Ein Stück Zeit - Predigtgedanken von Charlotte Scheller

Sat, 27 Nov 2021 16:58:23 +0000 von Charlotte Scheller

zu Jeremia 23,5-8
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Zu Besuch bei meinem Freund Teka. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer der kleinen Wohnung: Eine Reihe von Joghurtbechern, mit schwarzer Erde gefüllt. Aus jedem ragt ein kleines Pflänzchen mit zwei grünen Blättern. Was wächst da, frage ich. Kaffee, lacht Teka. Ich brauche das einfach. Ein bisschen Heimat. – So sehen Kaffeepflanzen also aus, sage ich. Wie lange dauert es, bis sie tragen? – Drei Jahre, lacht Teka wieder, dann kommen die ersten Blüten. 
 
Ich sehe die Pflanzen heranwachsen. Im Sommer stehen sie auf dem Balkon. Da sitzen wir auch, Tekas Frau röstet die Kaffeebohnen. In einer kleinen Pfanne, über der Gasflamme. Es duftet. Sie mahlt die gerösteten Bohnen und gießt sie mit kochendem Wasser auf. Es schmeckt köstlich. Die Kaffeezeremonie dauert lange. Jedes Essen mit Freunden endet so. Zu Hause in Äthiopien, sagt Teka, nimmt man sich Zeit zum Kaffeetrinken. Fünfunddreißig Jahre ist er schon aus der Heimat weg. Als Student ist er damals hergekommen. Landwirtschaft. Mit dem Diplom in der Tasche wollte er etwas aufbauen in seinem Land. Aber als er zurückkam, war Krieg in seiner Heimat. Immer wieder Gewalt, Hunger und Epidemien. Hier sollen meine Kinder nicht groß werden, meinte er. Er kam hierher zurück, hat umgesattelt, ist Krankenpfleger geworden. Die Sehnsucht nach der Landwirtschaft ist geblieben. In seinem Schrebergarten zieht er Mais und Bohnen und Chili. Einmal werden wir auf dem Land wohnen, sagt er, und Tiere halten und unser Essen selbst anbauen. Bis dahin wächst der Keim der Hoffnung auf der Fensterbank. 
 
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.  Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. 
 
Flucht und Vertreibung sind ein Menschheitsthema. Auch im Buch Jeremia hören wir davon. Der Tempel in Jerusalem ist zerstört. Viele Einwohner der Stadt wurden verschleppt. Weg aus der Heimat, nach Babylon. Sie lebten nicht schlecht da in der Fremde. Aber die Sehnsucht blieb lebendig. Nach der Rückkehr in ihr eigenes Land. Nach den Straßen und Häusern, nach dem Land und seinen Früchten. Je länger sie weg waren, desto schöner wurde in ihren Gedanken die Heimat. 
 
Menschen verlassen ihr Land, damals wie heute. Fliehen vor Krieg und Gewalt, vor Zwangsrekrutierung und religiöser Bevormundung. Sie fürchten um die eigene Gesundheit, um die Zukunft ihrer Kinder. Wie kann ihnen geholfen werden? Es ist Advent. Alle möchten wir auf ein Licht zugehen. Möchten dazugehören und zu Hause sein an einem Ort. Möchten essen und trinken und feiern wie da, wo wir herkommen. Die Israeliten waren fremd in Babylon. Auch in unserem Land leben Menschen fern ihrer Heimat. Die Ankunft hier war die Rettung für sie. Erstmal sind sie sicher. Aber oft bleibt das Gefühl, fremd zu sein. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen
 
Was ist ein sicheres Land, was nicht? Unsere Gesellschaft sucht nach Kriterien dafür, wer hier bleiben darf. Und wem zugemutet wird, in sein Herkunftsland zurück zu gehen. Auch mancher, der bleiben darf, möchte wieder zurück in die Heimat. Wenn sie denn wirklich Heimat wäre, wenn es da jetzt anders zuginge, wenn deine Kinder da zur Schule gehen könnten, auch die Mädchen, wenn sich da Arbeit finden ließe und ein Auskommen. Wenn das Rote Meer grüne Welle hat, heißt es in einem Lied von Piet Janssens, dann ziehen wir frei heim, dann ziehen wir frei heim aus dem Land der Sklaverei. Wenn unsre Tränen rückwärts fließen, dann bleiben wir hier, dann bleiben wir hier, weil sich das Land gewandelt hat. Zurückgehen oder hierbleiben. Niemand, der einmal weg war, kommt in dasselbe Land zurück. Weil das Leben weitergegangen ist. Weil nicht nur das Land sich gewandelt hat, sondern auch der, der weggegangen ist. 
 
