von Charlotte Scheller
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Zwei Brüder, die verschiedener nicht sein könnten. Die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren erzählt von ihnen. Die Brüder Löwenherz. Der ältere, Jonathan, sieht aus wie ein Märchenprinz. Mutig ist er, stark und klug. Bei allen beliebt. Sein Bruder Karl wird Krümel genannt. Nicht nur, weil er der Kleinere ist. Sein ganzes Leben scheint wie ein Krümel zu sein. Ein Bruchstück. Er kann nicht laufen. Er ist mit krummen Beinen geboren. Außerdem ist er krank. Husten schwächt ihn. Tagaus, tagein liegt er auf der Küchenbank. Sein Bruder erzählt ihm, was die anderen Kinder so machen. Was sie draußen spielen. Was sie in der Schule lernen. Ein armseliges Leben, könnte man denken. Aber in dem kleinen Krümel ist etwas Großes, Starkes: Die Liebe zu seinem Bruder.
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Zwei Brüder, die verschiedener nicht sein könnten. Die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren erzählt von ihnen. Die Brüder Löwenherz. Der ältere, Jonathan, sieht aus wie ein Märchenprinz. Mutig ist er, stark und klug. Bei allen beliebt. Sein Bruder Karl wird Krümel genannt. Nicht nur, weil er der Kleinere ist. Sein ganzes Leben scheint wie ein Krümel zu sein. Ein Bruchstück. Er kann nicht laufen. Er ist mit krummen Beinen geboren. Außerdem ist er krank. Husten schwächt ihn. Tagaus, tagein liegt er auf der Küchenbank. Sein Bruder erzählt ihm, was die anderen Kinder so machen. Was sie draußen spielen. Was sie in der Schule lernen. Ein armseliges Leben, könnte man denken. Aber in dem kleinen Krümel ist etwas Großes, Starkes: Die Liebe zu seinem Bruder.
„Weißt du, dass ich bald sterben muss?“ fragt Karl eines Tages seinen Bruder Jonathan und weint. „Wie kann es nur so was Schreckliches geben, dass manche sterben müssen, wenn sie noch nicht mal zehn Jahre alt sind?“ Jonathan denkt nach. „Weißt du, Krümel“, sagt er dann, „ich glaube nicht, dass es so schrecklich ist. Ich glaube, es wird herrlich für dich.“ – „Herrlich?“, fragt Krümel. „Tot in der Erde liegen, das soll herrlich sein?“ „Aber geh“, sagt Jonathan. „Was da in der Erde liegt, ist doch nur so etwas wie eine Schale von dir. Du selber fliegst ganz woanders hin.“
Krümel kann das nicht recht glauben. Aber Jonathan erzählt ihm von einem Land, das jenseits des Todes auf ihn wartet. Nangijala, das Land der Märchen und Sagen. Es liegt noch hinter den Sternen. Dort soll das Leben leicht sein. Dort wird Krümel sofort stark sein. Gesund und sogar hübsch. Er wird laufen können, draußen spielen und all die Abenteuer erleben, die er jetzt verpasst in seinem kurzen Erdendasein auf der Küchenbank.
Wie ein Traum klingt, was Jonathan seinem todkranken Bruder erzählt. „Es ist wie ein Märchen“, sagt Krümel Karl später, „und doch ist alles wahr.“
Wie ein Traum klingt auch unser Predigttext. Zuerst ist er den Leuten in Jerusalem gesagt worden. Fünfhundert Jahre vor Christi Geburt. Ihre Führungskräfte waren verschleppt worden in ein fremdes Land. Nun sind sie zurückgekehrt. Aber ihre Herzen sind schwer von dem, was sie erlebt haben, und verzweifelt von dem, was sie vor sich sehen. Die Stadt ist zerkrümelt, sie liegt in Trümmern. Die Häuser sind verfallen. In den Gärten wuchert Unkraut. In ihren Kummer hinein lässt Gott den Propheten Jesaja sprechen: Etwas Neues fängt an. Es wird herrlich!
Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird. Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich erschaffe Jerusalem zur Wonne und sein Volk zur Freude, und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht. Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen. Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen. Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des HERRN, und ihre Nachkommen sind bei ihnen. Und es soll geschehen: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören. Jesaja 65,17-24.
Es wird herrlich. Gott macht alles wunderbar neu und gesund und stark und schön. Ein Traum. Menschen bauen ihre Häuser wieder auf. Sie pflanzen Gärten und genießen die Früchte. Es gibt kein Weinen und Klagen mehr. Alle werden alt wie Bäume. Ihnen bleibt genug Zeit, um die Früchte ihrer Arbeit zu genießen. „Du kannst auf Bäume klettern“, sagt Jonathan seinem sterbenden Bruder über das Leben in Nangijala, „und dir ein Lagerfeuer im Wald machen und an einem kleinen Bach sitzen und angeln. Du kannst all das tun, wonach du dich immer gesehnt hast“.
