Sehnsucht nach daheim. Gedanken zu 2. Korinther 5,1-9

Sat, 13 Nov 2021 14:10:36 +0000 von Charlotte Scheller

von Charlotte Scheller, Audio unter diesem Beitrag
Die Zitate aus Psalm 22 sind in der Übersetzung von Martin Buber wiedergegeben.

Wer ein Haus baut, möchte, dass es Bestand hat. Das Fundament muss solide sein, die Wände massiv, das Dach soll Wind und Wetter trotzen. Das Haus soll da stehen, wo man sich wohlfühlen kann, und Raum bieten für Familie und Freunde. Auch wer sein Lebenshaus baut, wünscht sich, dass es fest steht. Eine gute Ausbildung, ein sicherer Arbeitsplatz, ein geregeltes Einkommen, eine Partnerschaft, die etwas aushält. Gesundheit und ein fester Charakter helfen, das Lebenshaus zu stabilisieren. Wenn möglich wollen wir der nächsten Generation etwas weitergeben. Eine Wohnung. Etwas Geld. Eine Kirche mit heilem Dach und volltönender Orgel. Aber auch, was nicht mit Händen zu greifen ist. Die Liebe zur Musik, menschliche Zuverlässigkeit und Gottvertrauen. Ganz wenige schaffen etwas, das Vielen etwas gibt, das weit ausstrahlt und die Zeiten überdauert. Künstler, Architekten, Wissenschaftler, große Politiker.
 
Paulus erinnert uns: All das ist vergänglich. Es kann am Ende doch nicht bestehen. Die letzten Tage des Kirchenjahres muten uns unbequeme Gedanken zu. Sie scheinen gut zur Novemberstimmung zu passen. Paulus denkt allerdings gar nicht daran, unseren Herbst-Blues zu fördern. Im Gegenteil. Er möchte, dass wir fröhlich sind. Wir haben allen Grund dazu! „Wir sind immer zuversichtlich“, sagt er. Unser Leben geht nicht ins Leere. Denn Gott gibt uns, was wirklich Bestand hat. 
 
Paulus vergleicht unser Menschendasein mit einem Haus. Luther übersetzt „Hütte“. Im Urtext heißt es „Zelt“. Dann wäre die Erde ein Campingplatz. Da haben wir unser Lager aufgeschlagen. Irgendwann fegt der Sturm darüber und reißt die Pflöcke raus. Unser Leib und Leben ist Provisorium, eine Hütte auf Abbruch. Auch das Kirchendach über unseren Köpfen erinnert an ein Zelt. Aber Paulus weiß noch von einem anderen Haus, das nicht mit Menschenhänden erstellt ist. Er nennt es „ein Haus, das ewig ist, in den Himmeln“. 
 
„Wir wissen davon“, sagt Paulus. Sonst ist der Apostel eher zurückhaltend, wenn es darum geht, was wir von den himmlischen Dingen wissen können. „Stückwerk“ nennt er an anderer Stelle unsere mühsamen Gedanken. Wie kommt er also dazu, ausgerechnet hier zu sagen: „wir wissen aber“? Woher wissen wir von einem ewigen Bau in den Himmeln, wo unser Leib wieder ganz und heil wird und unsere Seele ein sicheres Zuhause findet? 
 
Die Musik heute erzählt von dem, was ein Zuhause schön macht. Die sephardischen Lieder wurden wohl zuerst von Frauen gesungen, in der Küche. Beim Duft frisch des gebackenen Brots. In Vorfreude aufs Zusammensein. Familie und Freunde an einem Tisch. Aber: „Undzer shtetl brent“. Die Klezmer-Musik, ausgelassen und melancholisch, erinnert auch an die Pogromnacht im November 1938. Brennende Gotteshäuser. Zerstörte Geschäfte und Wohnungen. Der Verlust von Nachbarinnen und Freunden, Geliebten, Eltern und Kindern, der Verlust der Heimat und des Vertrauens. Der Beter von Psalm 22 ruft: 

Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen, warum bleibst Du fern meines Hilferufes und den Worten meines Schreiens?! „Mein Gott“ rufe ich bei Tag, und Du antwortest nicht; selbst nicht in der Nacht, ich finde keine Ruh'. - Ich aber, ein Wurm bin ich, und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet. 
 
So beschreibt der Beter seine Not. Und wendet sich – ja, wohin? Wendet sich doch wieder an Gott, von dem er sich doch verlassen fühlt. Er fleht:
 
Herr, nie bleibe fern von mir, denn nahe ist die Bedrängnis und kein Helfer da. 
 
Der so betet, leiht sich die Worte der Glaubensväter und -mütter. Auch sie haben sich verlassen gefühlt. Und haben sich am Ende doch vom Herrn im Himmel gehört und geleitet gesehen. 
 
Denn Er hat nicht verachtet, nicht verschmäht das Elend der Armen, nicht verborgen vor ihm Sein Antlitz, hat vernommen den Aufschrei des Bedrängten. 
 
