Reiß auf! Reiß ab! Predigt zum Lied EG 7: O Heiland, reiß die Himmel auf

Sat, 04 Dec 2021 18:25:21 +0000 von Charlotte Scheller

von Charlotte Scheller (Lied und Predigt hören unter diesem Beitrag)
1 O Heiland, reiß die Himmel auf, herab, herab vom Himmel lauf, reiß ab vom Himmel Tor und Tür, reiß ab, wo Schloss und Riegel für.
2 O Gott, ein' Tau vom Himmel gieß, im Tau herab, o Heiland, fließ. Ihr Wolken, brecht und regnet aus den König über Jakobs Haus.
3 O Erd, schlag aus, schlag aus, o Erd, dass Berg und Tal grün alles werd. O Erd, herfür dies Blümlein bring, o Heiland, aus der Erden spring.
4 Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.
5 O klare Sonn, du schöner Stern, dich wollten wir anschauen gern; o Sonn, geh auf, ohn deinen Schein in Finsternis wir alle sein.
6 Hier leiden wir die größte Not, vor Augen steht der ewig Tod. Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland.
7 Da wollen wir all danken dir, unserm Erlöser, für und für; da wollen wir all loben dich zu aller Zeit und ewiglich.

T.: Friedrich Spee 1622, Str. 7 bei David Gregor Corner 1631; M.: Köln 1638, Augsburg 1666

1 Eine dringende Bitte. Ein Hilferuf. Ein Schrei aus verzagtem Herzen, vielleicht aus Verzweiflung. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Jetzt muss Hilfe kommen. Mit Macht. Mit aller Gewalt. Reiß auf. Reiß ab! Die Hilfe muss sofort kommen. Nicht von nebenan, nicht von einem mitfühlenden, wohlmeinenden Menschen. Sie muss von oben kommen. Vom Himmel. Herab, herab vom Himmel lauf! Es ist eilig. Die Lage duldet keinen Aufschub. Oh Heiland!
Diesen Namen kenne ich von meiner Großmutter. Es war der liebste, der schönste, der beste Name, den sie nennen konnte. Wenn sie „Heiland“ sagte, klang das genauso zärtlich und liebevoll, wie wenn sie „mein Schatz“ zu mir sagte oder „Liebling“ zu meinem Großvater. O Heiland! Da ist einer, im Himmel oder irgendwo, der helfen kann, der heil macht, was kaputt ist in mir oder um mich herum. Er kommt von weit her und ist trotzdem ganz nah, genau hier, wo du ihn brauchst. Ich lernte schon als kleines Kind: Es gab Sorgen, die die Großmutter nicht allein tragen konnte. Nicht mal der Großvater, der doch alles konnte. Und es gab jemanden, dem sie die Sorgen erzählten. Den Heiland. Er hörte zu. Sie hatten ihn lieb wie ihr Enkelkind. Wie sie einander liebhatten. Er half ihnen.
 
2 O Gott, ein Tau vom Himmel gieß! Du, Schöpfer, hast die Macht. Sieh doch, deine Erde dürstet. Es mangelt an Wasser, an Nähe, an Geborgenheit. Wir haben Durst, o Gott, nach Begegnungen, Umarmungen, gemeinsamen Mahlzeiten, nach Abendmahl, nach Einander-Ansehen ohne Masken, nach einem friedlichen Weihnachtsfest. Aber nicht nur wir, Gott, Deine ganze Erde dürstet und leidet unter Deinem Schweigen. Armut und Ungleichheit treten krass hervor in der Pandemie. Unwetter und Überflutung auf der einen Seite, Dürre auf der anderen. Menschen sterben auf der Flucht durch die Wüste, auf der Suche nach einem Leben ohne ständige Not. Schick einen Wolkenbruch, Herr im Himmel. Einen Platzregen, der die Erde tränkt, so dass sie sich vollsaugt und die Bäche und Brunnen wieder quellen. Ein Gewitter, das die Luft reinigt und die Verhältnisse klärt. Oder wenigstens etwas Tau, ein bisschen Feuchtigkeit, damit wir unseren Durst stillen können wie das Wintergoldhähnchen, dieser winzige Vogel, dem ein Tautropfen genügt. Träufelt, ihr Himmel, von oben, und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit, ruft der Prophet Jesaja. Die Erde tue sich auf und bringe Heil, und Gerechtigkeit wachse mit auf! Ich, der HERR, erschaffe es (Jesaja 45,8). Was wirklich satt macht, kommt von oben. Ein paar Tropfen von Gottes Güte sind genug. Wenn wir sie aufsaugen, wenn wir unseren Durst löschen an der Quelle des lebendigen Wassers, werden wir mithelfen, dass Gerechtigkeit aufwachsen kann, dass auch andere satt werden.
 
