von Vikarin Johanna Bierwirth
Ich sitze im Zug und blättere in meiner Bibel. Ich suche einen guten Predigttext für den kommenden Sonntag. Mir gegenüber sitzt ein älterer Herr und immer wieder guckt er auf das Buch in meiner Hand. Ich löse die Stille auf und sage zu ihm: „Ja, das ist die Bibel. Ich bin Vikarin und grübele über die nächste Predigt.“ Er nickt mir zu und zeigt auf das Buch in seiner Hand. „Familienrecht,“ sagt er, „ich bin Richter. Ich muss mich auf einen schwierigen Fall vorbereiten.“ Er rückt seine Brille zurecht und ich tippe kurz nervös mit meinen Fingern an der Armlehne. Dann frage ich ihn: „Worum geht es denn bei Ihrem Fall?“ Er guckt mich streng an und sagt ernst: „Darüber darf ich nicht reden.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch und schaue kurz aus dem Fenster. Dann schiebt er hinterher: „Worum geht es denn in Ihrer Predigt?“ Mit einem Schmunzeln sage ich: „Darf ich nicht drüber reden!“ Und dann lache ich kurz, der Richter lächelt auch ein bisschen. Weil ich nicht unhöflich sein will, schiebe ich hinterher: „Es soll darum gehen, dass wir Kinder Gottes sind.“ Kurz schweigen wir uns wieder an, der Richter und die Vikarin. Die Räder des Zuges rattern über die Schienen und am Fenster ziehen Bäume vorbei.
Ich sitze im Zug und blättere in meiner Bibel. Ich suche einen guten Predigttext für den kommenden Sonntag. Mir gegenüber sitzt ein älterer Herr und immer wieder guckt er auf das Buch in meiner Hand. Ich löse die Stille auf und sage zu ihm: „Ja, das ist die Bibel. Ich bin Vikarin und grübele über die nächste Predigt.“ Er nickt mir zu und zeigt auf das Buch in seiner Hand. „Familienrecht,“ sagt er, „ich bin Richter. Ich muss mich auf einen schwierigen Fall vorbereiten.“ Er rückt seine Brille zurecht und ich tippe kurz nervös mit meinen Fingern an der Armlehne. Dann frage ich ihn: „Worum geht es denn bei Ihrem Fall?“ Er guckt mich streng an und sagt ernst: „Darüber darf ich nicht reden.“ Ich ziehe die Augenbrauen hoch und schaue kurz aus dem Fenster. Dann schiebt er hinterher: „Worum geht es denn in Ihrer Predigt?“ Mit einem Schmunzeln sage ich: „Darf ich nicht drüber reden!“ Und dann lache ich kurz, der Richter lächelt auch ein bisschen. Weil ich nicht unhöflich sein will, schiebe ich hinterher: „Es soll darum gehen, dass wir Kinder Gottes sind.“ Kurz schweigen wir uns wieder an, der Richter und die Vikarin. Die Räder des Zuges rattern über die Schienen und am Fenster ziehen Bäume vorbei.
Als der Richter mich wieder anspricht, zucke ich kurz zusammen. Er fragt: „Sind wir das denn?“ - „Was?“, frage ich verwirrt. Er lehnt sich zurück, nimmt die Brille ab und schiebt sie in seine Hemdtasche. „Na, Kinder Gottes. Ich dachte, nur Jesus ist Gottes Sohn. Aber dann beten wieder alle das Vaterunser. Aber sind wir überhaupt Gottes Kinder?“ Er blickt mich erwartungsvoll an. Ich zögere, das ist nämlich wirklich eine knifflige Frage. Definitiv bin ich nicht Jesus. Aber die Vorstellung, ich bin Gottes Kind, die ist mir schon wichtig. Also sage ich: „Wir sind nicht von Anfang an Gottes Kinder. Wir sind Geschöpfe. Wunderbar gemacht! Aber doch mit Fehlern. Aber Gott liebt uns, deswegen kann er für uns zu Vater und Mutter werden.“
Der Richter lächelt und sagt: „Das Wort „Sünde“ haben Sie jetzt aber schön vermieden. Aber ich verstehe. Das Vorstrafenregister ist lang.“ Ich nicke. „Ja, sehr lang. Und ich will das Wort Sünde gar nicht vermeiden.“ Mein Blick fällt auf den Schokoriegel auf dem Tisch. „Aber man denkt heute eher an Schokolade bei dem Wort. Dabei sind weit subtilere Versuchungen gemeint. Sünde, das meint ein Um-sich-selbst-Kreisen. Wenn ich in meinem Innern nicht satt werde, kann ich abgestumpft sein für die Liebe, dann sehe ich meinen Nächsten und Gott nicht mehr.“
