Disteln und Dornen. Predigt am Israelsonntag

Sat, 07 Aug 2021 13:31:06 +0000 von Charlotte Scheller

von Charlotte Scheller und Anne Dill
Audio unter diesem Beitrag

I. Weinberg-Panorama
„Gott hat nur Wasser geschaffen, aber der Mensch machte den Wein.“ Victor Hugo (1802-1885). Wahr ist, es ist ein langer Weg von der Rebe bis zu einem guten Glas Wein. Die Hauptarbeit leistet die Natur. Der Winzer hat auch reichlich zu tun. Im Februar werden die Reben beschnitten, damit sie nicht verwildern. Totes Holz und überlange Triebe werden entfernt. In Handarbeit, mit klammen Fingern, es ist noch kalt. Im März werden die Reben gebogen und an den Rahmen gebunden, damit sie gesund bleiben. „Erziehen“ sagt man dazu. Weiter geht es im Frühjahr: den Boden lockern und düngen. 
Im Sommer werden Geiztriebe ausgebrochen. Der Winzer beobachtet, ob die Reben genug Licht kriegen und nicht von Krankheiten oder Pilzen befallen werden. Nach der Blüte werden überzählige Blätter entfernt, damit die wachsenden Früchte Luft kriegen und Licht. Die Spitzen der Triebe werden abgeschnitten, alle Kraft soll in die Trauben gehen. Zwischendrin wird das Unkraut gezupft. 
Dann heißt es warten. Die Sonne ihre Arbeit tun lassen. Die Trauben prüfen, ihre Süße und Qualität begutachten. Faule und unreife Früchte auslesen und schließlich ernten. Dann verlieren die Reben ihre Blätter und verfallen in Winterschlaf. Während der Wein in den Fässern reift.
 
Der Mensch macht den Wein, sagt Victor Hugo. Aber wer die Arbeit in einem Weinberg beobachtet oder bloß im eigenen Garten arbeitet, oder etwa im Nikolausberger Klostergärtchen, weiß, das ist nur die halbe Wahrheit. Ich kann graben, die Erde lockern, düngen, Unkraut zupfen, die Triebe hochbinden und beschneiden. Aber dann braucht es Sonne, Wind und Regen. Alles im richtigen Maß. Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand. Und wer kennt nicht die lästigen Disteln, Dornen und Wildkräuter, die, kaum hat man den Boden gelockert, umso kräftiger aufschießen und den Hortensien und dem Schnittlauch das Licht nehmen? Ich sage nur: Giersch. 
 
Es braucht langen Atem, um dranzubleiben am Garten. Den Weinberg zu pflegen. Es braucht Herzblut, Geduld und Glück. Du musst deinen Garten liebhaben, damit er Blüten und Früchte bringt. Tut er es dann immer noch nicht, ist das eine große Enttäuschung. 
 
So enttäuscht ist Gott von seinem Volk. Wie einen Weinberg sieht der Herr Zebaoth sein Volk, der keine Früchte bringt. Obwohl der Winzer ihn umgegraben hat, entsteint, bewässert und mit einem Zaun geschützt. Davon handelt das Weinberglied weiter vorn im Buch des Propheten Jesaja (Jes5). Der Winzer ist wütend. Er wird den Zaun wegnehmen, die Mauern einreißen und den Weinberg den wilden Tieren und wuchernden Pflanzen überlassen. Schutzlos. Gottes Weinberg ist das Haus Israel, sagt Jesaja. Seine Pflanzung sind die Männer Judas. Sie haben Gott aus den Augen verloren. So konnte er ihnen nicht mehr helfen. Gott ist traurig über sein Volk. Er will sie nicht leiden sehen. Aber die Verwüstungen, die der Prophet damals seinen Leuten ansagen musste, sind Wirklichkeit geworden. Das Volk Israel hat Missernten erlebt. Soziale Konflikte. Weil sie Gott den Rücken kehrten, hatten die Feinde leichtes Spiel. Assyrer und Babylonier fielen ein. Es kam zu Hungersnot, zur Verbannung, zur Zerstörung ihrer Häuser, ja sogar ihres Gotteshauses. Die Wehe-Rufe, die auf das Weinberglied folgten, haben sich erfüllt. 
 
