Lieblingskind. Predigt zu Genesis 50,15-21

Sat, 26 Jun 2021 14:21:56 +0000 von Charlotte Scheller

von Charlotte Scheller. Audio unter diesem Beitrag

Abschied nehmen von Vater oder Mutter ist schwer. Ein Teil des eigenen Lebens ist mit dem der Eltern verbunden. Sie waren es, die wir zum ersten Mal angelächelt haben. Die uns an der Hand nahmen, als wir laufen lernten. Auf den Armen trugen. In den Schlaf sangen. Sich um uns sorgten und für uns sorgten, so gut sie konnten. Von ihnen haben wir den Winkel des Nasenbeins geerbt, die Farbe der Augen, die Stimme und die Art, wie wir gehen. Manches davon war in den Genen. Anderes haben sie uns vorgelebt und wir haben es übernommen. Oder uns bewusst entschieden, ganz anders zu sein. Eine Reihe von Jahren haben wir mit ihnen zusammengelebt. Danach sind wir uns nahe geblieben oder haben einander auf Abstand gehalten. Haben uns gern an die Kindheit erinnert oder mit Schrecken, haben versucht zu vergessen, was uns enttäuscht und verletzt hat, oder uns ausgesprochen. Abschied zu nehmen von einem Elternteil heißt auch, den Geschwistern wieder zu begegnen oder den Verwandten. Einen gemeinsamen Weg zu finden, wie verfahren werden soll mit dem, was die Eltern hinterlassen haben. Sind wir dankbar, wenn der Vater alles geregelt hat, wenn die Mutter genau notiert hat, wie das Erbe zu verteilen ist, wie der Abschied gestaltet werden soll? Das kommt darauf an.
 
Schon in alter Zeit kam es darauf an. Unser Predigttext führt uns zu den Söhnen des Patriarchen Jakob. Sie haben ihren Vater begraben, nach einem langen Leben. In Ägypten ist er gestorben. Dahin ist er vor Jahren seinem Sohn Josef gefolgt, weil es dort Brot gab, in der Heimat herrschte Hungersnot. Auf Jakobs letzten Wunsch hin haben sie seinen Leichnam aus Ägypten nach Hause zurückgebracht und in Hebron begraben, bei seinen Vorfahren Abraham und Sara, Isaak und Rebekka. 
 
Und nun werden die Karten neu gemischt. Das Geschwistergefüge verschiebt sich, Vater Jakob fehlt. Er war der Mittelpunkt der Familie, um seinetwillen war Frieden. Die Geschwister sind auf Josef angewiesen, er hat einen einflussreichen Posten beim Pharao, dem Herrscher des Landes. Wird Josef ihnen heimzahlen, was sie ihm in der Kindheit angetan haben, jetzt, wo der Vater nicht mehr über sie wacht? Das wäre verständlich. Die Brüder haben ihm übel mitgespielt, haben ihn gehänselt und gequält. Josef war auch nicht ohne. Papas Liebling, Sohn seiner geliebten Frau Rahel, die früh gestorben ist. Josef durfte kaum von Vaters Seite weichen, war von der Feldarbeit ausgenommen, ging in Seidengewändern, hatte ein Selbstbewusstsein, das bis an den Himmel reichte. Seltsame Träume hatte das Bürschchen. In Josefs Träumen hatten sich seine Brüder vor ihm verneigt, genau wie Sonne und Mond. Daraufhin haben die Brüder ihn verkauft, heimlich, als Sklaven. Dem Vater haben sie erzählt, ein wildes Tier habe ihn zerrissen. Der Vater war untröstlich. Die Brüder waren erst ganz zufrieden. Josef war weg. Unwahrscheinlich, dass das verzärtelte Bürschchen den Karawanentrip durch die Wüste überlebt haben könnte. Aber der Vater war nicht mehr derselbe. Seine älteren Söhne konnten sich abmühen wie sie wollten, alles richtig machen, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen. Der Vater sah nur den Sohn, der nicht da war. Von dem er und alle nichts anderes denken konnten als dass er tot sein musste. Jetzt klammerte er sich an Rahels Zweiten, seinen jüngsten Sohn Benjamin. Sohn meiner rechten Hand bedeutet sein Name. 
 
Und dann das Wiedersehen in Ägypten. Meine Lieblingsgeschichte in der Kinderbibel. Wie Josef seinen silbernen Becher in das Gepäck des Jüngsten geschmuggelt hatte. Wie die Brüder nicht wussten, dass der Bevollmächtigte des Pharao, der ihnen die Getreidesäcke gefüllt hatte aus den Kornspeichern Ägyptens, Josef war. Ihr Bruder. Sie dachten, er ist tot. Nun schickte er ihnen die Soldaten Pharaos hinterher. Halt! Stehenbleiben! Gepäckdurchsuchung. Bei den Sachen des Jüngsten wird der Becher gefunden. Benjamin stand als Dieb da, er wurde festgenommen. Die Brüder zerrissen ihre Kleider, wie der Vater sein Kleid zerreißen würde, wenn sie ihm seinen Kleinen nicht wiederbrächten, den verbliebenen Sohn seiner Liebsten. Sie gingen mit ihm zurück in den Palast. Und Josef ließ sie spüren, wie es war, ausgeliefert zu sein, verraten und verkauft. So wie sie es mit ihm gemacht hatten viele Jahre zuvor. Die Brüder erkannten ihn immer noch nicht. Einer von ihnen, Juda, wollte sich statt Benjamin in Josefs Hände geben. Um dem Vater den neuen Kummer zu ersparen. Da konnte Josef nicht länger an sich halten. Er schickte alle Zuhörer aus dem Saal. Jetzt war er allein mit seinen Brüdern. Er weinte. Laut. Ich bin es, Josef, euer Bruder. Lebt mein Vater noch? Die Brüder waren sprachlos vor Schreck. Dass Josef noch lebt, dass sie nicht seinen Tod verschuldet haben, dass sie jetzt in seiner Hand sind. Bekümmert euch nicht, hat Josef damals gesagt. Um eures Lebens willen hat Gott mich vor euch her gesandt. Holt meinen Vater her. Ich will ihn und euch versorgen.
 
