Schwarze Sonne. Karfreitagspredigt zu Lukas 23,33-45 von Charlotte Scheller

Fri, 15 Apr 2022 11:48:32 +0000 von Charlotte Scheller

Der österreichische Künstler Adi Holzer, Jahrgang 1936, ist Illustrator, Zeichner, Maler, Grafiker, Glasmaler und Bildhauer. Unser Bild ist um 1980 entstanden und wurde 1991 zum 25jährigen Bestehen der Christophoruskirche von unserer Gemeinde erworben. 
 
Von der Ostwand, aus dem Dunkel unter der Empore, ist es wieder ins Zentrum gerückt, das Bild von Adi Holzer. Hundertmal sind wir an ihm vorbeigegangen. Es ist uns vertraut und doch fremd, wie es jetzt hier vorne hängt, sich aufdrängt mit seinen Farben und Formen und Figuren. Das hat es mit der Karfreitags-Geschichte gemeinsam. Wohl hundertmal haben wir sie gehört. Sie ist vertraut und bleibt uns doch fremd. 
 
Aus dem Bild sticht die schwarze Sonne hervor. Eine schwarze Sonne, ein Unding. Weil etwas Unerhörtes geschieht. Es war schon um die sechste Stunde, berichtet Lukas, und es kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde, und die Sonne verlor ihren Schein. Sechs Stunden nach Sonnenaufgang. In mitteleuropäischer Sommerzeit ausgedrückt: Von zwölf Uhr mittags bis drei am Nachmittag bleibt es finster. Das Licht der Welt, die Gnadensonne, ist ausgelöscht. Mitten im Tag und mitten im Leben. 
 
Die Sonne wird finster. Jesus, der Menschensohn, hängt am Kreuz und stirbt. Das Bild zeigt kein Kreuz, nur einen Nagel durch die rechte Hand Jesu. Er hat eine blutige Wunde gerissen. Trotzdem wirken die Arme stark und lebendig. Erhoben wie die Arme eines Siegers. Den Kopf hält er gerade. Trägt die Dornenkrone mit der Würde eines Königs. Dünne Rinnsale laufen über sein Gesicht. Tränen oder Blut. Die Augen sind weit geöffnet, sehen in die Ferne oder nach innen. 
 
Ein Alptraum die Geschichte. Und das Bild von Adi Holzer. Viele Bilder in einem. Ein ganzes Buch. Die Zeit zerrinnt. Damals ist heute. Statt des Längsbalkens des Kreuzes ragt ein Hochhaus über den Kopf Jesu in den Himmel. Schmuddeliges Weiß. Viele Etagen. Unzählige Fenster. Antennen auf dem Dach. Welche Funkwellen sollen sie empfangen? I-N-R-I steht an der Hauswand, kaum lesbar die Anklage, die Schuld, die man Jesus vorwirft. Jesus Nazarenus, Rex Judaeorum. Jesus aus Nazaret, König der Juden. Der Grund für das Todesurteil. Höhnischer Vorwurf gegen den Aufwiegler Jesus, den Prediger und Heiler, dem so viele nachrannten. Es ließe sich auch als Bekenntnis lesen. Jesus ist König! Stellen wir uns vor, das würde an die Wände unserer Häuser gesprüht in der Theodor-Heuss-Straße, im Christophorusweg. Die einen würde es zum Spott reizen. Andere zum Nachdenken. 
 
Links neben den Stacheln der Dornenkrone, mit dünnen Strichen gezeichnet, ein Soldat mit Maschinenpistole. Er zwingt Menschen, die Arme hochzureißen. Treibt sie vor sich her. In Gefängnisse und Lager. In die Flucht. In den Tod. Rechts neben dem Hochhaus auch Striche. Ein dicker Mann mit einem Brett vor der Stirn. Mit dem rechten Auge schaut er durch ein Astloch. Mit links sieht er gar nichts. Zigarre im Mund, Telefon am Ohr, Friedhofskreuze auf dem Ärmel. Offenbar gehört der Tod zu seinem Geschäft. Neben ihm stürzt ein Flugzeug zur Erde und zieht Feuer und Rauch nach. Der Mann hat den Kopf abgewandt. Schwarz wie die Sonne sind die Flugzeuge, die Bomben abwerfen über Kiew, Charkiw, Mariupol. Aber auch über Idlib in Syrien. Der Mann schaut nicht hin, vielleicht verdient er an den Waffen, so funktioniert die Welt nun mal. Die Geschosse schlagen in den Körper Jesu ein, hinterlassen blutrote Spuren. Nun, was du, Herr, erduldet, / ist alles meine Last; / ich hab es selbst verschuldet, / was du getragen hast.
 
Wie kann Jesus das alles tragen? Folgen wir mit dem Blick seinem rechten Arm. Der führt mitten ins Bild. Da ist eine andere Gestalt. Blaues Gewand, langes Haar, die Hände ans Gesicht gehoben. Sie schaut auf den Gekreuzigten, weint über seine Schmerzen. Maria, seine Mutter. In ihrem Rücken die Schatten vieler Menschen, die Fäuste geballt, die Hände erhoben. Eltern, die wie Maria um ihre Kinder weinen. Rahel, die Stammmutter Israels, festgehalten in Yadvashem, dem Denkmal für die Kinder, die im Holocaust getötet wurden. Männer und Frauen, die unter Trümmern nach ihren Angehörigen suchen. Unter dem rechten Arm von Jesus sehen wir Maria als Pietá, wie vor Urzeiten in die Wand geritzt die Mutter, die sich über ihren toten Sohn beugt, die Arme ausgebreitet, als könnte sie ihn jetzt noch schützen und in ihrem Schoß bergen. 
 