Schöne Bilder. Die Wirklichkeit ist bitter. Für den neunjährigen Karl gibt es nur eine kurze Kindheit. Ohne Spielkameraden. Ohne dass er den Wind im Gesicht gespürt hätte und das Wasser des Baches an den Füßen.
Bitter war auch die Heimkehr der Jerusalemer aus dem Exil. In der Fremde, an den Wassern von Babylon, haben sie von zu Hause geträumt. Von zwölf Perlen sind die Tore an deiner Stadt. Aber es singen keine Chöre, als sie wiederkommen. Der Tempel ist zerstört. Nachbarn und Freunde sind in alle Winde verstreut. Beten. Arbeiten. Die Heimgekehrten möchten wieder Fuß fassen. Aber der Schrecken sitzt ihnen noch in den Gliedern. Der Tod ist ihnen näher als das Leben. Die Alltagssorgen lauter als die Zuversicht. Wie kann ich Gott jemals wieder vertrauen?
Ich finde mich wieder in den Fragen, in der Not, in die solche traumhaften Zukunftsvisionen gesagt werden. Ich finde mich wieder mit meiner Trauer um die Menschen, die ich verloren habe.
Viele von uns haben im vergangenen Jahr einen Menschen in schwerer Krankheit begleitet oder plötzlich loslassen müssen. Wir hätten noch etwas zusammen erleben wollen. Manches haben wir versäumt. Wie gelähmt sitze ich da, wie der Junge auf der Küchenbank. Warum überhaupt morgens aufstehen?
Auch wenn ich nicht den Tod eines Menschen zu beklagen habe, kann sich das Gefühl einstellen: Ich weiß keinen Menschen, der für mich da ist. Ich fühle mich dem Alltag nicht gewachsen. Nicht erst der Tod lähmt mich. Auch die vielen Brüche mittendrin.
Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.
Ein neuer Himmel. Ein erstes Lachen nach den Tränen. Irgendeine Kleinigkeit löst es aus. Lachen und Weinen, so nah beieinander!
Ein neuer Himmel. Ein Mensch, der mir nicht ausweicht. Er erzählt nicht seine Geschichte, er will meine hören. Nimmt mich in den Arm. Lässt zu, dass ich nichts weiter kann als traurig sein.
Ein neuer Himmel. Jenseits des Todes. Neues Lachen. Wir sind mit unseren Lieben zusammen. Wir werden mit unseren Talenten gesehen. Wir verstehen Gottes Plan für uns. Wir sehen das Licht. Wir können sagen: Ja, es ist gut.
Die Brüder Löwenherz treffen sich in Nangijala wieder. Im Land der Sagen erfüllt sich ihr Leben. Jonathan rettet durch seine Tapferkeit viele Bewohner Nangijalas. Karl, der Krümel, kann laufen, reiten und schwimmen. Und obwohl er überhaupt nicht mutig ist, wird er für seinen Bruder zum Retter. Seine Liebe ist stärker als die Angst. Die „Brüder Löwenherz“ können sich entfalten – ihren Mut, ihre Treue, ihre Liebe. Nichts bleibt bruchstückhaft. Alles erfüllt sich.
Was bringt das Träumen, Jesajas Vision? „Der Kummer ist nicht vorbei“, sagt Karl Löwenherz auf dem Weg durch das Land der Sagen. Aber er hat eine lebendige Hoffnung im Herzen. Die macht ihn stark. Zuletzt trägt er, der Kleine, den großen Bruder hinüber in das Land der Ewigkeit. Sie können für immer zusammen sein. „Ja, Jonathan“, ruft Karl, der Verzagte, „ich sehe das Licht. Ich sehe das Licht!“ So endet die Geschichte der Brüder Löwenherz.
Sich gegenseitig Sagen zu erzählen, sich Hoffnungsbilder zu sagen, auch wenn der Kummer nicht weg ist, was für ein Segen! Sich selbst damit zu stärken und andere. Ja, einmal wird alles zu Ende sein. Aber am Ende, da ist Gottes Zukunftsort. An diesem Ort ist kein Tod, kein Leid, kein Geschrei, kein Schmerz. Siehe, ich mache alles neu!
Aber was, wenn der Kummer stärker ist als die biblischen Bilder, wenn Trostversuche für mich unerträglich sind, wenn ich mich nach Hilfe sehne und keine Kraft habe, darum zu bitten? Gerade dann. Gott sagt: Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.
Einstweilen haben wir bloß sein Wort. Eines Tages aber werden wir sehen. Wir werden sehen!