zu Joh1,29-34 und Joh21,15-19 von Charlotte Scheller.
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I. Endlich komm‘ ich mal zu Wort. Ich mein‘ in dem Sinn, dass man mir zuhört. Wir Schafe gelten ja als dumm. Zu Unrecht, wie Sie bald einsehen werden. Wir sind Vegetarier. Wiederkäuer. Fluchttiere. Wir brauchen Zeit, um zu verdauen, was wir gefressen haben. Deshalb sind unsere Sinne geschärft. Wir können die Angst eines Menschenkindes riechen vor dem alten Bock mit den gewundenen Hörnern. Wir wittern es, wenn das Wetter sich ändert. Wir hören, wenn sich ein Wolf nähert. Oder unser Hirte, der jedes von uns genau kennt. Er hat uns Namen gegeben und jedes Schaf weiß, wie es in Menschensprache gerufen wird.
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I. Endlich komm‘ ich mal zu Wort. Ich mein‘ in dem Sinn, dass man mir zuhört. Wir Schafe gelten ja als dumm. Zu Unrecht, wie Sie bald einsehen werden. Wir sind Vegetarier. Wiederkäuer. Fluchttiere. Wir brauchen Zeit, um zu verdauen, was wir gefressen haben. Deshalb sind unsere Sinne geschärft. Wir können die Angst eines Menschenkindes riechen vor dem alten Bock mit den gewundenen Hörnern. Wir wittern es, wenn das Wetter sich ändert. Wir hören, wenn sich ein Wolf nähert. Oder unser Hirte, der jedes von uns genau kennt. Er hat uns Namen gegeben und jedes Schaf weiß, wie es in Menschensprache gerufen wird.
In der Mittagshitze legen wir uns hin und kauen in aller Ruhe. Solange sich kein Feind nähert. Alle wissen wir genau, welche Zweibeinerin auf unser freundliches Blöken antwortet, an den Zaun kommt und ein Leckerli rausrückt. Und welches Zweibeinerjunge uns mit Steinen bewirft. Dann drehen wir uns um, die komplette Herde zeigt ihm die kalte Schulter. Wir haben feine Antennen für Soziales. Wenn ein Zweibeiner zum andern „Du Schäfchen“ sagt, hat das meist einen herablassenden Klang. Du bist zu gutgläubig, heißt das auf Zweibeinisch. Oder übertrieben ängstlich. Es klingt ein bisschen nach „Dummkopf“. Die Menschen sind eben ahnungslos.
II. Was ich jetzt erlebt habe, ist schwer zu verdauen. Noch schwerer als das trockene Gras der ostjordanischen Steppe. Ich kaue schon eine ganze Weile darauf herum. Jetzt spuck ich es aus. Fangen Sie meinetwegen was damit an.
Ich fange von vorn an. Bei dem Tag, als wir am Jordan weideten. Wir waren mit unserem Hirten vom Berg Nebo gekommen. Er wollte mit uns Richtung Jerusalem. Bei der Furt kommt man gut durch den Fluss. Wir hatten es nicht eilig. Das Gras am Ufer war grün. Wir blieben ein paar Tage zum Weiden. Wir hörten die Donnerstimme des Mannes in Tierhäuten. Unerhört, er trug Felle unserer Artgenossen. Er roch nach den Bienenwaben, aus denen er den Honig lutschte. Er schimpfte und schrie. „Ihr seid Sünder! Ihr habt euch von Gott abgewandt. Kehrt um! Macht euch bereit! Lasst euch taufen im Fluss. Reinwaschen von euren Sünden. Denn bald kommt der Messias. Der Retter von Gott“. Zuerst haben wir die Köpfe eingezogen. Dann haben wir uns an seine Stimme gewöhnt. Sein Blöken war laut. Aber sein Herz wie Honig. Er liebte die Zweibeiner, deshalb taufte er sie. Sie nannten ihn Johannes, den Täufer. Logisch.
An dem Tag war seine Donnerstimme weich. Seht, sagte er. Die Zweibeiner guckten in die Richtung, in die er zeigte. Wir Schafe hatten es natürlich längst gesehen. Da kam ein Mensch. Kein alter Widder, ein junger Mann. Er ging in einer kleinen Menschenherde. Nichts unterschied ihn von den anderen Zweibeinern. Normale Stimme. Normales Aussehen. Normaler Geruch. Nur sehr geübte Augen konnten sehen, was ich sah. Da war ein Leuchten in seinen Augen. Nein in seinem ganzen Gesicht. Seht, sagte Johannes mit dieser ungewohnten Stimme. Da kommt er, den ich euch angesagt habe. Der Sohn Gottes. Er ist das wahre Opferlamm. Er trägt die Sünde der Welt weg.
