen eigenen Traum von der Zukunft. 
Jeremias Worte sind eine Zumutung. Für die Israeliten und für uns.
 
Was ist denn, wenn ich mich nicht einrichten will? Wenn ich mein altes Leben zurückhaben will, wenn ich gar kein Haus bauen kann, weil ich mich nicht niederlassen will in diesem Land, in das es mich verschlagen hat?
 
Baut Häuser. Pflanzt Gärten. Kriegt Kinder. Sucht das Beste für die Stadt. Sucht Gott mit ganzem Herzen.
Ich höre immer nur, ich soll…
Aber was ist denn, wenn ich Gott nicht mit ganzen Herzen suche? Sondern nur mit halben Herzen oder einem viertel oder gar nicht?
 
Jeremia spielt nichts herunter, er redet nichts schön. Alle Sorgen, alle Sehnsucht, alles Fragen ist absolut berechtigt. Gott ist nicht unbarmherzig. Er sagt nicht: „Stellt Euch nicht so an.“ Oder: „So schlimm ist es ja gar nicht.“ 
 
Es geht nicht um neue Forderungen, nicht darum, sich eine neue Last auflegen zu lassen.
Vielmehr sagt Gott: „Ich will, dass ihr durchkommt. Ich will das Beste für Euch. Auch in diesem fremden Land bin ich ansprechbar. Gerade dort, im Ungewissen, bin ich da für Euch.
Wenn ihr nach mir Ausschau haltet, dann werdet ihr mich finden.“ 
Das ist keine Frage. Kein Vielleicht. Sondern eine Zusage.
 
Wenn das so ist, dann reicht die Sehnsucht vielleicht schon aus. Dann hat mein Herz schon angefangen, Gott zu suchen.
 
Dann muss ich auch kein ganzes Haus bauen. Keine Villa mit zehn Zimmern. Ein Zelt reicht. Es ist nicht gesagt, dass ich genau an diesem Ort bleibe. Ich bin weiterhin draußen, auf der grünen Wiese, unter der Sonne, dem Himmel ganz nah. Was ich jetzt baue, ist nicht für die Ewigkeit. Eher eine Unterkunft auf Zeit. Inmitten anderer Häuser. Ich sehe mich um und entdecke andere, die sich niederlassen für eine Zeit.
Ich mache die Tür für jemanden auf, der zu mir kommt. 
Ich kann etwas pflanzen. Oder das, was schon da ist, genießen. Wie den Garten. Darin wächst manches von allein. Er muss nicht top durchgestylt sein, so wie bei der Bundesgartenschau. Vielleicht ist er ziemlich chaotisch und es gibt Unkraut. Aber es ist ein Ort, an dem mir Gutes geschenkt wird. Sonne, Gras, Schmetterlinge, Blumen und Früchte. Nahrung für Seele und Leib.
 
So gesehen, kann ich mich mit Jeremias Worten anfreunden. Es geht nicht darum, sich perfekt einzurichten in einer Situation, in der man gar nicht sein will. Aber ich muss auch nicht mit aller Kraft versuchen, das, wonach ich mich sehne, hier und jetzt und gleich zu erreichen. 
Jeremias Worte können befreiend sein. Er sagt: „Lebt im Augenblick. Verpasst nicht die Gegenwart, weil ihr ständig in der Vergangenheit oder in der Zukunft hängt. Schaut auf die kleinen Momente, in denen etwas Nahrhaftes wächst. Oder in denen sich ein Raum auftut, wo es sich eine Zeitlang leben lässt“:
 
Ein Zettel mit einem Smiley auf dem Schreibtisch. Ein aufmunternder Blick, der sagt: „Sprich weiter. Deine Gedanken sind mir wichtig.“
Eine Kollegin, die zuhört, obwohl es ihr selbst nicht gut geht. 
Die Blumen im Pfarrgarten, die Du pflegst.
Die Kinder der Nachbarn, um die Du Dich kümmerst. 
Deine Aufgaben in der Gemeinde, wo andere Dich brauchen.
Die Tür, die Du für jemand anderen öffnest, sodass er eintreten und sich zuhause fühlen kann. 
Oder ein Anruf: „Ich weiß, Du hast gerade viel zu arbeiten. Ich komm Dir helfen.“
 
Das sind kleine Momente, in denen ich etwas ahne von Gottes Zukunft. Meine Sehnsucht danach kann ich Gott sagen:
 
„Gott, ich bin unruhig. Ich will das Bessere, die Erfüllung meiner Träume sofort. Ich spüre nichts von Deiner Zukunft, nicht mal von Deiner Gegenwart. Bitte sei jetzt trotzdem da.
Lass mich durchkommen durch diesen Tag, durch diese Stunde.
Lass mich tief in meinem Herzen wissen: Du meinst es gut mit mir.“
Amen.
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