Wie kann er all das tragen? Eine starke Linie geht durch das Bild. Vom linken Arm Jesu rechts unten über den rechten Arm durch die Mitte nach oben. Ein Bogen, der an Maria vorbei zur schwebenden Gestalt des Clowns führt. Und jetzt schauen wir uns nochmals die rechte Hand Jesu an. Jetzt schon zeigen seine Finger, wohin er geht: Drei Finger für die Dreifaltigkeit, die Vielfalt Gottes. Der Vater, zu dem du rufen kannst. Der Sohn, der jedes Leiden teilt. Der Heilige Geist, in dem seine Kraft weiter wirkt. Die Hand umschließt die Trauer, den Zorn der Gestalten in Marias Rücken. Drei Finger zeigen zum Himmel. Dort wird es hingehen mit Jesus und mit uns. Zwei Finger zeigen zu Jesus. Er ist beides, ganz und gar Mensch und zugleich Gott. 
 
Ich komme auf die Schemen zu seiner Rechten und Linken zurück. Der Soldat, der die Gefangenen vor sich hertreibt. Der dicke Mann mit dem Brett vor dem Kopf. Beide sind von Jesus abgewandt. Jesus betet am Kreuz. Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Jesus bittet für die Verbrecher rechts und links neben ihm. Aber noch andere stehen am Kreuz, in der Reichweite seines Gebetes. Die Soldaten, die ihre Befehle ausführen. Andere, die nur zuschauen. Das Gebet Jesu ist offen für alle, die sich an der Schädelstätte einfinden. Die sich nach Vergebung sehnen und kein Brett vor dem Kopf haben. Jederzeit und an jedem Ort. Auch für uns hier. Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun! Jesus geht ungefragt davon aus, dass wir Schuld haben. Er setzt sich bei Gott für uns ein, selbst wenn wir uns nicht schuldig bekennen, wenn wir nicht mal einsehen, dass wir uns von ihm entfernt haben. So grundlegend ist Gottes Vergebung, dass sie die Unfähigkeit, unsere Schuld einzusehen, mit umfasst!
 
Zwei Übeltäter rechts und links von ihm. Der eine bekennt sich. Er sagt, wir kriegen, was wir verdienen. Sicher hat er höllische Angst. Vor dem Tod und vor dem, was danach kommt. Und jetzt macht er genau das Richtige. Er vertraut sich Jesus an. Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Er legt keine Lebensbeichte ab. Spricht nicht von Reue. Aber da am Kreuz ahnt er vielleicht, wie tief er verstrickt ist in Unrecht und Schuld. Wie weit weg von Gott. Er sehnt sich nach Erlösung. Jesus, gedenke an mich! Jesus sagt: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Was der Mann getan hat, lässt sich nicht rückgängig machen. Er muss sterben. Aber Jesus verspricht ihm Zusammensein mit ihm im Paradies. Schon heute! Er muss sich nicht mehr rechtfertigen. Er darf teilnehmen an der Vergebung. 
 
Das Bild von Adi Holzer zeigt Jesus mit starken Armen. Jesus wird verletzt und belastet durch das Leiden jedes Menschen. Sei es riesengroß oder vergleichsweise klein. Jesus trägt es mit. Er hört nicht auf zu beten. Nicht mal, als er sein eigenes Leben loslassen muss. Er betet mit den Worten seines Volkes. Aus einem Psalm. Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände! So können wir auch beten, wenn wir loslassen müssen. Eine Hoffnung. Einen Traum. Einen geliebten Menschen. Sogar wenn wir unser Leben loslassen müssen. Vater, ich befehle mein Leben in deine Hände! Was kommt, weiß ich nicht. Nur, dass deine Hände mich halten. 
 
Am Ende seiner Erzählung schreibt Lukas: Und als alles Volk, das dabei war und zuschaute, sah, was da geschah, schlugen sie sich an ihre Brust und kehrten wieder um. Die Zuschauer sind zu Beteiligten geworden. Die Worte Jesu sind ihnen nahe gegangen. Aber sie bleiben am Kreuz nicht stehen. Sie gehen zurück ins Leben. 
 
Das Bild vom Sterben Jesu ist in unser Blickfeld gerückt. Am Ostermorgen werden wir uns seine Auferstehung vor Augen führen. Vielleicht sind wir Zuschauer:innen. Oder wir lassen uns beteiligen. Jetzt oder später. Wenn Gott will, nehmen wir seine Vergebung an. Bieten ihm unsere Augen an, unsere Ohren und Arme, um etwas mitzutragen von der Trauer und den Schmerzen der Menschen in der Welt. Und in unserer Nähe. Wir können unser und ihr Leben jederzeit in seine Hände befehlen. Amen. 
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