So kam es, dass sie ausgewandert sind nach Ägypten. Nun ist der Vater tot. Die letzten Dinge werden besprochen, sein letzter Wille muss umgesetzt werden. Es geht ums Erbe, aber nicht bloß um die Schafherden, nicht bloß um Grund und Boden und Vermögen. Jakob hat ihnen noch etwas Größeres hinterlassen: Frieden. Ob sie das Erbe annehmen und gut verwalten?
 
Am Grab des Vaters sehen die Geschwister: Was wir bis jetzt haben, ist Waffenstillstand, kein echter Friede. In unseren Herzen sind die alten Geschichten lebendig. Was uns verwehrt wurde, Anerkennung, Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit. Was wir einander angetan haben. Hochmut. Verrat. Auslieferung. Der Vater hat Frieden befohlen zwischen seinen Kindern. Sie müssen aufeinander zugehen. Der Ball liegt im Feld von Josefs Brüdern. Sie sollen laut Jakobs letztem Willen Josef um Vergebung bitten. Aber sie trauen sich nicht, selbst zu ihm hinzugehen, sie lassen ihm sagen. Im letzten Kapitel der Vätergeschichte lesen wir:
 
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als man ihm solches sagte.
Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.
 
Josef tickt anders. Wo hat er sein Selbstbewusstsein her, das abgrundtiefe Vertrauen, dass Gott es gut machen wird, seine Freiheit? Vielleicht aus der Kindheit. Aus der Erfahrung der unendlichen Liebe seines Vaters. Josef, die rechte Hand des mächtigen Pharao, ist Kind geblieben im Herzen. Er weint, lässt die Tränen fließen. Er zeigt sich verletzlich und macht sich angreifbar. Weint er aus Kummer über das Erlittene oder aus Freude über die Versöhnung, die anhält über den Tod des Vaters hinaus? Ganz sicher sehnen sich auch die Brüder nach Frieden. Und Josef, der eben noch geweint hat, tröstet sie. 
 
Josef ist das Vorbild in dieser Erzählung, diesem Roman der alttestamentlichen Weisheit. Die Geschichte ist gesammelte Erfahrung. Alltagsmenschen, die es irgendwie versuchen mit der lieben Verwandtschaft, mit Eltern und Geschwistern, mit sich selbst und mit Gott. Ein Mann, der weint. Der sein Leben in Gottes Hände legt. Der in seinen Träumen Bilder sieht, einen bunten Teppich von Möglichkeiten, die Gott eröffnet. Gott lässt ihn Wege sehen, die herausführen aus der Not. Josef bleibt Lieblingskind. Das Besondere an ihm ist seine Haltung: Der Vater wird es in Ordnung bringen. Nicht ihr. Nicht ich. Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Damit das Leben weitergehen kann. Unser Leben als Familie und das Leben unseres Volkes. Josef will es nicht allein machen. Sein Handeln speist sich aus der Güte, die Gott ihn hat erfahren lassen. Als er verraten war und verkauft, verdient oder zu Unrecht. Josef richtet nicht über seine Brüder, die Vergeltung überlässt er dem Vater im Himmel. Und Gott vergilt mit Liebe. Fürchtet euch nicht, sagt Josef zu seinen Brüdern. Ich will euch und eure Kinder versorgen. Er redet freundlich mit ihnen und tröstet sie.
 
Wunderbar, wie Josef das hinkriegt. Mir würde es schwerfallen nach alldem, was passiert ist. Mir fällt es oft schwer, obwohl ich Christin bin, über meinen Schatten zu springen und gut sein zu lassen, was schlecht für mich war. Was mich verletzt hat. Wie ist es denn, wenn ich nicht Papas Liebling war, wenn ich nicht dieses unglaubliche Selbstbewusstsein habe, das es Josef erlaubte, so gütig zu sein? Jesus hat seinen Freunden gesagt, sie sollen werden wie Kinder im Glauben. Das gilt auch uns. Wie Kinder dürfen wir alles vom himmlischen Vater erwarten. Wir sind seine Lieblingskinder, jeder und jede einzelne von uns.
 
Jesus wurde verraten und verkauft. Unverdient. Und hat doch Frieden hinterlassen nach seinem Tod. Auferweckt zum Leben in Gottes Reich, sendet er seine Leute. Er sendet auch uns, damit wir dem Leben dienen. Wo Not ist, wo Hunger herrscht, wo es fehlt an Nahrung für Leib und Seele, wo Versöhnung notwendig ist. Der Herr gedenkt es gut zu machen. Gott hat Gedanken des Friedens auch für mich. Ich darf groß träumen. Ich darf mich verletzlich zeigen. Und das Richten und Vergelten dem Vater im Himmel überlassen. So kann ich den schwierigen Begegnungen ins Auge sehen. Das Gespräch suchen mit dem Nächsten. Und das Erbe annehmen. Den Frieden, den Gott schon gegeben hat. Amen. 
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