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Geistergeschichten am See. Predigt zu Matthäus 14,22-33 (von Charlotte Scheller)
Es ist nur ein kleines Meer, das Galiläische. Der See Genezareth. Er liegt im Jordangraben, 212 m unter dem Meeresspiegel, 21 Kilometer lang und 13 breit. Zum Vergleich: Das Steinhuder Meer misst acht mal viereinhalb Kilometer. Würde der See Genezareth mitten in Herberhausen beginnen und sich im Leinebett nach Norden hinziehen, könnten wir ein Boot nehmen und nach Northeim rudern. Oder segeln, wenn Wind ist. Aber bleiben wir in Galiläa.
Geistergeschichten am See. Predigt zu Matthäus 14,22-33 (von Charlotte Scheller)
Es ist nur ein kleines Meer, das Galiläische. Der See Genezareth. Er liegt im Jordangraben, 212 m unter dem Meeresspiegel, 21 Kilometer lang und 13 breit. Zum Vergleich: Das Steinhuder Meer misst acht mal viereinhalb Kilometer. Würde der See Genezareth mitten in Herberhausen beginnen und sich im Leinebett nach Norden hinziehen, könnten wir ein Boot nehmen und nach Northeim rudern. Oder segeln, wenn Wind ist. Aber bleiben wir in Galiläa.
Die Stunden vor dem Morgengrauen. Die vierte Nachtwache, berichtet Matthäus. Das ist zwischen drei und sechs. Die Jünger sind im Boot auf dem See. Meilenweit vom Ufer weg. Jesus hat sie gedrängt einzusteigen. Der Tag war lang. Es gab bedrohliche Nachrichten. Johannes der Täufer hingerichtet. Wird man Jesus auch festnehmen und sie, seine Anhänger? Und dann all die Menschen, die ihn sehen wollten. Mit ihrer Sehnsucht nach Heilung. Nach Vergebung. Nach Mehr für Leib und Seele. Nach all dem musste Jesus für sich sein. Sie sollten vorausfahren mit dem Boot, zum anderen Ufer. Nun ist es Nacht. Sie sind noch nicht am Ziel, sie haben Gegenwind, die Wellen quälen das Boot. Eine Nussschale im Meer. Schon mal sind sie in einen Sturm geraten, da war er mit an Bord. Jetzt ist er nicht da. Sieht aus, als ob er sie sehenden Auges in den Sturm geschickt hätte. Als ob er zuließe, dass sie in Not geraten ohne ihn!
Die Stunden vor dem Morgengrauen. Zwischen drei und sechs. Eine Frau im Krankenhaus. Sie wartet auf das Untersuchungsergebnis. Alles hängt davon ab, Leben oder Tod. Sie will leben, aber die Angst ist tief wie das Meer, die Wellen schlagen über ihr zusammen und keiner, der den Sturm stillt. Auch andere liegen wach in diesen Stunden. Die Schulleiterin grübelt, es gibt bedrohliche Nach-richten, die zweite Welle kommt, die Schule macht wieder auf und die Räume sind zu klein, um Abstand zu halten. Ein Familienvater kann nicht schlafen, es ist Post gekommen von der Ausländer-behörde. Sie werden abgeschoben, im Morgen-grauen wird man kommen und sie holen. Eine junge Frau sitzt die ganze Nacht am Computer, sie hat das Studium geschmissen, noch ein Online-Semester steht sie nicht durch. Aber da ist dieses Echtzeit-Spiel, da hat sie eine andere Gestalt und starke Freunde und besteht alle Prüfungen. Eine Frau in mittleren Jahren wacht am Bett ihres Mannes. Er wurde bewusstlos auf einer Flugreise und ist ins Koma gefallen, er wollte Beweise sammeln gegen die Korruption, sein Ziel hat er nicht erreicht.
Allein im Boot. Meilenweit vom Ufer entfernt. Als ob Jesus seine Leute absichtlich allein lässt in Not und Angst, in Todesnähe. Dann, im Morgengrauen, kommt er zu ihnen. Er geht über den See. Das kann nicht sein. Das ist ein Mythos, bloß Götter und Helden können übers Wasser gehen in Sagen und Legenden. Oder es ist einfach nur lächerlich. Ich kann auch übers Wasser gehen, hat mal ein Lehrer zu mir gesagt, ein Kollege in der Berufsschule in Hameln, und zum Fenster rausgeschaut auf die Weser. Wenn sie zugefroren ist. Was du hier machst, hat er damit gemeint, den Schülern vom Glauben erzählen, das ist nicht ernst zu nehmen. Das hilft ihnen nicht weiter. Mit deinem Jesus kannst du im wirklichen Leben nur baden gehen.
