Auf dem Pilgerweg. Predigt am 27.3.22 (Lätare) von Charlotte Scheller

Sat, 26 Mar 2022 13:41:18 +0000 von Charlotte Scheller

zu Psalm 84
Manche Dinge wissen wir erst richtig zu schätzen, wenn wir eine Weile darauf verzichten mussten. Vollkornbrot zum Beispiel. Handy-Empfang. Bücher. Auch mit Orten kann es uns so gehen. Der Wald und die Felder, die wir als Kind durchstreiften. Die Kirche, in der wir konfirmiert wurden oder unsere Kinder und in der wir uns schon beim Eintreten zu Hause fühlen. Der Küchentisch im Haus der Freunde, an dem wir so viel geredet und gelacht haben. Wie gerne denken wir daran. Wie lieb sind uns diese Orte geworden! Bisweilen überfällt uns die Sehnsucht, eine Art Heimweh. Das kann schmerzhaft sein, eine richtige Krankheit. Es kann aber auch eine ungeheure Kraft sein. Die schönsten Briefe werden aus Sehnsucht geschrieben. Gedichte, Lieder und Klänge. Wie lieb sind mir deine Wohnungen! Der 84. Psalm, ursprünglich ein Lied, fängt mit Sehnsuchtsworten an. Der Psalm für den Sonntag Lätare. Das kleine Osterfest. Ich habe ihn mir für heute als Predigttext ausgesucht. Er beginnt mit einer Liebeserklärung. Und mit Sehnsucht. Aber die macht den Beter nicht krank, sondern fröhlich. Die Sehnsucht bringt ihn in Bewegung, sein Leib und seine Seele gehen auf die Reise, malen sich das Ziel aus und freuen sich unbändig darauf. Der ganze Psalm ist eine Reise, ein Pilgerweg. Wir können ihn in Gedanken mit dem Beter mitgehen. An drei Stationen machen wir Halt.
 
1. Die Vorbereitung. Wohin soll die Reise gehen? Der Beter schickt seine Gedanken voraus in den Tempel in Jerusalem. Der ist sein Sehnsuchtsort. Er möchte mit anderen Pilgern in den Vorhöfen stehen. Aber nicht wie ein Tourist, um die Säulen zu bewundern oder die hohen Räume. Sondern um mit Leib und Seele nah bei Gott zu sein. Beim Herrn des Hauses. Dem lebendigen Gott. Ihm fliegen seine Gedanken zu und er kann nicht anders als sich auf den Weg machen zu seinem Haus. Gott schenkt Lebensraum in seinem Haus. Spatzen und Schwalben finden Unterschlupf im Tempel und ziehen ihre Jungen auf. In manchen Gotteshäusern sind es Turmfalken. Oder auch mal junge Tauben. In Gottes Nähe ist Heimat für seine Geschöpfe. Aber die Menschen sind herausgehoben. Gott gewährt ihnen viel mehr als Unterschlupf. Er holt sie in seine eigene Wohnung. Als Mitbewohner. Zusammenleben mit demjenigen, nach dem man sich sehnt. Das ist wirklich Grund zum Jubeln! Wohl denen, wörtlich steht da: Glückselig sind, die in deinem Hause wohnen, sie preisen dich immerdar.  
Die Sehnsucht kann einen krank machen. Oder aufbrechen lassen. Wie die jungen Eltern in Christophorus, die sich sehnten nach einem Ort, an dem ihre Kinder etwas von Gott erfahren. Beim Erntedankfest sprachen sie Diakonin Sylke Schander an und die Kirche für Knirpse entstand. Sie treffen sich noch, Eltern mit den Kleinsten in der Gemeinde, wie letzte Woche (hier) in Christophorus. Geschichten von Gott werden erzählt und gespielt. Lieder gesungen. Es gibt zu essen und zu trinken. Ein erstes Zuhause bei Gott. Der Kindergarten ist ein weiteres. Das KonfiCamp, Dreizehn- und Vierzehnjährige finden einen Rastplatz, suchen nach Lebens-Spuren in der Bibel, feiern Abendmahl, gehen Pilgerwege, möchten an keinem Abend verzichten auf das Zusammensein im Kerzenlicht mit Stille und Gebet. Glückselig, die in deinem Hause wohnen! 
 
Der Pilgerweg beginnt mit der Sehnsucht. Nach einem Ort, an dem Gottes Gegenwart spürbar ist. Nach der Nähe anderer Menschen. Nach einer Richtung und einem Ziel. Mit dem Psalmbeter haben wir uns auf den Weg gemacht. 
 
2. Der Weg durchs dürre Land. Wohl den Menschen, die dich für ihre Stärke halten und von Herzen dir nachwandeln! Jetzt kommt das Herz ins Spiel. In einer anderen Übersetzung steht: Glückselig die Menschen, die Pilgerwege in ihrem Herzen haben. Den Glücklichen ist eine Pilgerkarte ins Herz eingezeichnet. Immer, auch am entlegensten Ort, gibt es Wege zu Gottes Haus. Wieso macht das glücklich? Offenbar müssen auch Glückliche durchs dürre Tal. Bakatal heißt es im Hebräischen, darin klingt „Tränental“ an. Es liegt überall und nirgends, es ist der Ort der Gottesferne und des Todes. Den Pilgerweg im Herzen zu haben, heißt nicht, um das dürre Tal herum zu kommen. Es gibt dunkle Strecken auf unserem Weg. Nur die Sehnsucht kann uns dann leuchten. Der Schweizer Theologe Roger Schutz, Gründer der ökumenischen Gemeinschaft in Taizé, hat von einer langen Krankheitsphase in seiner Kindheit erzählt. Tuberkulose, immer wieder war er dem Tod nahe. Als Jugendlicher nennt er sich einen Nicht-Glaubenden. Seine Großmutter betet trotzdem mit ihm. Sie nimmt Flüchtlinge auf und zeichnet so einen Pilgerweg in sein Herz. Schon die Sehnsucht nach Gott, sagt er später, ist Glaube. Ich finde das tröstlich. Manchmal tappe ich auch im Dunkeln und merke erst im Rückblick, es war ein Pilgerweg, dem ich gefolgt bin. 
 