Der Richter holt umständlich die Brille wieder hervor und setzt sie auf: „Harte Worte an die Angeklagten. Wie kommen wir da heraus? Ich habe schon genug Predigten gehört, um zu wissen, dass am Ende der Freispruch der Angeklagten steht. Und an diesem Punkt betritt doch bestimmt Jesus Christus den Gerichtssaal, stimmt´s?“ Er lächelt mich amüsiert an und ich muss kurz lachen. „Ja, na klar. Jesus Christus ist der Sohn Gottes. Die beiden sind Vater und Sohn. Und sie lieben sich. Bei seiner Taufe reißt der Himmel auf und Gott sagt: Das ist mein geliebter Sohn. Und Jesus sagt zu Gott: Abba. Das ist aramäisch, es heißt ‚Papa‘. Und Jesus zeigt uns, dass auch wir, zum Beispiel im Gebet, Gott als unseren Vater ansprechen sollen.“
Der Richter hört mir schweigend zu. Er ist noch nicht zufrieden. „Dass Jesus Gottes Sohn ist, habe ich jetzt in der Weihnachtszeit oft genug gehört. Warum aber sollen wir nun, mit unserem ganzen Vorstrafenregister, auch Gottes Kinder sein? Kommen Sie auf den Punkt!“ Herausfordernd starrt er mich an, aber bevor ich antworten kann, fällt mir der Richter ungeduldig ins Wort: „Will Gott vielleicht gar nicht unser Vater sein? Ich fühle mich hier als Kind zweiter Klasse!“ Jetzt werde ich laut, denn er lässt mich nicht ausreden und hat mich falsch verstanden. „Doch, er will unser Vater sein! Das ist ja genau das, was Gott ausmacht! Die Worte „Vater“ und „Mutter“ sind nicht bloß irgendwelche Metaphern für Gott. Das sind seine Namen! Zu seinem Wesen gehört, dass er uns liebt!“ Ich bin über mich selbst erschrocken, weil ich laut geworden bin. Doch der Richter stichelt nur: „Ihre Beweisführung ist noch mau, Frau Vikarin!“ Er setzt die Brille wieder ab. Ich greife nach der Schokolade. „Der Punkt, Euer Ehren, ist, dass Jesus in diese Welt gekommen ist. Er wird Mensch. In ihm macht sich Gott für die Welt sichtbar. Er lehrt uns zu beten: Vater unser. Er zeigt uns, was Liebe bedeutet. Und wenn wir uns dem Mensch gewordenen Gott anschließen, wenn wir Christus als unseren Herrn annehmen, dann wird Gott für uns zum Vater. Paulus nennt das: Adoption.“ Zufrieden beiße ich in die Süßigkeit.
Nun zieht der Richter die Augenbrauen hoch und antwortet: „Dann kommen wir ja nun in meinen Themenbereich. Im Familiengericht habe ich ständig mit der Frage nach Adoption und Vaterschaft zu tun. Bei Gott können wir aber wahrscheinlich auf ein gerichtsmedizinisches Gutachten auf Basis eines Vaterschaftstestes verzichten.“ Er lacht kurz, dann fährt er fort: „Wenn Sie nun aber sagen, dass unsere Beziehung einer Adoption gleicht, dann ändert das natürlich alles. Denn bei einer Adoption nehmen sich Eltern eines Kindes aus freiem Entschluss an. Rechtlich sind diese Kinder den leiblichen Nachkommen in jeglicher Hinsicht gleichgestellt, sogar bei der Erbschaft. Das rückt uns ja doch sehr nah an den Sohn ran.“ Ich nicke: „Erbschaft ist ein gutes Stichwort“. Ich halte ihm meine Bibel hin. „Hier, auch diesen Begriff verwendet Paulus. Er schreibt im Brief an die Römer, Kapitel 8: Ihr steht leiblichen Kindern in nichts nach. Ihr habt einen Geist empfangen, der euch zu Kindern Gottes macht. Weil wir diesen Geist haben, können wir rufen: Abba, Vater! Und derselbe Geist bestätigt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind. Wenn wir Kinder sind, dann sind wir aber auch Erben: Erben Gottes und Miterben von Christus. Und das Erbe ist gewaltig: Es ist nichts Geringeres als das ewige Leben. Wir können darauf unsere Hoffnung setzen. Diese Hoffnung befreit uns schon jetzt vom Kreisen um uns selbst, von der Ignoranz gegen andere, von Angst und Wut. Indem Gott für uns zum Vater wird, rettet uns der Sohn.“
Wir werden kurz unterbrochen, eine Zugbegleiterin kommt und entwertet unsere Tickets. Der Richter trommelt mit den Fingern auf dem Tisch. Ich merke, dass er mir dringend antworten möchte. Als die Zugbegleiterin weitergezogen ist, spricht er sofort los: „So, die Aufklärung über die Rechte der Adoptierten haben wir jetzt gehört. Aber wir haben noch gar nicht über die Pflichten gesprochen!“ Ich zücke meine Bibel und lese vor: „Brüder und Schwestern, das bedeutet: Wir sind nicht länger der menschlichen Natur verpflichtet und müssen ihr nicht länger folgen. Wenn ihr nämlich so lebt, wie es der menschlichen Natur entspricht, müsst ihr sterben. Wenn ihr aber mithilfe von Gottes Geist die Gewohnheiten eurer menschlichen Natur tötet, werdet ihr leben. Alle, die sich von diesem Geist führen lassen, sind Kinder Gottes.“ Wie wild fängt der Richter an zu nicken. „Ja, genau, Adoption gleicht einer leiblichen Kindschaft! Du hast Recht auf Fürsorge und Erbe und so weiter, aber du hast auch dieselben Pflichten! Aber jetzt müssen Sie für mich in diesem speziellen Fall nochmal erklären: Was meint denn nun Ihr Paulus? Was sind unsere Pflichten?“
