Himmelreich und himmelarm. Predigtgedanken am 19. Juni 22, Erster Sonntag nach Trinitatis

Sat, 18 Jun 2022 15:53:12 +0000 von Charlotte Scheller

zu Lukas 16,19-31 von Charlotte Scheller
Eine Gruselgeschichte. Manchmal grusele ich mich gern ein bisschen. Abends im Garten. Die Gläser sind gefüllt. Ein Windlicht brennt. Es ist Brot da und Käse. Die Lieder sind verklungen und eine sagt: Kennt ihr die Geschichte von ...? 

Es war einmal ein reicher Mann, der kleidete sich in Purpur und kostbares Leinen und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Ein Armer aber mit Namen Lazarus lag vor seiner Tür. Der Erzähler spart nicht mit grausamen Details. Der Mann vor der Tür hat Hunger. Er kann sich nicht mehr aufrecht halten. Irgendwer hat ihn vor die Tür gelegt. Draußen. Aber in Reichweite des Wohlstands. Was er so dringend braucht, ist zum Greifen nah. Aber es fällt nichts ab für ihn. Lieber werfen sie weg, was übrig bleibt, als zu ihm zu gehen und ihm zu geben, wonach er sich sehnt. Und als ob das nicht quälend genug wäre, sind auch noch Hunde da. Der Ärmste hat überall Geschwüre. Die Hunde lecken daran und vergrößern das Elend. Hunger, Schmerzen und Scham. Der Mann mit Namen Lazarus macht das Schlimmste durch. Kein Mensch hilft. Erst der Tod bringt ihm Erlösung. Von Engeln getragen. In Abrahams Schoß gelegt. Oder an seine Brust. Er darf den Ehrenplatz einnehmen, sitzt neben dem Glaubensvater am Tisch beim großen Fest. Das Schreckliche liegt hinter ihm, all die Qualen und das Unrecht. Er ist im Himmel.

Das ist nur gerecht. Und tröstlich. Wenn das Schicksal dir böse mitspielt, wenn du zerschlagen bist, kraftlos, voller Schmerzen, wenn du draußen bleibst mit deiner Sehnsucht, am Leben teilzuhaben, wenn du irgendwann nicht mehr kannst und dein Leben zu Ende geht, dann kommen Engel zu dir. Sie heben dich auf und bringen dich direkt Gottes Nähe. Da wirst du gepflegt und getröstet. Genährt und vor allem Bösen abgeschirmt. In die Mitte genommen und als Ehrengast gefeiert.

Der Reiche stirbt auch. Purpur und Leinen und das herrliche, freudige Leben haben ihn nicht davor bewahrt. Wie wir alle nicht vor dem Sterben bewahrt werden. Er wird begraben, wie wir auch begraben werden, wenn es Zeit ist. Das Begräbnis mag feierlich gewesen sein. Aber nun sehen wir ihn wieder. In der Hölle. Da leidet er Hitze und Durst. Böse Gedanken und schreckliche Einsamkeit. Das ist auch nur gerecht. Gefeiert hat er schließlich reichlich. Nur hat er mit dem Armen auch Gott ausgesperrt aus seinem Leben. Gegen Purpur und Leinen und gutes Essen ist nichts einzuwenden aus Sicht des Erzählers Lukas. Aber es ist sehr viel einzuwenden gegen den Tunnelblick des Reichen. Indem er den Bedürftigen vor seiner Haustür übersieht, lebt er total an Gottes Reich vorbei. Der Reiche hat seinen Platz beim Fest des ewigen Lebens verspielt. Nun appelliert er an die Menschlichkeit. An den Vater im Himmel. An Abraham. Vater Abraham, erbarme dich meiner und sende Lazarus, damit er die Spitze seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge; denn ich leide Pein in dieser Flamme. Es braucht nicht viel, bloß ein paar Tropfen Wasser, Abraham soll Lazarus schicken, immer noch sieht er ihn als Untergebenen. Auch Lazarus vor seiner Tür hätte nicht viel gebraucht, bloß ein paar Brocken, die von seinem Tisch runterfielen, als er noch feiern konnte. Jetzt ist die Kluft unüberwindlich. Es gibt kein Zurück, keine zweite Chance, keine Brücke zwischen Himmel und Hölle. Der Reiche ist ohne Namen, jede von uns könnte es sein. Der Arme heißt Lazarus, hebräisch Eleazar. Das bedeutet: Gott hat geholfen. Oder: Gott hilft. Wohl eher das zweite. Denn erst jetzt hilft Gott, im Leben war er total hilflos, der arme Gotthilft. Dem Reichen hilft nach dem Leben niemand. Kein Kontakt, wie es auch im Leben keine Brücke gab zwischen den Welten.