Jetzt stimmt der Prophet eine neue Strophe an. Was damals geschah, ist nicht endgültig. Gott zürnt nicht mehr! Er wird aufräumen mit der Welt. Wird die Ungerechten bestrafen und Frieden machen mit denen, die ihr Leben an seinem Wort ausrichten wollen. An dem Tag wird aus dem Trauergesang ein Freudenlied. Der Weinberg wird wieder ein lieblicher Ort. Weil Gott selbst ihn beschützt. In Jesaja 27 lesen wir: Zu der Zeit wird es heißen: Lieblicher Weinberg, singet von ihm! Ich, der HERR, behüte ihn und begieße ihn immer wieder. Damit man ihn nicht verderbe, will ich ihn Tag und Nacht behüten. Ich zürne nicht. Sollten aber Disteln und Dornen aufschießen, so wollte ich über sie herfallen und sie alle miteinander anstecken, es sei denn, sie suchen Zuflucht bei mir und machen Frieden mit mir, ja, Frieden mit mir. Es wird einst dazu kommen, dass Jakob wurzeln und Israel blühen und grünen wird, dass sie den Erdkreis mit Früchten erfüllen. Hat er Israel geschlagen, wie er seine Feinde schlägt? Oder hat er es getötet, wie er seine Feinde tötet? Vielmehr, indem du es wegschicktest und wegführtest, hast du es gerichtet, es verscheucht mit rauem Sturm am Tage des Ostwinds. Darum wird die Schuld Jakobs dadurch gesühnt werden, und das wird die Frucht davon sein, dass seine Sünde weggenommen wird: Er wird alle Altarsteine zerstoßenen Kalksteinen gleichmachen; und keine Bilder der Aschera noch Räucheraltäre werden mehr bleiben (Jes 27,2-9).
 
Schwere Wege musste das Gottesvolk gehen. Gott hat keine Freude daran. Sein Zorn dauert nicht ewig. Aber an der Liebe zu seinem Volk hält er fest für immer. Von den Feinden des biblischen Israels ist nichts übrig außer archäologischen Funden. Assyrer, Babylonier, Römer, alle sind verschwunden. Allerdings sind die Israeliten verstreut über die ganze Welt. In vielen ist eine Sehnsucht: Im Heiligen Land sterben und begraben werden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kamen Juden in immer neuen Wellen nach Palästina zurück. Nicht bloß zum Sterben, auch um da zu leben. Um das Land wieder aufzubauen. Um dem Holocaust zu entgehen oder die grausamen Erfahrungen der Verfolgung hinter sich zu lassen. 
 
Kehrvers: Ich hab’ einen Weinberg, in dem bin ich gern,  
hege ihn und pflege ihn wie meinen Augenstern. 
Muss ihn oft begießen, weil es hier trocken ist,  
will Früchte ich genießen, wenn’s Zeit zum Ernten ist.
Disteln und Dornen nehmen ihm das Licht. 
Aber ich lasse meinen Weinberg nicht.
Werd’ ihn behüten, denn die Frucht ist süß,  
hier find’ ich Frieden, er ist mein Paradies. 
 
II. Disteln und Dornen
Disteln und Dornen hat der Prophet Jesaja für seine Leute vorhergesehen. Aber er hat auch eine Verheißung verkündet: Gott wird sie vernichten, damit sein Weinberg, sein Volk nicht verdirbt. Verbrennen wird er sie, so dass kein einziger Stachel übrig bleibt. 
Schauen wir heute nach Israel und in den Nahen Osten, sehen wir viele Disteln und Dornen. Innerhalb Israels streiten Menschen aus dem israelischen und aus dem palästinensischen Volk erbittert um die so genannte Westbank und den Gazastreifen. Die einen drehen den anderen das Wasser und den Strom ab, die anderen antworten mit Steinen und Raketen. Beide Völker beanspruchen Jerusalem als alleinige Hauptstadt. International haben nur vier Staaten in der ganzen Welt Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkannt. Alle anderen haben ihre Botschaften in Tel Aviv. Weil niemand das Feuer weiter schüren will, das schon lange dort brennt. Israelis und Palästinenser durch eine meterhohe Betonwand geteilt. 
 
Disteln wachsen auch dort, wo im Nahen Osten Ländergrenzen bis heute nicht passierbar sind. Wo Menschen mit einem arabischen Stempel im Pass nicht nach Israel einreisen können und umgekehrt. Seit zehn Jahren Krieg in Syrien. Ein Drittel der libanesischen Bevölkerung sind syrische Flüchtlinge. Seit einem Jahr liegt der Libanon nun selbst wirtschaftlich, politisch und humanitär am Boden. Bis heute sind der Libanon und Israel offiziell im Kriegszustand. Einen Friedensvertrag hat es nie gegeben.
Disteln und Dornen. Krieg und Leid und Verletzungen in großer Zahl. Schuld auf allen Seiten. 
 