3 O Erd, schlag aus! Nur ein bisschen Tau vom Himmel und es wächst. Schlagartig, von einem Tag auf den andern. Im Bergland in Judäa kann man das sehen. Nach ein paar Tropfen Regen ist das staubige Land mit einem zarten Grün überzogen. Aus dem abgestorbenen Baumstumpf wächst ein neuer Trieb, aus der alten „Wurzel Jesse“, dem Vaterhaus König Davids, kommt ein Reis hervor. Es ist ein Ros‘ entsprungen aus einer Wurzel zart. Gott bleibt nicht im Himmel, er kommt zur Welt. Klein und unscheinbar wächst neues Leben. Sanft, aber unaufhaltsam. Kraftvoll und zäh. O Heiland! Das hilflose Kind rettet. Mitten im dürren Land von Einsamkeit und Verzweiflung brechen sich neue Kräfte Bahn. Sie werden am Ende stärker sein als die Kräfte des Todes. 
 
4 Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Ungeduld wird laut. Das Warten dauert schon zu lange. Wir brauchen dich jetzt! Friedrich Spee hat das Lied geschrieben. Ein frommer und kluger Mann, ein gut ausgebildeter Theologe. Er schreibt dieses Lied mitten im Dreißigjährigen Krieg. Jemand muss schuld sein, jemand muss bestraft werden für all das Leid. Der Erzbischof von Mainz lässt mehrere hundert Frauen hinrichten, sie wurden als „Hexen“ verfolgt. Friedrich Spee tritt gegen dieses Unrecht ein. Streitet als einer der Ersten gegen Folter und für rechtsstaatliche Grundsätze. Gibt den unschuldig Leidenden eine Stimme. Schreit mit ihnen, schreit für sie zum Himmel: O komm, ach komm vom höchsten Saal! Bleib uns nicht fern. Komm hierher, wo die Not ist. Sei uns nahe in diesem Jammertal, tröste uns. Wie eine Mutter, die ihr Kind in die Arme schließt. O Heiland. In dem verzweifelten Rufen klingt vorsichtig Vertrauen an. Es gibt einen Trost. 
 
5 O klare Sonn, du schöner Stern. Die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir, hat Jesaja verkündet. Christen sehen die Weissagung in der Geburt Jesu erfüllt. Mitten in der Nacht soll das Kind geboren werden. Der Retter, der Herr. Christe, du bist der helle Tag, heißt es in einem Abendlied. Vor dir die Nacht nicht bleiben mag. An ihn können wir uns halten. Er wird den ganzen Weg gehen vom Morgen des Lebens über den Mittag bis zum Abend. Er wird die ganze Finsternis durchmessen, jede denkbare Verlassenheit. Und Gott wird ihn aufwecken zum Leben jenseits des Todes. Er wird die ewige Nacht vertreiben. Er ist unser Licht.
 
6 Ach komm! Wir haben den Tod vor Augen. Wir möchten ihn leugnen, möchten uns unsterblich fühlen, möchten die Impfung gegen den Tod, möchten unser altes Leben zurück oder einen neuen Umgang miteinander ohne Beschränkungen. Wir wissen, das geht nicht, und fühlen uns fremd. Nicht zuhause im eigenen Leben, in dieser Welt. Einer soll kommen, der weiß, wo es zum Leben geht. Der uns führt, der stark genug ist, unsrer Unvernunft entgegenzustehen und unserm Unglauben. Der uns zum Vater im Himmel führt. Zu dem Kind im Stall, dem starken Trieb, der da aufwächst, bloß weil ein bisschen Tau gefallen ist. Ach komm, führ uns mit starker Hand vom Elend zu dem Vaterland. Elend, das ist Ausland. Nichtzuhausesein in Körper und Seele. Elend, das ist Sehnsucht nach Ganzsein und Heilung. Führ uns hier raus, starker Gott. Bring uns ans Licht, in ein Leben, das bleibt. 
 
7 Wie komm ich da hin, zum Vaterland, zum Leben? Die letzte Strophe ist nicht von Friedrich Spee. Ein anderer hat sie geschrieben. Damit es gut ausgeht. Damit das Gespräch mit Gott nicht in Sehnsucht endet. Damit es rund wird. Und weil die Erlösung ja schon längst geschehen ist. An Ostern. In Christus. Mir ist sie zu rund, diese Strophe. Mein Herz ist noch nicht so weit. Ich bin noch im Advent. In Erwartung. In Ungeduld. In Nebel und Dürre. Mehr oder weniger verzagt. Ich kann vorerst nichts weiter als mich ausstrecken. Mir reicht es, mir die Worte des Liedes zu leihen, seine zornige Kraft. Ich klammere mich an den winzigen Hoffnungszweig. Ich darf seufzen und rufen und schreien. Darf den Herrn im Himmel mit den schönsten Namen nennen, die ich kenne. Oder ihm stumm meinen Kummer zumuten. All die Ohs und Achs. Die Hilflosigkeit. Die Vorfreude, kräftig trotz allem oder verhalten. All das ist genau richtig bei ihm, dem Heiland. 
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