Predigt zum Mirjam-Lied Ex 15,20-21 von Pn. Anna-Katharina Diehl

Sat, 22 Aug 2020 09:33:39 +0000 von Anne Dill

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Predigt zum Miriamlied Ex 15,20-21 (Pn. Anna-Katharina Diehl)
Haben Sie´s gehört?

Die Stimme einer Frau, die vorsingt, ausdrucksstark, kräftig, unterlegt mit hellem Jubel und vom Schlag der Pauke, dem Rhythmus dieser alten Kesseltrommel. Ein Lied, das ins Blut geht und einlädt zum Reigentanz. „Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Rosse und Wagen warf er ins Meer.“ (Ex 15,21)

Ich stelle mir vor, wie die große Prophetin Israels, die Schwester des Mose und des Aaron, mit hoch erhobenem Haupt anmutig vor ihrem Volk Israel her tanzt. Hinter ihr die anderen Frauen, erst noch etwas zögerlich und benommen von den großen Ereignissen, die sie gerade erlebt haben. Doch nach und nach lassen sie sich alle anstecken von der Freude und Euphorie der Miriam – eine Freude über den Sieg und das Leben.

Hinter ihnen wallen die Wogen des Meeres mit leisem Rauschen als wollten sie daran erinnern: Ich bin es, das euch dieses Geschenk des Lebens gegeben hat. Gott hat euch durch mich das Leben und die Freiheit geschenkt…

Wer könnte beim Anblick dieser Szene nicht die Sehnsucht nach Mee(h)r verspüren? Beim Blick über die Wellen in die Weite des Ozeans und das Lied der Miriam im Ohr stellt sich die Hoffnung ein: ich bin gerettet – wir sind gerettet – Gott sei Dank! 

Doch wenn ich mir die Geschichte von der wunderbaren Rettung durch das Meer tiefer vergegenwärtige, dann fällt mir auf, dass das Wasser an sich auch noch eine andere Dimension besitzt: Das Meer ist nicht nur die Quelle des Lebens sondern besitzt auch die Macht zum Tod. Die Streitkräfte des ägyptischen Pharaos werden mit ihren Schlachtrössern und Wagen von mächtigen Fluten unter sich begraben. Sie ertrinken jämmerlich. Sie gehen unter in den tobenden Wogen des Meerers.

In unserer Erzählung ist es Gott, der dem Wasser erst eine Richtung gibt, es zur Rettung und zum Tod einsetzt. Er ist der souveräne Herr der mächtigen Urgewalten, der Gutes aus einer auch zerstörerischen Macht hervorbringen kann. Hier entscheidet sich Gott gegen die Bösen Mächte -verkörpert in den Sklaventreibern Ägyptens - die er vernichtet, und für das gute, neue Leben, das in Beziehung zu ihm geführt wird, verkörpert durch das Volk Israel…

Die Prophetin Miriam hat die rettende Seite des Wassers in ihrem Leben nicht zum ersten Mal erfahren. 

Da ist ihre Erinnerung an den Tag der Errettung ihres kleinen Bruders, Mose, der als kleines Baby von der Pharaonentochter aus dem Körbchen im Nil gefischt wurde. Mose – was soviel heißt wie „Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen“ – so wird die Tochter des Pharao den kleinen Bruder der Miriam später nennen. 

Diese wunderbare Rettung des kleinen Mose wird vor allem durch die Zusammenarbeit von mutigen Frauen möglich. Mutter und Tochter, Schwestern, ob mit oder ohne Titel, alle Frauen arbeiten Hand in Hand gegen die tödlichen Gesetze der Mächtigen. 

Schon damals, versteckt im Schilf, muss in Miriam das Lied der Rettung und Befreiung aufgestiegen sein…

Denn in Moses Rettung aus dem großen Nil wird die Rettung des ganzen Volkes Israel bereits vorbereitet: Mose wird gerettet, der später sein ganzes Volk Israel aus der Unterdrückung und Sklaverei Ägyptens führen wird. Und auch das Volk Israel wird bei der Durchquerung des Meers von Gott quasi „aus dem Wasser gezogen“.

Liebe Gemeinde, 
diese Erfahrung aus der jüdischen Tradition gehört auch zu unserem christlichen Erbe. Und auch wir können heute noch in den Satz: „Gott hat mich aus dem Wasser gezogen“ einstimmen und dabei außerdem an das Wasser der Taufe denken, das uns von allen bösen Mächten und befreit hat – und zwar durch den Tod Jesus Christi ein für allemal. 

Das Wasser ertränkt unsere Sünden, wäscht alles Böse von uns ab und macht uns zu Kindern Gottes. Wir dürfen gewiss sein, dass Gott uns keine Sintflut mehr schicken wird, dass wir gerettet sind durch Gottes Liebe, die er uns in seinem Sohn Jesus gezeigt hat. 

Ist das nicht ein Grund, um in das Siegeslied der Miriam einzustimmen? „Singt dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben! Rosse und Wagen warf er ins Meer.“ (Ex 15,21) oder auch „Gott hat uns aus dem Wasser gezogen“?!

Doch mit dem Singen, liebe Gemeinde, ist das besonders im Moment ja so eine Sache. In Zeiten, in denen unsere ganze Welt vom Corona-Virus heimgesucht wird, gibt es für Gesang und Tanz auf einmal nicht mehr nur innere Widerstände, sondern auch noch äußere Hürden! 

