zu Lukas 15,1-10 von Charlotte Scheller
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Ausgerückt. Die Schule endlich fertig, nie wird er ihre heiligen Hallen wieder betreten mit dem in den Steinfußboden eingelegten Spruch „Non scholae sed vitae“. Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir, aber für ihn war es tote Zeit jahrelang und jetzt fängt es an, das Leben. Im Baumarkt räumt er das Lager auf, kommt müde und verschwitzt nach Hause. Mit dem selbst verdienten Geld ans andere Ende der Welt, Travel and Work. Er arbeitet auf Baustellen, wohnt in einem Zelt und nutzt jede freie Minute zum Klettern. Du brauchst alles am Felsen, Hände und Füße und Verstand. Du bist voll konzentriert und ganz bei dir, zu Hause in Leib und Seele. Komm nach Hause, schreiben die Eltern nach einem Jahr. Er scrollt sich durch die Internetseiten der Universitäten. Bewirbt sich, kriegt Absagen und eine Zusage. Schreibt sich ein, Gott sei Dank, sagen die Eltern, jetzt macht er seinen Weg. Er tritt den Studienplatz nicht an. Er muss klettern, der Job ist Nebensache, an der Wand spürt er sich, im Kampf mit der Schwerkraft, im vollen Einsatz von Körper und Geist, zwischen Himmel und Erde unterwegs, dankbar für jeden Tag, an dem er eins sein kann mit sich, mit der Welt. Gefunden, sagen die Eltern. Er sorgt für sich, er vertraut sich selbst und dem Leben, er ist glücklich, er lässt von sich hören. Wir lieben ihn!
Angeknüpft. Ausgetreten ist sie nie aus der Kirche, obwohl sie schon lange nichts mehr hat anfangen können mit Gott. Mit der Oma ist sie manchmal noch da gewesen, die Gesänge und Gebete sind ihr vertraut, aber wenn überhaupt, sagt ihr der Raum etwas. Die Mauern, deren Steine so viel gesehen haben, Freude und Verzweiflung, Leere und Sehnsucht und Erfüllung. Das Halbdunkel und die bunten Schatten der Fenster, jedesmal andersfarbig. Die Stille, vielleicht am ehesten die Stille. Den Alltag unterbrechen, sie steht ihre Frau im Beruf, muss sich täglich beweisen in einer Männerwelt, für Glaube-Hoffnung-Liebe bleibt wenig Raum. Wann hat sie aufgehört zu beten? Es muss während der Krankheit ihres Patenkinds gewesen sein, über anderthalb Jahre hat die Nichte sich gequält mit Chemotherapien, ein Teenager ohne Haare, Augenbrauen und Wimpern. Sie hat ihr zur Seite gestanden, anfangs hat sie gebetet wie alle in der Familie, dann nicht mehr, aber gemeinsam haben sie das geschafft. Die Krankheit ist besiegt. Die Schatten unter den Augen sind der Nichte geblieben. Ein Ernst und eine Tiefe, die nicht recht passen wollen zu einer Achtzehnjährigen. Ihr ist sie nahe geblieben, der vertrauteste Mensch. An Gott hat sie sich nie wieder gewendet, sie verlässt sich lieber auf sich selbst. Sieh mich an, sagt sie einer jüngeren Freundin, ich bin mitten im Leben. Ich leite eine Firma mit vielen Mitarbeitern. Mir geht es gut, schwört sie, auch wenn sie weiß: Es kann vorbei sein, von einem Tag auf den andern. Guck mal, sagt sie und kramt in ihrer Tasche, das hab ich mir aufgehoben. Ein Zettel aus der Kirche, ein Psalm. „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar“. Ich wollte ja nichts mehr wissen von diesem Herrn, ich konnte ihn nicht verstehen bei allem, was er meiner Nichte zugemutet hat. Aber da in der Kirche, als wir den Psalm gebetet haben, war ich zu Hause. Ich dachte auf einmal: Gott hat mir so viel Gutes gegeben. Ich habe schon ewig nicht mehr gebetet, aber der Psalm bedeutet mir viel. Verstehst du? - Die Jüngere denkt oft an diesen Moment. Sie haben sich nicht wiedergesehen. Die Freundin, ein paar Jahre älter, ist gestorben. Plötzlich. Mitten im Leben.
Aufgespürt. Alle Zolleinnehmer und andere Leute, die als Sünder galten, kamen zu Jesus, um ihm zuzuhören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten ärgerten sich darüber. Sie sagten: »Mit solchen Menschen gibt er sich ab und isst sogar mit ihnen!« Da erzählte ihnen Jesus dieses Gleichnis: »Was meint ihr: Einer von euch hat hundert Schafe und verliert eines davon. Wird er dann nicht die neunundneunzig Schafe in der Wüste zurücklassen? Wird er nicht das verlorene Schaf suchen, bis er es findet? Wenn er es gefunden hat, freut er sich sehr. Er nimmt es auf seine Schultern und trägt es nach Hause. Dann ruft er seine Freunde und Nachbarn zusammen und sagt zu ihnen: ›Freut euch mit mir! Ich habe das Schaf wiedergefunden, das ich verloren hatte.‹ Das sage ich euch: Genauso freut sich Gott im Himmel über einen Sünder, der sein Leben ändert. Er freut sich mehr als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, ihr Leben zu ändern.«
Ausgeflippt. Gottes unglaubliche Freude, die offenen Arme, er streut es breit, lässt es in die Welt hinausposaunen: Bei mir ist Vergebung, bei mir kannst du sein wie du bist, unverstellt, unfertig, unmöglich, dir selbst im Weg. Ich liebe dich mit alldem! Gott lässt sich total ausnutzen in seiner Güte, er legt es darauf an ausgenutzt zu werden, er gibt sein Leben für unseres, er verzeiht alles, vergilt nicht nach unsrer Schuld, sucht uns überall, wenn wir ihn verloren haben, wenn wir uns verloren haben, schickt uns ein Lied, einen Psalm, einen Menschen. Schickt uns seinen Sohn, der unerhörterweise mit den Halsabschneidern zusammensitzt und den Sünderinnen. Er geht denen hinterher, die alle Regeln von Anstand, Treu und Glauben gebrochen haben, die von Gott nichts mehr wissen wollen. Er freut sich über jede, die zu ihm zurückkommt, über jeden, der es wagt, weiter zu klettern mit seiner Kraft im Rücken und weiter zu gehen mit seinem Wort. Er freut sich über mich, wenn ich ihm meine Zweifel, meine Schuld, mein Nichtverstehen vor die Füße werfe. Mich umschaue und das Gute sehe, das Gott mich bei allem Schweren hat sehen lassen. Es ist Freude im Himmel über jeden Mann, jede Frau, die sich zu ihrem Zuhause bekennt bei ihm für diesen einen Tag und immer. Amen.