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Ein Stück Himmel in der Nacht. Predigt zu Genesis 28,10-19 (Anne Dill)
Ein Stück Himmel in der Nacht. Predigt zu Genesis 28,10-19 (Anne Dill)
Da liegt er nun auf der nackten Erde. Kleine Steine bohren sich in seinen Rücken. Kälte kriecht durch seine Glieder.
Viel zu schnell ist die Sonne untergegangen. Kaum Zeit hat er gehabt, um sich einen geeigneten Schlafplatz zu suchen. Dabei ist der schnelle Einbruch der Dunkelheit keine Überraschung. Das ist hier schließlich immer so. Aber Jakob ist schon lange nicht mehr fort von zu Hause gewesen. Und nie ist es so gewesen wie diesmal:
Sicher, früher hat er ab und an mal den Bruder oder seinen Vater begleitet auf ihren Streifzügen durch die Wildnis. Aber schnell hat er gemerkt, dass ihm dieses Leben nicht liegt. Viel lieber ist er zu Hause.
In vertrauter Umgebung, in der Nähe seiner Familie. Ganz besonders in der Nähe von Rebekka, seiner Mutter.
Schon immer ist Jakob ein Mama-Kind gewesen.
Sein Bruder Esau dagegen hat von klein auf den Vater auf Schritt und Tritt begleitet. Wenn die beiden dann abends von ihren Tageserlebnissen erzählen, ist Jakob kein bisschen neidisch: Hat er doch mit den Tieren gespielt, im Koch-Zelt vorbeigeschaut, den Geschichten der Frauen gelauscht und träumend in den Himmel geschaut.
In den Himmel schaut Jakob auch jetzt. Dunkel ist der und klar. Einzelne Wolken ziehen langsam vorbei. Und die Sterne – die leuchten über ihm. Viele, oben, in der Ferne, und doch so nah.
Eigentlich sollte er glücklich sein. Rebekkas Plan ist aufgegangen:
Er hat sich verkleidet. Nun sah er aus wie sein Bruder Esau, sogar seine Haut fühlte sich rau an wie Esaus Haut durch das Fell über den Armen. So hat er sich zu ihrem blinden Vater geschlichen, um den Segen für den erstgeborenen Sohn zu bekommen.
Der Vater ist auf die List hereingefallen. Ihn hat er gesegnet. Jakob, den Zweitgeborenen.
„Gott gebe Dir viel Regen und mache Dein Land fruchtbar. Getreide und Wein sollst Du im Überfluss haben“, hat der Vater gesagt.
„Viele Völker sollen Dir dienen. Du sollst über Deinen Bruder herrschen. Er muss sich vor Dir beugen.
Verflucht sei, wer Dir Böses tut; wer Dir aber wohlgesinnt ist, soll gesegnet werden.“
Ja, so hat der Vater gesprochen. Und er, Jakob, hat sich gefreut. Die Mutter hat Recht behalten, der Vater hat den Betrug nicht bemerkt.
Bis, ja bis dann Esau, der Bruder, nach Hause gekommen ist und den Vater auch um den Segen für den erstgeborenen Sohn gebeten hat. Ist ja eigentlich auch klar gewesen, dass der Schwindel auffliegen würde.
Aber was macht das schon? Er ist wieder einmal schneller gewesen und hat seinen älteren Bruder überlistet.
Eigentlich sollte er glücklich sein, wie er hier so liegt und in die Sterne schaut. Doch wenn er ganz ehrlich zu sich ist, dann ist Jakob vieles in diesem Moment. Aber glücklich ist er nicht.
Denn sein Bruder hat ihm Rache geschworen. Furchtbare Rache. Umbringen will er ihn.
Den, der ihm so weh getan, ihn um sein Recht gebracht hat, will er auslöschen, vernichten. Das hat er gesagt. Nein: Gebrüllt.
In diesem Moment hat Jakob es zum ersten Mal mit der Angst zu tun bekommen. Der Hass in den Augen seines Bruders ist unübersehbar gewesen. Da hat Jakob gewusst, dass er zuhause nicht mehr bleiben kann.
Schnell hat er ein paar Sachen zusammengesucht, sich in aller Kürze von den Eltern verabschiedet und ist davongelaufen. Nach Norden, Richtung Haran. Bei seinem Onkel soll er Zuflucht suchen, hat seine Mutter ihm noch geraten.