Paulus sagt: „Wir wissen, wir haben einen Bau, von Gott erbaut“. Aber wir könnten davon überhaupt nichts wissen, wenn es uns der Himmel nicht mitgeteilt hätte. Wenn uns der Himmel sich nicht selbst mitgeteilt hätte. Unser irdisches Haus ist vergänglich. Am Ende müssen wir loslassen. Zuletzt stehen wir nackt da. Ohne unseren irdischen Leib, ohne unser ganzes selbst gebautes Leben. Aber mit Sehnsucht nach dem himmlischen Ort, wo Leib und Seele wieder ganz werden. Die Bruchstücke unseres Daseins zusammengefügt. Im Frieden mit den Nachbarinnen, mit den Verletzungen und Wunden unseres Lebens, mit uns selbst. So wird es sein, sagt Paulus, der jüdische Gelehrte. So wird es sein, hat schon der Prophet Jesaja (65) angekündigt. Ein neuer Himmel und eine neue Erde und Gott spürbar unter den Menschen: 
 
Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören
 
Für Christen ist Jesus der Botschafter vom Himmel. Und die Botschaft. Gottes Wort wurde Fleisch, so beginnt das Johannesevangelium, und wohnte – wörtlich: „und zeltete unter uns“ (Joh 1,14). Jesus hat sich ganz und gar auf die Gebrechlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens eingelassen. Mit Lieben und Feiern. Mit Freundschaft und Verrat. Am Ende erweist sich sein eigener Leib als Wanderzelt. Wie unser Leib und Leben, eine Hütte auf Zeit. Aber das ist gar nicht das Ende. Das letzte Ende, auf das wir warten, das Ende, das uns der HERR durch die Propheten zugedacht hat in Seinen göttlichen Gedanken, dieses Ende ist das Gegenteil von Zerstörung und Krieg. Gott hat „Gedanken des Friedens“ für uns „und nicht des Leidens“ (Jeremia 29,11). Als Christen glauben wir: Gott ist in Jesus den Weg der Liebe und des Leidens ganz zu Ende gegangen. An Jesus können wir sehen, wie Gott den Aufschrei des Bedrängten hört. Wie Er das Elend des Verachteten ansieht. Wie Er am Ende Seine Kinder in ein neues Leben ruft und Leib und Seele wieder zusammensetzt. Nochmal Psalm 22:
 
Den HERRN sollen preisen, die Ihn suchen. Aufleben soll euer Herz für immer! 
 
Verhalten klingt der Jubel. Im Hals steckenbleiben mag er dem, der alles verloren hat. Und doch haben die Alten gesungen und den Herrn gelobt. Nach allem, was war. Ich möchte mit einstimmen in das Lob. Und wenn es verklungen ist, habe ich Sehnsucht nach mehr. „Wir sind aber zuversichtlich“, sagt Paulus, „und haben viel mehr Lust, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn.“ Wer schon einmal schwer krank gewesen ist, weiß, wieviel Mühe einem der Körper machen, wie fremd er einem werden, was für ein windiges Zelt er sein kann. Ich hänge an meinem irdischen Leben und bete um Gesundheit. Und gerade deswegen tröstet mich, was Paulus sagt. Am Ende, wenn ich nicht mehr weiterkann, hat Gott ein festes Haus für mich. Am Ende werden mein Leib und meine Seele mit seinem Licht überkleidet und ganz und heil gemacht. 
 
„Solange wir in dieser irdischen Hütte sind“, meint Paulus, „seufzen wir und sind beschwert.“ Dann wäre das Leben hier für uns Christinnen nicht das eigentliche? Dann wären wir Traumtänzer, die mehr im Jenseits leben als auf unserer Erde? Genau das meint Paulus nicht. Gerade weil wir auf den Jüngsten Tag hoffen, hoffen wir auch auf den morgigen Tag hier. Denn wir erwarten auf jeden Fall weitere Anzeichen von Gottes Gegenwart in dieser Welt. Egal, was der Tag bringt: Wir können anderen zum Zeichen von Gottes Gegenwart werden. Weil Gott ein Licht in unsere Herzen gegeben hat. Ein „Unterpfand“ der himmlischen Heimat, Seinen Heiligen Geist. 
 
Zu Träumerinnen und Phantasten werden wir also nicht. Im Gegenteil: Je entschlossener wir auf die neue Welt warten, desto fester stehen wir mit beiden Beinen hier im Leben. Mit unserem irdischen Leib und Leben sollen wir gut umgehen. Aber wir müssen uns nicht übermäßig sorgen. Vor dem Leiden anderer Menschen brauchen wir uns nicht zu verschließen. Nüchtern und praktisch können wir da helfen, wo es uns möglich ist. Für Gerechtigkeit eintreten und Not lindern. „Ob wir zu Hause sind oder in der Fremde“, erinnert uns Paulus, „für uns ist es Ehrensache, Gott zu gefallen.“ Wir dürfen Gottes Licht Raum geben in uns und in der Welt und können furchtlos und fröhlich in den Tag gehen. Amen.
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