Einige von den Kaffeepflänzchen auf Tekas Fensterbank sind zu großen Bäumen geworden. Und in seinem Garten wächst Mais, fern der Heimat, und die Freunde, deutsche und afrikanische und andere von überallher, kommen dorthin zum Feiern. Die Sehnsucht nach der Heimat bleibt lebendig, ein Gefühl, ein Paradies. Einerseits verloren. Andererseits die unverlierbare Hoffnung auf ewige Heimat. Auch der Prophet Jeremia kündigt seinem Volk eine Rückkehr an. Nicht in die alten Verhältnisse sollen sie zurückgehen. Sondern in eine Zukunft, die zum Bleiben einlädt. Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: »So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!«, sondern: »So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Landen, wohin er sie verstoßen hatte.« 
 
Der Erste Advent. Ein neues Kirchenjahr fängt an. Ein neues Stück Zeit liegt vor uns. Wie ein Land. Ob es darin heimatlich wird für mich und andere? Das hängt auch von mir ab. Ob ich die Tür öffne, ob ich zeigen und teilen kann, was mir kostbar ist. Ob ich neugierig bin auf die Heimat der andern. In der Begegnung mit einer, die von woanders her kommt, wird mir neu bewusst, was meine Heimat ausmacht. Welches Essen dazu gehört. In welchen Geschichten ich zu Hause bin, in welchen Liedern. Ich erfahre mein eigenes Zuhause neu, wenn ich etwas schmecke und höre von der Heimat eines andern. 
 
Kann sein, dass ich an meinen Heimatort zurückgehen muss, um bei mir selbst zu Hause zu sein. Oder aufbrechen, abschütteln, was schon lange schmerzt und kränkt, und mir eine neue Heimat suchen. Umkehr oder Flucht nach vorn? Jeremia pflegt ein Hoffnungspflänzchen. Einen Spross aus dem Hause David. Der Prophet hält die Hoffnung wach auf einen König, der anders ist als alle bisher gekannten. Auf einen Herrscher, der jedem Menschen gerecht wird. Mann und Frau und Kind. Jeder und jede soll sicher wohnen im eigenen Land. Einmal hat Gott sein Volk aus Ägypten zurückgeführt. Heraufgeführt, steht da. Aus der Tiefe heraufgeholt und in die Heimat gebracht. Der dich aus Ägypten geführt hat, das ist Gottes Name. Aber davon wird man nicht mehr reden, wenn Gott seine Menschen ein zweites Mal heraufgeführt hat. Aus dem Exil oder der inneren Entfremdung. Von jedem Ort, auch dem allerentlegensten, wird er uns nach Hause bringen. Der Glaube hält die Sehnsucht wach nach diesem Zuhause. Ich bleibe in Bewegung. Strecke mich aus nach diesem Ort, an dem alle Menschen zu Hause sein können. Ich und die Menschen, die mir nahe stehen. Und die, von denen ich fast gar nichts weiß. Die kranke Nachbarin in meiner Straße. Der junge Mann, der seine Reisegefährten verloren hat auf der Flucht über den Ärmelkanal. Die Bewohnerin in der Diakonie hier nebenan und der Bewohner des Luisenhofs, der neuerdings „Gast“ genannt werden muss.
 
Wir sind alle Gäste hier. Aber siehe, es kommt eine Zeit. Ein gerechter Spross wird heranwachsen. Die Kaffeepflanzen auf dem Fensterbrett meines Freundes künden davon und die Tannenzweige hier in der Kirche, zuletzt der Weihnachtsbaum. Im Sommer sitzen wir dort zusammen und im Winter hier. Das Zusammensein schmeckt nach Zuhause. Nach dem von früher und nach einem neu gefundenen. Ein Vorgeschmack auf die ewige Heimat bei Gott. Für jeden gibt es einen Ort auf der Welt. Gott hat sich ja für sich selbst diese Welt als Heimat ausgesucht. Er will Mensch werden. Er kommt vom Himmel auf die Erde. 
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