Die Frage ist so einfach, ich antworte ihm mit nur einem Wort: „Liebe!“ Weil der Richter mich weiterhin erwartungsvoll anschaut, fahre ich fort: „Jesus hat uns die Liebe vorgelebt. Er ist der Sohn, er ist voll und ganz der Liebe verpflichtet. Das sollen wir auch tun. Oder wie es im 1. Johannesbrief heißt: Jeder, der liebt, ist von Gott geboren. Das klingt simpel. Ist aber schwer. Es ist schwer, überhaupt erstmal zu lieben, vor allem, wenn man selbst nicht viel Liebe von anderen erfahren hat. Dann kostet es Überwindung, den ersten Schritt zu tun. Ich meine hier nicht speziell die romantische Liebe, sondern jede Form von Freundlichkeit und Barmherzigkeit. Aber auch nach dem ersten Schritt wird es nicht unbedingt leichter. Wer wirklich liebt, tut dies mit ganzem Herzen und ganzer Kraft. Aber das kann anstrengend sein. Zum Beispiel wenn die Liebe enttäuscht wird. Oder wenn uns andere sogar mit Hass auf unsere Liebe begegnen. Dann leiden wir. Dazu sagt Paulus etwas wirklich Tröstliches. Er schreibt: Wir bekommen Anteil an der Herrlichkeit des Sohnes, wenn wir sein Leiden teilen. Das ist die Voraussetzung. Und damit spielt Paulus auf das Leiden am Kreuz an: Jesus hat in dieser Welt nichts getan außer zu lieben. Und dafür wird er ans Kreuz geschlagen. So ein Leid ist unvorstellbar und wird uns auch nicht widerfahren. Aber Leiden aus Liebe, das kennt wohl trotzdem jede und jeder von uns. Wir können uns in unserem Leiden daran erinnern, wie Jesus gelitten hat. Dazu müssen wir aber erstmal das menschliche Um-sich-selbst-Kreisen ablegen. Nicht mehr um uns selbst kreisen, sondern anhalten. Innehalten. Und einfach lieben. Das Evangelium ist ein Plädoyer für die Liebe.“
Kurz denke ich, dass jetzt alles gesagt ist, aber an seinem Blick sehe ich, dass er doch noch eine Frage hat. „In Ihrem Paulus-Text fehlt mir noch etwas. Ständig redet er vom Geist. Mögen Sie für mich mal bitte das Trio von Vater, Sohn und Geist vervollständigen?“ Die Durchsage des Zugchefs kündigt den nächsten Halt an, ich greife schon mal nach meiner Jacke, denn hier muss ich raus. Schnell antworte ich noch: „Jesus ist ja leider nicht mehr unter uns, sondern beim Vater. Aber den Geist hat er uns geschickt, hier auf die Erde. Der Geist lässt uns im Herzen die Liebe Gottes spüren, der Vater und Mutter für uns ist. Dass wir genau so Gottes Kinder sind, wird uns sogar ganz konkret zugesprochen: In der Taufe. Denn Taufe ist nicht bloß eine Aufnahme in die Gemeinde. Sie ist das irdische Zeichen für die Aufnahme in die Gotteskindschaft. Quasi die Adoptionsurkunde. Und Zeugen kann ich Ihnen auch präsentieren! Die Eltern, die Paten und die Gemeinde. Aber hier muss ich aussteigen. Wie lautet das Urteil, Euer Ehren?“ Er lacht und blickt auf seine Armbanduhr. Dann sagt er: „Diese Geschichte könnte jetzt dramatisch damit enden, dass ich sie um die Taufe bitte. Aber ich bin schon getauft. Was machen wir jetzt?“ Der Zug hält an. „Auf Wiedersehen!“, sage ich. Ich steige aus und gehe ein paar Schritte bis zu dem Fenster, wo der Richter noch sitzt. Ganz schnell krame ich ein Feuerzeug raus. Das ist jetzt unser Ersatz für die Taufkerze. Sich an die Taufe erinnern geht überall, auch im Alltag. Ich entzünde das Feuerzug. Der Richter blickt mich an und lächelt. Wir sind einmal getauft, aber wir können uns ein Leben lang daran erinnern. Das kleinste Licht reicht aus! Und dann wissen wir, dass wir Gottes Kinder sind. Amen.