„Ich zürne nicht“, sagt Gott. „Sollten aber Disteln und Dornen aufschießen, so wollte ich über sie herfallen und sie alle miteinander anstecken, es sei denn, sie suchen Zuflucht bei mir.“ Diese Worte klingen in Anbetracht der Realität wie eine Illusion. Zu Jesajas Zeiten wird es nicht anders gewesen sein. Und doch hat Jesaja sie gesagt. Nicht, weil er ein Träumer war. Oder weil er die Leute hinwegtrösten wollte über die Realität. Sondern weil er etwas gesehen hat unter den Disteln und Dornen. Wurzeln, die austreiben werden und dann Frucht bringen. Jesaja hat sie im Blick, auch wenn niemand anderes sie sieht. Er schaut mit Gottes Augen. Die wissen, was unter den Stacheln längst ist. Die dringen durch Dunkelheit und Dornen. Und so erzählt Jesaja von Gott, der seinen Weinberg pflegt. So wie er ganz am Anfang den Paradiesgarten angelegt hat. Mit Liebe und Sorgfalt hat er ihn gepflanzt, gegossen, gehegt und gepflegt. Dann kamen die ersten Disteln. Die Menschen mussten den Garten Eden verlassen. Er ist zugewuchert im Laufe der Zeit. Aber Jesaja hat ihn nicht vergessen. Der Garten ist immer noch da. Gott ist in ihm immer noch am Werk und wird ihn nicht aufgeben. Immer wieder leuchtet etwas durch die Dornen. Ein zartes Pflänzchen, eine Blüte.
 
Vor fünf Jahren habe ich einen Pastor im Libanon getroffen. Er hat erzählt von seinem schweren Dienst. Aber ohne zu klagen. Alle vier bis sechs Wochen hat er sich aufgemacht über die Grenze nach Syrien, um den Menschen in Homs und Aleppo beizustehen. Alle paar Wochen hat er sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt, um für die Menschen in den beiden umkämpften Städten da zu sein. Kein anderer Geistlicher hat sich zu ihnen gewagt. Warum machst Du das, habe ich ihn gefragt. Weil sie zu meiner Gemeinde gehören. Eine schlichte Feststellung. Eine Blüte unter den Dornen der Verwüstung.
 
Zarte andere Pflanzen wachsen im Norden Israels. ZEDAKAH heißt eins von mehreren Versöhnungswerken. In Shavei Zion (sh’vej zión) ist das Gästehaus Beth El. Übersetzt: Haus Gottes. Überlebende des Holocaust können da einen kostenlosen Urlaub am Mittelmeer verbringen. In Maalot ist das Pflegeheim Beth Elieser. Dort werden Juden, die den Nationalsozialismus überlebt haben, im Alter liebevoll begleitet und gepflegt. Elieser heißt: Mein Gott ist Hilfe. Junge Christinnen und Christen aus dem deutschsprachigen Raum arbeiten als Freiwillige in beiden Häusern für ZEDAKAH. Der Name bedeutet Gerechtigkeit. Gutes tun. Das begangene Unrecht wieder gutmachen kann kein Mensch. Aber in diesen Häusern erfahren Gäste, Bewohnerinnen und Freiwillige, wie Gott hilft, wie der Herr Zebaoth seinen Weinberg pflegt und seinen kostbaren Reben Luft und Licht verschafft. „Ich, der HERR, behüte meinen Weinberg und begieße ihn immer wieder.“
 
Kehrvers
 
III. Nur ein Zweig
Gott zürnt seinem Volk nicht mehr. Sie haben sich abgewandt von ihm und in alle Winde zerstreut. Strafe genug. Die Israeliten sind zurückgekommen zu ihm. Die Altäre der fremden Götter sind zu Kalk zerbröselt. Fremde Mächte können ja nicht helfen. Jetzt erwarten sie die Hilfe von ihm. Und Gott hegt und pflegt freudig seinen Weingarten, damit Friede in ihm wächst und er Früchte bringt für die ganze Welt. Sein Versprechen nimmt er nicht zurück, es gilt dem Gottesvolk für immer und ewig. In ihm wurzelt auch mein Glaube. Vergiss nicht, sagt Paulus, der einstige Christenverfolger, nun Missionar Christi, du bist aufgepfropft. Ein eingesetzter Zweig. Deinen Saft kriegst du aus dieser Wurzel. Schau nicht auf sie herab. Schau mit ihnen auf den großen Weingärtner. Von seiner Liebe hängt alles ab, was wächst und Früchte bringt. 
 
Ich bin auch ein Pflänzchen in seinem Weinberg. Eigentlich nur ein Zweig. Durch Christus. Ich bin der wahre Weinstock, hat er zu seinen Freunden gesagt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun (Johannes 15,5). An diesem Weinstock, der abgeschnitten wurde und weggeworfen, der abgestorben ist und den Gott neu zum Leben erweckt hat, an ihm halte ich mich fest. Wenn Disteln in mir hochschießen. Wenn ich an mir selbst zweifle, an meiner Fähigkeit, das Gute zu tun, an der Wirksamkeit meiner Bemühungen, an der Festigkeit meines Herzens, an Gottes lebendiger Gegenwart in meinem Leben. Christus ist meine Verbindung zum großen Weingärtner. Der lebendige Gott lässt nicht von seinem Weinberg. Er hegt und pflegt, was an Gutem in uns wächst. Wir werden grünen und blühen und Früchte bringen! 
 
Kehrvers
Bestätigen

Bist du sicher?