Aber die Brüder des Reichen leben noch. Blut ist dicker als Wasser. Der Reiche sorgt sich um sie, da ist doch etwas Herz in ihm, wenigstens für seine Leute. Er möchte sie vor dem gleichen Schicksal bewahren, Lazarus soll hingehen und sie warnen, aber er kriegt wieder eine Abfuhr. Vergiss es. Selbst einer, der von den Toten zurückkehrt, würde nicht gehört. Warnungen sind unnötig. Sie werden erfahrungsgemäß auch gar nicht gehört. Die Brüder haben alles, was sie wissen müssen, um ein menschliches Leben zu führen. Mose und die Propheten. Mose hat das Gesetz gebracht, die Richtschnur Gottes für das Leben. Da ist Barmherzigkeit hineingeschrieben. Respekt vor dem Leben anderer. Atempausen in der Plackerei der Untergebenen. Schuldenerlass für Überforderte. Nächstenliebe und Demut vor Gott. Die Propheten haben Ungerechtes angeprangert. Scheinheilige Gottesdienste. Lieblose Opfer. Verantwortungslose Herrscher, die sich an ihren Schutzbefohlenen bereichern. Gott hat seine Kinder ermahnt. Bedrängt. Umworben. Ihnen gedroht, Fluten geschickt vom Himmel und Brot. Zuletzt seinen eigenen Sohn. Gott hat alles gegeben, aber sie haben nicht gehört. Gott ist treu geblieben, aber sie sind untreu geworden und haben das Recht gebrochen. Der Gute Hirte ist seinen verlorenen Schafen bis in die entlegensten Winkel nachgegangen. Für die, die sich nicht haben nach Hause holen lassen, ist es nun zu spät.

Warum erzählt Jesus das dann, und warum berichtet Lukas uns davon? Die Geschichte ist ein Alptraum. Ein Schrecken. Der kann heilsam sein. Irgendwann ist es zu spät. Deshalb nutze die Zeit. Sieh dich um. Übersieh die Nachbarin nicht. Frag nach dem Menschen neben dir. Finde heraus, was er braucht, Essen oder Medizin oder Freundlichkeit, einen Menschen zum Schweigen oder zusammen Lachen, eine Retterin in der Not.

Aber da sind so viele Arme. Direkt vor der Tür und überall auf der Welt. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Manchmal spüre ich Widerwillen, habe Berührungsangst. Ich werfe dem zerlumpten Mundharmonikamann vor dem Bahnhof schnell ein Geldstück hin, bloß nicht näher herantreten. Oft habe ich auch Angst, etwas falsch zu machen, und tu lieber nichts. Oder ich packe überall mit an, weil überall Not ist, und komme bald ans Ende meiner Kräfte. Was willst du von mir, Jesus?

Bei dem Reichen liegt nur einer vor der Tür. Den allerdings hätte er nicht übersehen dürfen. Hat er wohl auch nicht. Noch im Jenseits kennt er seinen Namen. Lazarus. „Wer ein Menschenleben rettet“, lehren die Ausleger der Tora, „dem wird es angerechnet, als würde er die ganze Welt retten“. Gott überfordert uns nicht. Wir sollen tun, was wir können. Und dazu im Namen Jesu um Kraft bitten. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Ich brauche also keine Heldentaten zu vollbringen. Was ich mit Gottes Hilfe schaffe, genügt.

In unserer Kirche, bei den Tischreden am Reformationstag 2021, war der Leiter der Göttinger Bahnhofsmission zu Gast. Einige erinnern sich. Noch besser als ein Geldstück, sagte er, ist es, wenn Sie sich einen Moment Zeit nehmen. Bringen Sie dem Musiker vor der Tür einen Becher Kaffee. Reden Sie mit ihm, und wenn es nur zwei Minuten sind. Behandeln Sie ihn als Menschen. Dann können Sie weitergehen.

Und was ist nun mit dem Zuspät? Mit der Horrorgeschichte, der Höllenvision? Sie ist ein Alptraum. Eine verrückte Vorstellung, als gäbe es Gottes Barmherzigkeit nicht. Ich denke an Jesus am Kreuz. Und an den Verbrecher neben ihm. Auch von ihm erzählt Lukas. Denk an mich, sagt er zu Jesus, wenn du in dein Himmelreich kommst. Jesus antwortet ihm: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein! Eine tröstliche Aussicht. Dennoch ist die Geschichte den Lebenden erzählt. Uns Nachfolgenden, für hier und für jetzt. Jeden Tag werde ich um Verzeihung bitten müssen, weil ich andere übersehen habe, missachtet, ungerecht behandelt. Jeden Abend kann ich Gott um Vergebung bitten für meine Blindheit den Nächsten gegenüber. Jeden Morgen will ich mich wieder in den Dienst Jesu stellen. Vielleicht kann ich einem Menschen meine Tatkraft anbieten. Oder für einen andern beten. Einen Brief schreiben. Mit jemandem weinen oder lachen. Einem Kranken vorlesen oder etwas für ihn singen. Etwas beiseite rutschen auf der Bank, damit die Nachbarin sich mit an den Tisch setzen kann. Oder einfach ein Stück mit ihr gehen und uns beide etwas vom Himmelreich ahnen lassen. Gott, öffne meine Sinne und mein Herz, zeig mir, wo du mich heute brauchst, und stärke mich. Amen.
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