Wie lange haben wir uns bei der Vorbereitung dieses Gottesdienstes gefragt: Wird die Gemeinde singen können? Hält das Wetter, sodass wir draußen feiern können?

Da steh ich nun als Getaufte und frage mich, warum mir so häufig nicht nach Singen und Tanzen zu Mute ist…
Ich frage mich, wo das Lied der Miriam geblieben ist. Ob Juden oder Christen oder irgendwer es heute noch singt. 
Wo ist das Lied geblieben angesichts wachsender Vereinsamung und Vereinzelung, verursacht von Corona? Wo ist das Lied in den Altenheimen und Krankenhäusern und in den Unterkünften für Obdachlosen? Wo ist das Lied bei den Alleinerziehenden, die nun – zusätzlich zur Kinderbetreuung auch noch Homeoffice machen sollen?
Wo ist das Lied der Miriam heute im Nahen Osten, im „gelobten Land“, wo neben Corona auch noch Krieg, gegenseitiges Misstrauen, politische Krisen und eine große Explosion das Leben der Menschen in ihren Grundfesten erschüttern…?

Und wo war das Lied der Miriam in der Geschichte unserer Kirche, die von Beginn an stets auf die Bekehrung der Juden zum Christentum hoffte? Auch Marin Luthers Antijudaismus stand ja bereits in einer langen Tradition der Judenverachtung, die bereits im Neuen Testament und bei den frühen Kirchenvätern ihren Anfang genommen hatte und schließlich im schrecklichen Holocaust des 20. Jahrhunderts gipfelte…
 
Wo war das Lied der Miriam denn in Auschwitz, in Treblinka, in Sobibor und wie all die anderen schrecklichen Vernichtungslager für Jüdinnen und Juden hießen? Warum war Gott nicht da, um die Menschen dort aus dem Wasser zu ziehen, um das Böse in Meeresfluten zu vernichten und das Gute zu bewahren?! Gott wo bist du und wo warst du – Retter deines erwählten Volkes, Befreier von allem Bösen!? Wo warst du, wenn nicht in den Herzen der Christen, die ihren Brüdern und Schwestern unendliches Leid angetan haben?... 

Es ist, als ob nach der großen Befreiungstat Gottes, sei es der Exodus, sei es die Taufe, ein langer Weg durch die Wüste kommt. Ein Weg mit teilweise unzumutbaren Durststrecken… Sie können so hart sein, dass sie unser Innerstes freilegen und unsere dunkelsten Seiten hervorbringen. Da sind Diskriminierung, Verfolgung, Krankheit, Missgunst, Neid, Habsucht und Rachegelüste, mit denen wir es außerhalb und innerhalb unserer Selbst aufnehmen müssen…

Auch in unserer Erzählung fallen Auseinandersetzungen zwischen Mose, Aaron und Miriam und schließlich der Tod der großen Prophetin Miriam ausgerechnet in die Zeit der Wüste. Miriams Lied ist verstummt – stattdessen erhebt sich die Totenklage, unter die sich schon bald weiteres Klagegeschrei mischt. Dem Volk Israel geht in der Wüste das Trinkwasser aus und das Überleben von Menschen und Tieren ist plötzlich bedroht. Zweifel und Unglaube kommen auf, sogar bei Mose und Aaron. Die große Befreiungstat Gottes, das Geschenk des neuen Lebens, ist in weite Ferne gerückt, ja, so gut wie vergessen. 

Und inmitten dieser Krise spricht Gott zu Mose: Nimm deinen Stab, dann versammelt die Gemeinde, du und dein Bruder Aaron, und sagt vor ihren Augen zu dem Felsen, er solle sein Wasser fließen lassen. (Num 20,7-8)

Liebe Gemeinde,
Gott kann Wasser aus dem Felsgestein unserer Herzen fließen lassen. Herzen, die immer wieder in Gefahr sind zu verhärten wie Stein. Herzen, die Gott vergessen, der uns durch das Wasser hindurch neues Leben geschenkt hat. 

Und vielleicht finden wir es wieder, in unseren Herzen, das Befreiungslied der Miriam, das wir schon ganz vergessen hatten in den Wüsten- und Corona-Zeiten unseres Lebens.

Und vielleicht gibt es uns ja die Kraft zu neuem Leben! Zur Befreiung aus unguten Beziehungen, oder aus der Angst vor einer tödlichen Krankheit oder aus Sorgen um unser Wohl an Leib und Seele auch im Blick auf unsere Kinder und Enkelkinder. Denn das Miriam-Lied erinnert uns daran, dass Gott uns Menschen nahe sein möchte, auch und besonders in den Krisenzeiten unseres Lebens. Das ist das eine.

Das andere ist, dass Miriam und ihr Lied uns Christen daran erinnert, dass die Geschichte unserer christlichen Kirche gleichzeitig und zuerst auch die Geschichte des Volkes Israel ist und dass Jüdinnen, Juden und Christinnen und Christen aus den gleichen Quellen das Wasser des Lebens schöpfen. 

Darum lasst es uns nicht vergessen, das Befreiungslied der Miriam, sondern es in unserem Herzen bewahren, damit es immer wieder neu werden kann und wir in Dankbarkeit den Weg gehen können, auf dem unser Leben zu singen beginnt!

Amen.
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