Doch es wird noch lange dauern, bis er dort ist.
Nein, Jakob ist nicht glücklich hier unter dem Sternenhimmel. Die dünne Decke reicht kaum, um die Kälte abzuhalten. Als Kopfkissen dient ein Stein.
Und allein ist er.
Jakob zittert. Wenn er doch einschlafen könnte!
Im Schlaf könnte er für eine Weile alles vergessen: Die Kälte, die Einsamkeit, das bohrende Gefühl in seinem Magen. Das ist eigentlich das allerschlimmste.
Wird er jemals wieder nach Hause kommen?
Wird er eines Tages Vater und Mutter wiedersehen?
Jakob sehnt sich so sehr danach, endlich einzuschlafen. Eine alte Weisheit schießt ihm durch den Kopf:
„Denen, die Gott liebt, gibt er alles Nötige im Schlaf.“ (Ps 127)
Darauf kann er wohl lange warten!
Gott - der liebt ihn ganz sicher auch nicht mehr.
Denn Gott hat er auch betrogen. Schließlich kommt der Segen von ihm.
Wird dieser Segen für ihn zum Fluch werden?
Wie wird Gott ihn bestrafen, für das was er getan hat? Seinen Schutz, den ist er jedenfalls los, da ist Jakob sich sicher.
Ist Gott doch der Gott seines Vaters und Großvaters. Und von dieser Familie hat er sich ja heute getrennt.
All diese Gedanken kreisen in der Zwischenwelt zwischen Wachen und Träumen durch Jakobs Kopf. Langsam, ganz langsam taucht Jakob immer weiter in die Traumwelt ein:
Da sieht er eine Treppe. Ganz hell und leuchtend ist sie. Unten endet sie genau an der Stelle, wo Jakob liegt. Aber oben, da reicht sie bis an den Himmel. Und da sind Engel, ganz viele Engel auf der Treppe.
Es ist, als ob sie ein Stück von Jakobs Nacht nach oben in den Himmel tragen.
Und wenn sie wieder herunterkommen, bringen sie ein Stück Himmel in Jakobs Nacht hinein.
Himmel in der Nacht auch durch das, was er hört:
„Ich bin der Gott Deines Vaters und Großvaters.
Ich bin mit Dir.
Ich will Dich behüten, wohin Du auch gehst.
Und ich will Dich wieder in dieses Land zurückbringen.
Ich werde Dich nicht verlassen.“
Da wacht Jakob auf. Es ist Morgen geworden. Ein neuer Tag beginnt.
Ein Betrüger ist Jakob immer noch. Den Konsequenzen seines Handelns kann er nicht entfliehen: Auch wenn er ein Ziel vor Augen hat, wird er noch lange unterwegs sein. Hunger, Durst und Kälte erdulden. Jeder Schritt wird ihn weiter fortbringen von seinem Elternhaus, den Menschen, Tieren und allem, was ihm lieb und teuer ist.
Ja, ein Betrüger ist Jakob immer noch…
Doch jetzt steht sein Weg unter einem anderen Vorzeichen:
Er wird bewahrt werden. Eines Tages wird er zurückkommen.
Gottes Versprechen ist größer als seine eigenen Fehler.
Jakob geht los.
Auf seinem Gesicht ein Hoffnungsschimmer.
In seinem Herzen Gottes Worte:
„Ich will Dich behüten, wohin Du auch gehst.
Ich werde Dich nicht verlassen“.
So weit Jakobs Geschichte. Später wird er den Beinamen „Israel“ kriegen. Er ist auch mein Vorfahr im Glauben. Ich finde mich in ihm wieder. Was Gott ihm sagt, stärkt mich auch:
Ich bin mit Dir auf Deinem Weg, sagt Gott.
Wenn die Dunkelheit Dich überfällt, dann will ich Dir einen Engel schicken.
Wenn Deine Schuld Dich erdrückt, dann bring sie mir. Ich nehme sie fort.
Wenn Du Dich selbst verdammst, dann will ich Dich in meine Arme ziehen.
Wenn Du Dir wünschst, die Zeit zurückdrehen zu können, dann gehe ich mit Dir einen Schritt in Richtung Zukunft.
Die Schuld und die Angst haben nicht das letzte Wort. Die Dunkelheit hat vor Gott keinen Bestand. Gott bleibt treu.
Amen.