Viele sind jetzt in einem dunklen Tal unterwegs. In den Kellern der bombardierten Häuser in Charkiw und Odessa. An der Grenze zwischen der Ukraine und Polen. Auf den Bahnhöfen in Berlin, Hamburg und Hannover. Immer mehr Geflüchtete kommen in Göttingen und Umgebung an. Die Russlanddeutsche Natascha Wellmann-Rizo koordiniert im Migrationszentrum die ehrenamtlichen Helferinnen. Viele von ihnen sprechen Russisch oder Ukrainisch, manche hat selbst Flucht und Vertreibung erlebt. Sie wissen: Wenn einem im Tal der Tränen jemand entgegenkommt und einen begleitet, kann auch dort etwas wachsen. Eine Freundschaft, die über die schlimmen Tage hinaus Bestand hat. Oder eine Weggemeinschaft auf Zeit. In unserer Gemeinde gibt es viele, die anderen beistehen im dürren Tal. Männer und Frauen, die Geburtstagsgrüße in die Häuser bringen. Kranke besuchen. Trauer und Schweigen aushalten. Im Stillen beten. Zum Gottesdienst einladen, zur Männergruppe, zum Besuchsdiensttreffen. Die schützenden Gebäude erhalten und erneuern. 
 
Wenn sie durchs dürre Tal ziehen, wird es ihnen zum Quellgrund, und Frühregen hüllt es in Segen. Sie gehen von einer Kraft zur andern und schauen den wahren Gott in Zion. In schweren Zeiten wachsen wir manchmal über uns selbst hinaus, mobilisieren Kräfte, von denen wir vorher nichts wussten. Auf dem Lebensweg der Einzelnen ist das so und auf dem Weg einer Gemeinde. Ich denke an die Strecken, die wir gegangen sind seit Beginn der Pandemie. An die Freude, als wir wieder Gottesdienst feiern konnten. An die Oster-Schatzkisten und die Krippenspiele im Freien. An manches Gespräch am Telefon, an der Haustür oder beim Spazierengehen. Wir sind aufgebrochen, weil wir mussten, und haben Überraschendes entdeckt. Von einer Kraft zur andern. Der Psalmbeter schöpft allerdings nicht aus Reserven, die er in sich selbst fände. Seine Kraft kommt von Gott. Er weiß sich auf der ganzen Strecke unterwegs zu Gottes Haus. Und draußen, auf dem Weg darf er sich ebenso glücklich schätzen, als wenn er sich immerzu im Tempel aufhielte. 
 
3. Das Gebet am Ziel. Angenommen, wir sind dem Psalmbeter gefolgt auf seinem Pilgerweg. Jetzt sind wir angekommen. An unserem Sehnsuchtsort. In Gottes Haus, wo uns schon beim Eintreten das Herz aufgeht. Wir können Gottes Nähe deutlich spüren. Wir können Gottes Angesicht sehen. Gott ist wie die Sonne. Wie ein Schutzschild. Ich darf ich selbst sein vor ihm, ohne mich zu verstellen. Sein Kind, von ihm gesehen, angenommen, getröstet, geborgen. Für einen Augenblick ist Ruhe. Glückseligkeit. Aber der Tempel ist kein Aufenthaltsort auf Dauer. Auch wer Gott gesehen hat, bleibt der Erde verbunden, unterwegs zwischen Gottesnähe und Gottesferne, zwischen Fülle des Guten und Mangel am Notwendigen. „Ich glaube; hilf meinem Unglauben“. Diesen Satz ruft ein Vater, er hat einen kranken Jungen, er schreit zu Jesus, Markus berichtet davon. Jesus ist die letzte Hoffnung. Der Vater ist im Tränental unterwegs, hin- und hergerissen zwischen Hoffen und Verzweifeln. Er tut das einzig Richtige. Er bittet Jesus: Hilf mir! So können wir Gott immer bitten. Herr Gott Zebaoth, bittet der Psalmbeter am Ziel seiner Gedankenreise. Höre mein Gebet! Lass mich in deiner Nähe bleiben, auch wenn ich wieder hinausgehe. Lass mich mein Leben an deiner Gegenwart ausrichten. Selbst wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich in dein Haus gehöre. Wenn ich unschlüssig auf der Türschwelle stehenbleibe. Besser, ich schaue von weitem auf dich, als dass ich mich anderswo häuslich niederlasse, wo man von Gott nichts wissen will. Denn Glück ist aus Sicht des Glaubens kein Schicksal und kein Zufall. Glücklich ist der Mensch, der sich auf Gott verlässt! Amen. 
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