Als er „Opferlamm“ sagte, sträubte sich mein Fell. Ich halte nichts vom Opfern. Es bedeutet Schlachten. Viel zu frühen Tod unserer namenlosen Kinder. Viele Zweibeiner lieben Lammfleisch. Dabei bringen wir ihnen lebend viel mehr Nutzen. Gesunde Milch. Feine Wolle. Gepflegte Landschaften. Aber zurück zum Eigentlichen. Da kommt Gottes Sohn, hatte Johannes gesagt. Das wahre Opferlamm. Er trägt die Sünde der Welt.
III. Mir gefiel nicht, was Johannes sagte. Aber der Zweibeiner mit der Donnerstimme war ein Seher. Weitsichtig wie ein altes Mutterschaf. Er konnte sehen, dass Jesus Gottes Sohn war. Und dass er jung sterben musste. Wirklich, er hat sein Leben hingegeben für seine Freunde. Er ist zum Opferlamm geworden. Aber anders, als es bis dahin üblich war. In der Herde von Johannes hat man zu Pessach ein Lamm geschlachtet. Zur Erinnerung an die Befreiung der Israeliten aus Ägypten. Bevor der große Hirte Mose sie herausführen konnte aus dem fremden Land, musste jede Familie ein Lamm schlachten. Und das Blut an die Pfosten der Haustür streichen. Damit der Todesengel wusste, diese Familie soll bewahrt bleiben vor dem Tod. Die Erstgeborenen der Ägypter brachte er um. Vom Königssohn bis zum erstgeborenen Rind im Stall. Damit der König Angst kriegte und sie ziehen ließ. Immer noch wird an Pessach ein Lamm geopfert zur Erinnerung daran, wie Gott die Schuldigen bestraft und die Unschuldigen verschont.
Aber mit Jesus ist es anders. Der Retter. Das wahre Gotteslamm. Ich bin ein altes Schaf. Ich kenne die Geschichte. Drei Winter nach der Begegnung am Jordan ist er gestorben. Johannes hat es vorausgesehen: Er hat sein Leben hingegeben. Er wurde verraten von einem Freund. Im Stich gelassen von den anderen in seiner Herde. Eingefangen. Gefesselt. Am Kreuz festgebunden. Getötet. Anders als ein Wolf hat er sich nicht gewehrt. Anders als jedes vernünftige Schaf ist er nicht weggelaufen. Er hat es kommen sehen. Er hat gebetet: Herr, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Aber nicht mein Wille, sondern dein Wille geschehe. Er ist sein Sohn, der Sohn des Höchsten, eins mit seinem Willen. Er hat den Tod auf sich genommen, stumm wie ein Lamm.
VI. Unser Hirte hat uns manchmal vorgesungen. Nicht weil er dachte, wir hören zu. Sondern weil es ihn beruhigte. Immerhin merkte er, dass wir auch ruhig wurden, wenn er die alten Lieder sang. Seine Stimme zu hören, tat uns gut. Die ganze Herde drängte sich um ihn. Wenn der Wind um den Verschlag pfiff. Wenn der Mond nicht schien und aus den Bergen das Heulen der Wölfe herüberwehte. Das Lied mit dem Lamm hat er immer wieder gesungen. „Wir hatten uns verirrt wie Schafe. / Jeder kümmerte sich nur um seinen eigenen Weg. / Aber der Herr lud all unsere Schuld auf ihn. / Er wurde misshandelt, aber er nahm es hin. / Er sagte kein Wort. / Er blieb stumm wie ein Lamm. Wie ein Schaf, das geschoren wird, / nahm er alles hin und sagte kein einziges Wort“ (Jes53,6-7). Wer ist dieses Lamm, fragten wir uns. Ein Mensch ohne Namen. Wie ein Lamm, das den ersten Winter noch nicht überstanden hat. Einer, der die ganze Last seiner Herdengenossen auf sich lädt. Wie der Sündenbock, den die Israeliten jedes Jahr in die Wüste schicken. Damit sie nicht ewig auf ihren Sünden rumkauen müssen. Damit ihre bösen Worte, Gedanken und Taten nicht mehr zwischen ihnen und dem Schöpfer stehen. Damit sie anfangen können, wieder gut zu machen, was sie vermasselt haben. Das Lamm Gottes scheint ein Sündenbock zu sein. Aber einer, der das freiwillig auf sich nimmt. Was für eine Befreiung muss das sein für die Menschenkinder, Junge wie Alte, wenn einer den ganzen Mist von dir wegnimmt. Wie wenn du aus der trockenen Steppe auf eine saftige Wiese kommst. Wie wenn du statt aus einem Erdloch mit fauligem Wasser plötzlich aus einer sprudelnden Quelle trinkst.
