Gespräch am Feldrand - Predigt zum 20. Sonntag nach Trinitatis

Sat, 24 Oct 2020 11:33:52 +0000 von Charlotte Scheller

zu Markus 2,23-28 von Charlotte Scheller
Als ich klein war, waren die Sonntage ganz besonders. Ich durfte mein Sonntagskleid anziehen und in einem Jahr hatte ich auch Lackschuhe. Wir gingen zu Fuß zur Kirche. Jedesmal fiel ich hin und riss mir ein Loch ins Knie und in die Sonntagsstrumpfhose, die dann keine mehr war. In der Kinderkirche kriegte man ein Sammelbild. Die Bilder wollte ich vollständig haben. Am schönsten fand ich das Lied „Jesus ist kommen“, vielleicht weil es kein Kinderlied war, sondern ein erwachsenes, ein richtig fröhliches. Von den Bildern hatte ich die mit Jesus am liebsten. In meiner Erinnerung beugt er sich runter auf den Bildern. Zu den Kindern, die er in die Arme nimmt, während die Jünger abseits stehen und sich an den Kopf fassen. Zu dem Gelähmten, den die Freunde durchs Dach abgeseilt hatten, Jesus vor die Füße, während die Gelehrten abseits stehen. Der Sonntag war besonders, weil meine Mutter ein Sonntagsessen kochte und sich dann mit einem Buch und einer Tasse Kakao zurückzog. Und weil mein Vater Zeit für uns hatte. 
 
„Und es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ 
 
Da sind sie wieder, die abseits stehenden Gelehrten, die genau wissen, wie Glauben geht, und machen ihm Vorwürfe. Wenigstens suchen sie Streit. Eben erst haben sie sich hinter seinem Rücken aufgeregt, weil er dem gelähmten Mann die Sünden vergeben hat. Jetzt beobachten sie, was er am Tag des Herrn macht. Jetzt sprechen sie Jesus an. Er ist verantwortlich für das, was seine Jünger machen. Und was sie machen, gehört sich nicht, wenn man zur Gemeinde gehört. Unkraut jäten am Sonntag. Kornähren ausrupfen am Sabbat. Die Körner rausschälen und womöglich schroten, um sie zu essen. Das ist verboten. Weil Arbeit. Du sollst den Feiertag heiligen! 
 
„Und er sagt zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“  So sehe ich es auch. Keine religiöse Bevormundung. Keine Kleidchen und Strumpfhosen mehr. Als evangelische Christen sind wir frei, zu tun, was wir für richtig halten. Und was uns gut tut. Wenigstens am Sonntag. Ich kann zur Kirche gehen. Oder in den Wald. Wer sagt, dass ich Gott da, inmitten seiner Schöpfung, den Himmel über mir, die Erde unter den Füßen, nicht viel näher bin?
 
Jesus blockt das Gespräch nicht ab. Jetzt sind die Jünger außenvor. Jetzt gibt es nur noch ihn und die Pharisäer. Sie liegen nicht weit auseinander. Der Sabbat ist eine gute Gabe Gottes. Daran kann man das Gottesvolk erkennen: Am siebten Tag ist Ruhe. Jedes Machen und Tun unterbrochen. Weil Gott ruhte am siebten Tag. Ein Geschenk an seine Menschen. An Tiere und Pflanzen. An Einheimische und Fremde. Eine Erinnerung: Er hat uns gemacht und nicht wir selbst. Die Erinnerung streckt sich in die Zukunft. Denn am Ende der Zeit ist nur noch Sabbat. Ein großer, wunderbarer, ewig langer Feiertag. Er kommt. Die Pharisäer träumen, wenn ganz Israel nur zweimal richtig Sabbat hält, dann bricht Gottes Herrlichkeit an. Also tu deinen Teil dazu! Es hat Gläubige gegeben, die lieber gestorben sind als die Sabbatruhe zu brechen. Aber auch unter den Pharisäern gibt es unterschiedlich strenge Haltungen. Es sind Ausnahmen denkbar. Wenn Gefahr besteht für Leib und Leben. Aber. Die Jünger hätten vorsorgen können, dann wären sie auf dem Spaziergang nicht so hungrig gewesen. Bei Freunden in der Berliner Stadtmission war es so: Am Samstag wurde vorgekocht. Ein großer Topf Suppe. Und am Sonntag war man frei. Kein Sonntagsbraten. Zeit für den Gottesdienst. Für Gespräche und Spaziergänge.
 
