zu einer Figurengruppe in der St. Marienkirche Stralsund und Lukas 1,47-49
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Alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter. Denn er wendet sich mir zu, obwohl ich nur seine unbedeutende Dienerin bin. Von jetzt an werden mich alle Generationen glückselig preisen. Denn Gott, der mächtig ist, hat Großes an mir getan. Sein Name ist heilig.
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Alles in mir jubelt vor Freude über Gott, meinen Retter. Denn er wendet sich mir zu, obwohl ich nur seine unbedeutende Dienerin bin. Von jetzt an werden mich alle Generationen glückselig preisen. Denn Gott, der mächtig ist, hat Großes an mir getan. Sein Name ist heilig.
Knapp zwei Stunden, um durch die Altstadt von Stralsund zu schlendern. Das Portal der St. Marien-Kirche. Ich gehe hinein, wandere an den Seitenkapellen entlang, freue mich auf die Turmbesteigung. Dann sehe ich sie.
Eine Dreiergruppe. Sie halten Abstand. Weniger körperlich. Es ist - ich weiß nicht, was. Zu meiner Linken Petrus. Wie ein König gekleidet, roter Mantel mit goldenem Saum. Er hält ein Buch, schwer, in Holz und Leder gebunden, mit Gold beschlagen. Die andere Hand, fast zur Faust geballt, hält ein Zepter. Nicht die Schlüssel, die Jesus ihm übergeben hat. Königswürde? Staffelstab? Zwischen vollem Haar und üppigem Bart macht er ein langes Gesicht. Die Stirn gerunzelt. Die Augen schauen nach innen. Der Mund ein Strich.
Rechts Paulus. Auch sein Gewand mit Goldrand. Das Schwert in seiner rechten Hand, Zeichen des Martyriums, das er erleiden wird, vollendet eine Linie, die an seinem linken Fuß beginnt. Ein Aufwärts-Schwung. Eine Himmels-Leiter, sie reicht über die Köpfe der drei Figuren hinaus. Über Paulus‘ rechter Hand die Querstange des Schwerts. Paulus drückt das silbern-goldene Kreuz an seine Brust. In der Linken hält er, wie Petrus, ein schweres Buch. Eingebunden, goldbeschlagen, kostbar. Die großen Augen sind weit offen. Er sieht am Schwert vorbei, nach oben, nach innen.
In der Mitte Maria. Auf einem Podest, höher als die Apostel. Himmelsblau der Umhang, goldumrandet, der Stoff umfließt ihre schlanke Gestalt. Unter der schweren Goldkrone ein junges Gesicht. Strähnige Haare haben sich aus dem Kopftuch gestohlen. Weiche weiße Hände halten das Kind. Ein Baby von den pummeligen Füßchen über die winzigen Finger bis zum faltigen Hals. Darauf, in Miniatur, der Kopf eines Erwachsenen. Auch Maria runzelt die Stirn. Die Augenlider halb geschlossen. Kaum merklich neigt sie den Kopf in Richtung ihres Kindes.
Das Kind hält den Kopf schräg nach oben. Aber es sucht nicht den Blick der Mutter, es sieht in die Ferne. Die Mundwinkel sind leicht nach oben gezogen, es lächelt.
Petrus, Paulus, Maria und das Kind. Sie sehen einander nicht an. Sprechen nicht miteinander. Sprechen aber mit mir.
Ich verstehe schon, sagt Petrus zu mir, dass der Menschensohn leiden musste. Wie gern wäre ich sein Sekundant gewesen. Hätte dem Soldaten, der ihn gefangen nahm, mehr abgeschlagen als nur ein Ohr. Er hätte es verdient. Muss man sich nicht wehren, muss man nicht einschreiten, wenn unschuldiges Leben verletzt wird? Der Meister hat es anders gesehen. Hat mir Einhalt geboten und das verletzte Ohr geheilt. Hat sich abführen und verurteilen lassen. Und das Zepter, den Staffelstab an mich weitergegeben. Jetzt kämpfe ich für ihn. Mit Worten.
Nicht ich, sagt Paulus, aber Christus in mir. Hier, in diesem Buch, steht alles drin. Du brauchst kein anderes. Liebes- und Kriminalroman, Geschichts- und Gesangbuch, Wahrheit und Utopie, Klarheit und Rätsel, Untergang und Neuanfang. Die ganz große Liebeserklärung von Gott an uns, seine Kinder. Ich werde nie alles verstehen, was darin steht. Ich sage es nur weiter. Das Lösen der Rätsel und Widersprüche, auch der in mir, überlasse ich Christus. Er hat mich umgekrempelt. Aus einem Christenverfolger einen Zeugen seiner Liebe gemacht. Nicht ich bin stark, sondern Christus in mir.
Jetzt steh ich hier auf dem Sockel, sagt Maria. Muss an das überschwängliche Lied denken, das meine alte Cousine Elisabeth gesungen hat, als wir beide schwanger waren. Ein Baby. Kein Wunschkind. Umso mehr gesegnet. Manchmal ist er mir jetzt schon fremd, der kleine Jesus. Dieses altkluge Gesicht, als ob er über die ganze Welt nachdächte. Guckt er zu mir? Oder zum Höchsten, gelobt sei sein Name? Ich bin auf alles gefasst. Was der Engel zu mir gesagt hat vor einem Jahr, kann ich niemand erzählen. Ich weiß nur: Retter der Welt - so einer muss viel leiden. Er ist nicht für seine Mutter da. Nicht mal für sich selbst. Bloß für den Rest der Welt. Ich will ihm dienen. Ich werde leiden. Und doch: Von jetzt an werden mich alle Generationen glückselig preisen. Denn Gott, der mächtig ist, hat Großes an mir getan!
Petrus, Paulus und Maria. Das stille Gespräch geht mir noch lange nach. Sie haben sich Gott zur Verfügung gestellt. Haben Jesus in die Mitte genommen. Haben sich von ihm entwaffnen lassen. Haben sich zurückgenommen, sich erlaubt schwach zu sein, damit er stark sein konnte in ihnen.
Ich gehe zum Bahnhof. Hole mein Gepäck. Meine Reise geht weiter. Ich will sein Wort bewahren. Mich am Kreuz festhalten. Den Himmel im Blick behalten. Wofür Gott mich wohl braucht – heute, morgen?