Morgengrauen. Die Stunde der Gottesbegegnung. Das Boot tanzt auf den Wellen. Jesus kommt zu ihnen auf dem See. Die Jünger sind verwirrt. Erschrocken. Ein Gespenst, meinen sie. Sie sind vernünftige Menschen. Wenn einer übers Wasser geht, kann das nicht mit rechten Dingen zugehen. Dann sind Geister im Spiel. Sie schreien vor Angst. Verständlich! Aber Jesus sagt: Ich bin’s. Wie wenn man nach Hause kommt, die Tür aufschließt und ruft: Ich bin’s. Die andern im Haus erkennen einen an der Stimme. Sie haben mit einem gerechnet.
Die Jünger in ihrem wellengequälten Boot haben nicht mit Jesus gerechnet. Aber das „Ich bin’s“ klingt vertraut. Kein Geist. Die Stimme von Jesus, für den sie ihre Netze und ihr Zuhause verlassen haben, mit dem sie unterwegs sind. Ich bin’s, sagt Gott zu Mose im brennenden Dornbusch. Fürchte dich nicht, ich bin bei dir, lässt er Israel sagen durch den Propheten Jesaja. Vielleicht ahnen die Jünger jetzt, in Jesus ist Gottes Kraft, Gott selbst kommt zu ihnen auf dem Wasser.
Petrus ahnt es auf jeden Fall. Er antwortet gleich. Sagt „Herr“. Wenn du es bist, so befiehl mir, zu dir zu kommen übers Wasser hinweg! Er ahnt: Jesus hat Macht vom Vater im Himmel. Wenn du es bist. Da klingen auch Zweifel an. Also will er testen, wie weit der Glaube trägt. Jesus sagt „Komm“. Petrus macht, was er sagt. Er will kein Zauberer sein, kein Akrobat, bloß ein Jünger. Wie wir, wenn wir im Glauben unterwegs sind. Wir handeln nicht eigenmächtig. Wir handeln auf Gottes Weisung und in Jesu Namen. Wenn wir tun, was er sagt, können wir über uns selbst hinauswachsen.
Petrus steigt aus dem Boot. Er wagt sich in den Sturm. Es geht. Er geht auf dem Wasser auf Jesus zu. Dann bemerkt er den Wind. Er kriegt Angst. Keinen Schrecken wie vorher, vor einem Gespenst oder der Begegnung mit einer göttlichen Macht. Die Bedrohung ist real, von dieser Welt. Er fängt an zu ertrinken, berichtet Matthäus. Was einem Angst macht in diesem Leben, kann übermächtig werden. Die Unsicherheit. Der Zweifel. Der Gegen-wind. Eine Schuld. Wenn man den Wind ansieht statt den Retter, geht man unter. Aber jetzt macht Petrus das einzig Richtige. Er schreit: „Herr, rette mich!“ Deshalb ist er der Erstberufene unter den Jüngern. Weil er von Jesus die Rettung erwartet.
Jesus streckt die Hand aus. Er hält Petrus fest. Du Kleingläubiger, sagt er. Warum hast du gezweifelt? In meinen Ohren ist das kein Vorwurf. Es klingt liebevoll. Ich weiß, du hast Zweifel. Ich bin da und überwinde sie, sagt Jesus. Und ich begreife: Es geht nicht darum, dass gar keine Stürme mehr aufkommen. Es geht darum, sich raus zu wagen. Den Schritt ins Ungewisse zu tun. Mit meinem Bisschen Glauben. Dieser Mischung aus Mut und Angst, Hören auf Gott und Starren auf den Gegenwind. Die Mischung ist grundlegend fürs Christsein. Die Jünger haben auch nach Ostern Zweifel. Obwohl sie den auferstandenen Jesus sehen konnten und anfassen. Jesus sendet sie trotzdem. Sie sollen weitersagen, Gott hat den Tod überwunden. Sie sollen selbst die Hand ausstrecken für einen anderen zur Vergebung oder zur Rettung aus Angst und Not.
Könnte man glauben nur auf diese Geister-geschichte hin? Es gibt ähnliche Geschichten in anderen Religionen. Götter und Helden wandeln übers Wasser. Von einem Anhänger Buddhas wird erzählt, er überquere auf dem Wasser einen Fluss durch die Kraft der Gedanken an den Meister. Goethe mag die Geschichte von Petrus auf dem See, weil sie zeigt, wie „der Mensch durch Glauben und frischen Mut“ die schwierigsten Dinge meistern kann, aber wenn er zweifelt, „sogleich verloren sei“.
Aber so verstehe ich die Geschichte nicht. Es ist eben nicht die Kraft meiner Gedanken, die mich rettet. Ich halte mich nicht selbst über Wasser. Es ist Christus. Er sagt „Ich bin’s“ und streckt die Hand nach mir aus, wenn ich schreie. Wie er auf seinem Weg auf der Erde die Hand zum Gesundmachen ausgestreckt hat und zum Sündenvergeben und zum Brot-Austeilen. Mit seinem Kreuz hat er eine Brücke über das tiefste Wasser gebaut. Darauf kann ich gehen mit meinem kleinen Glauben. Amen.