V. Dann sind wir am See. Es war eine lange Wanderung. Wir sind dem Hirten hinterhergegangen bis hier. Am See wächst viel Gras. Und Kräuter. Wasser zum Trinken ohne Ende. Der Hirte hat die Hunde bei uns gelassen und ist hinübergegangen zu einem Grüppchen Menschen. Ich bin ein Stück mitgegangen. So ein altes Schaf vertreibt man nicht einfach. Unter einem Olivenbaum hab ich mich hingelegt. Ich weiß, ich wirke gelangweilt, wie ich so vor mich hin kaue. Aber ich bin ganz Ohr. Ich höre, was die Zweibeiner reden. Ich rieche den Fisch auf dem Feuer. Ich sehe ihre leuchtenden Gesichter. Das Leuchten kommt nicht vom Feuer. Es kommt von innen, aus ihren Herzen. Ich höre die Stimme des Gotteslamms. Unglaublich! Wie kann er überhaupt hier sein, der Gottessohn? Er ist doch gestorben. Die Zweibeiner sagen: Gott hat ihn auferweckt. Früh am Morgen ist er auferstanden. Er ist Gottes Lebenszeichen. Wie ein neugeborenes Lamm an einem Frühlingstag. Er hat den Tod besiegt, wie die Morgensonne die Nacht besiegt. Wie ein Wort der Versöhnung die Einsamkeit besiegt.
Jesus sagt: Simon, Sohn des Johannes, weide meine Lämmer. – Ich sehe Simon. Der war damals am Jordan auch dabei. Da hat der Gottessohn ihn Kephas genannt, das bedeutet Fels. Aber er war kein Fels. Die Spatzen haben es von den Dächern gepfiffen: Jesus hat sich nicht auf ihn verlassen können. Simon Petrus, der Fels, hat ihn verraten. Er hat gesagt: Jesus, den kenne ich nicht. Wie wenn mein Hirte mich ruft und ich ihm den Rücken kehre. Jetzt ist es ihm peinlich, ich kann es riechen. Seine Stimme ist rau. Er klingt selbst wie ein Lamm. Bloß ist er kein Unschuldslamm. Eher das, was die Zweibeiner ein schwarzes Schaf nennen. Einer, der aus der Art schlägt. Die Freunde verrät. Der sich schuldig macht, um sein eigenes Fell zu retten, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. Das sind so Redensarten. Die zeigen, die meisten Menschen verstehen nicht viel von uns Schafen. Manche Schäfer sortieren die schwarzen Schafe aus, weil sie die Wolle verderben. Schwarze Wolle kann man nicht färben. Andere wissen die schwarzen Schafe zu schätzen. Wie mein Hirte. Unsere Herde ist bunt. Deshalb trauen sich die Wildschweine nicht an uns ran. Schwarzwild. Sie glauben, die schwarzen Schafe sind auch Wildschweine. Mit denen wollen sie sich nicht anlegen.
Zurück zum See. Simon wird sich wie ein schwarzes Schaf gefühlt haben. Aus Zweibeinersicht. Er war wahrlich kein Unschuldslamm. Er hat seinen Hirten im Stich gelassen. Dabei wollte er alles für Jesus tun. Er wollte ihn sogar mit dem Schwert beschützen. Simon war definitiv kein Fluchttier. Trotzdem hat er sich weggeduckt, als der Gottessohn gefangen war. Aus Angst, mitgefangen zu werden. Ausgerechnet zu diesem Simon sagt Jesus: Weide meine Schafe! Ich kann riechen, wie Simon schwitzt. Ich höre, wie der Gottessohn sagt: Als du jünger warst, bist du hingegangen, wo du hinwolltest. Jetzt gehst du da hin, wo ich dich haben will. Du wirst vielen Menschen ihre Last abnehmen. Du wirst ihnen vom Gotteslamm erzählen. Es nimmt die Schuld weg von jedem Gotteskind und trägt sie ans Kreuz. Geh, sag es weiter! Denn der Herr im Himmel ist ein guter Hirte. Er will alle in seiner Herde haben. Unschuldslämmer und schwarze Schafe. Amen.