Auch der Natur täte ein Ruhetag gut. Dem Klima. Den Arbeitnehmerinnen in den 24-Stunden-Online-Einkaufszentren. Schon in den Sechziger Jahren meint der Seelsorger und Theologe Romano Guardini: Der Sonntag ist nicht nur Sache des Einzelnen. Es geht nicht bloß um den Glauben der Christen und um ihr Ruhebedürfnis. Wir Christen sind ja nur ein Teil der Bevölkerung. Aber alle Menschen brauchen Ruhepausen. Das klingt übel in diesem Jahr, in dem so viele ihre Existenz bedroht oder zerstört sehen durch den Stillstand. Aber wir sollen ja nicht um eine aufgezwungene Ruhe kämpfen. Sondern um die Freiheit, ausruhen zu dürfen. 
 
Jesus lässt sich auf den Streit ein. „Und er sagt zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?“
 
Gegenfrage. Jesus argumentiert. Erinnert die Schriftgelehrten an eine Geschichte von David. Unterwegs, auf der Flucht vor König Saul, er hatte nichts zu essen dabei. Er nahm sich die Freiheit, in den Tempel zu gehen und die heiligen Brote zu nehmen. Nur der Priester darf sie essen. Aber Not kennt kein Gebot! Dass er sie mit seinen Freunden geteilt hat, steht nicht in Schrift. Auch nicht, dass er sie selber an sich nimmt. Nicht mal der Name des Hohepriesters stimmt. Jesus geht frei mit der Schrift um. Er interpretiert. David ist der legendäre König. Gottes Gesalbter. Ihm ist wichtiger, seine Leute aus der Not zu retten, als das Gesetz buchstabengetreu einzuhalten. David nimmt sich die Freiheit. Wie sich Jesus die Freiheit nimmt, für seine Leute einzustehen, auch wenn sie am Sabbat ein paar Kornähren ausgerupft haben. 
 
„So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.“ Es geht nicht bloß um den Sabbat. Es geht um das Gesetz, die Regeln, die für Gottes Kinder gelten, und um ihre Freiheit. Was David sich erlaubt hat, kann Jesus sich erst recht erlauben. Denn er ist der Davidssohn. Mit Gottes Kraft und Vollmacht ausgestattet. Dieser Herr über den Sabbat ist mehr als David. Er hat noch mehr zu geben als Brot aus dem Tempel. Er hat Worte des ewigen Lebens. Er ist selber Brot, ist Gottes Wort, Nahrung für die Seele und Hoffnung für das ganze Leben seiner Leute. Also auch für unser Leben. In unsrem unvollkommenen Lebensrhythmus hier und an Gottes neuem Tag. Er ist Herr über den Sabbat, weil er eins ist mit Gott. In Jesus, dem Menschensohn, ist Gott als Mensch bei seinen Leuten. Er beugt sich runter, obwohl er das gar nicht braucht, er ist ja schon unten. Bei den Zöllnern und Sünderinnen. Bei den Kranken. Bei dem Gelähmten, der nicht zu ihm gekommen wäre, wenn seine Freunde ihn nicht hingeschleppt hätten. Bei denen, die sich an die Gebote halten und sich selbst und der Schöpfung Ruhe gönnen. Bei denen, die das Leben feiern und es sich schmecken lassen. 
 
Dem Gesetz der Welt entkommt er nicht. Am Tag vor dem Sabbat wird er hingerichtet. Zum Tode verurteilt. Von seinen Leuten im Stich gelassen. Dann ist Totenstille. 
 
Bis zum ersten Tag der neuen Woche. „Als der Sabbat vorüber war“, sind die Frauen losgegangen zum Grab und haben ihn da nicht gefunden. Weil er lebt. Weil der Herr über den Sabbat sein Leben für alle gegeben hat. Weil er bei uns ist bis ans Ende der Welt. Deshalb feiern wir den Sonntag. Die Auferstehung Jesu. Unsere Hoffnung für heute und für ewig.
 
In den Wochen zwischen März und Mai, als wir uns nicht zum Gottesdienst treffen durften, haben viele von uns am Sonntag eine Kerze angezündet. Den Gottesdienst im Fernsehen geschaut oder eine Predigt gelesen. Ein Lied gesungen. Das Vaterunser mitgesprochen, wenn die Kirchenglocke geläutet hat. Während hier in der Kirche zwei, drei von uns es auch gebetet haben. Ich weiß, manch einer macht es immer noch so. Andere feiern ihren eigenen Gottesdienst im Wald. Im Wohnzimmer. Sonntag morgens um zehn, freitags bei der Kirche für Knirpse oder zu einer anderen Zeit. Weil Gott uns eine Zeit zum Ausruhen geschenkt hat. Weil wir ein Zeichen setzen wollen gegen den gnadenlosen Leistungsdruck. Weil wir uns eine Zeitlang dem Alltag entziehen und uns dem Herrn des Sabbats und unseres Lebens anvertrauen. Danach mögen wir weitergehen.
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