Im Zwischenraum. Predigt am 13.3.2022 von Charlotte Scheller

Sat, 12 Mar 2022 15:55:36 +0000 von Charlotte Scheller

zu Matthäus 26,36-46
43Und Jesus kam und fand die Jünger abermals schlafend, und ihre Augen waren voller Schlaf. 44Und er ließ sie und ging wieder hin und betete zum dritten Mal und redete abermals dieselben Worte. 45Dann kam er zu den Jüngern und sprach zu ihnen: Schlaft ihr nur weiter und ruht euch aus. Siehe, die Stunde ist da, dass der Menschensohn in die Hände der Sünder überantwortet wird. 46Steht auf, lasst uns gehen! Siehe, er ist da, der mich verrät.
 
Schlaf weiter, sagt sie und wendet sich wieder der Straße zu. Das Fahren braucht Konzentration. Vielleicht gut so. Der Wagen läuft, Stillstand könnte sie jetzt nicht ertragen. Die Lichter des Gegenverkehrs machen ein Perlenmeer aus der Frontscheibe. Dazu das Quietschen der Scheibenwischer, hektisch wie ihre Gedanken, das Herzklopfen, die flatternde Angst. Sie hat ihre Sorgen mit ihrem Freund teilen wollen. Ob sie noch rechtzeitig ankommen im Krankenhaus. Ob die Oma ansprechbar ist. Sie muss ihr noch so viel sagen. Die Nacht ist gegen sie. Der Regen. Die ganze Welt. Gut, dass er mitgekommen ist. Wenn er auch jetzt den Kopf ans Fenster gelehnt hat und leise schnarcht. Sie ist so verdammt allein.
 
Schlaft weiter, sagt Jesus. Sie sind im Garten. Gethsemane. Ein Zwischenraum. Nicht mehr drinnen im Saal, wo sie Abendmahl gefeiert haben, zum letzten Mal alle zusammen. Aber auch noch nicht ganz draußen, wo der Tod wartet. Er hat vorausgesagt, was kommt. Der Verrat. Die Verleugnung. Die engsten Freunde lassen ihn im Stich, überlassen ihn seinem Schicksal. Er hat es vorausgesehen, aber es anzunehmen, ist eine andere Sache. Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir! Bloß Petrus und die Zebedäus-Söhne hat er mitgenommen. Sie sind auch dabei gewesen, als er die Tochter des Gemeindevorstands vom Tod aufgeweckt hat (Mk5,37-42). Und oben auf dem Berg, wo sie so gern geblieben wären, der Alltag weit unten, nur Jesus und Mose und Elia, leuchtend, transparent für Gottes Gegenwart. Sie. Haben. Gott. Reden gehört da oben! (Mk9,2-9). Jetzt sind sie Zeugen, wie er trauert, wie er total verzagt ist. Bleibt hier bei mir! Wachet und betet! 
 
Den Freunden gilt die Bitte. Und allen Christinnen. Mehr kann man nicht tun, wenn es einem Freund so geht. Bloß dableiben und das tödliche Betrübtsein mit aushalten, schwer genug ist das. Wach bleiben mit ihm und beten. Hier sind wir, Gott. Total am Boden. Sprachlos. Hilflos. Wir verstehen die Welt nicht mehr und dich auch nicht. Quelle des Lebens? Wir merken nichts davon. Wo bist du, Gott, wo wir dich so dringend brauchen?
 
Aber die Jünger schlafen. Sie sind eingenickt im Garten. Wollen nichts vom Elend ihres Meisters wissen. Sie sind sowieso ohnmächtig. Lieber überlassen sie sich dem Schlaf, als dem Schrecklichen ins Auge zu sehen. Später, in dem anderen Garten, am Grab Jesu, am Morgen nach der Todesnacht, werden Soldaten postiert sein. Die sollen den Toten bewachen. Sie werden auch ohnmächtig sein, schlafend, wie tot vor Schreck. Weil Jesus nicht im Tod geblieben ist, sondern auferstanden ins Leben.
 
Aber jetzt sind sie hier, in dem Zwischenraum. Draußen, aber innerhalb der Einfriedung, ein Schonraum, bevor das Schicksal seinen Lauf nimmt. Wachet und betet, dass ihr nicht in Anfechtung fallt! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach. Jesus sorgt sich um die Freunde, obwohl er doch jetzt ihren Beistand bräuchte. Er sorgt sich um alle Christinnen und Christen, also auch um uns. Dass ihr nicht in Anfechtung fallt. Dasselbe Wort wie in dem Gebet, das er ihnen beigebracht hat. Und führe uns nicht in Versuchung. Anfechtung gleich Versuchung, so sieht es Matthäus. Das Schlimmste, was dir passieren kann, wenn es hart auf hart kommt. Wenn du auf der Autobahn fährst, weil deine Oma im Sterben liegt und du ihr noch nicht alles gesagt hast. Oder wenn du wach liegst, weil du die Bilder nicht aus dem Kopf kriegst von dem Kind, das rausgetragen wird aus der Geburtsklinik in Mariupol. Wenn du nicht schlafen kannst, weil der Kontakt abgerissen ist zu den Freunden in Russland und du keine Ahnung hast, wo sie sind. Dieser nächtliche Zwischenraum ist der Ort der Anfechtung. Der Versuchung, alles hinzuschmeißen und Schluss zu machen mit dem Glauben an einen Allmächtigen, der doch nicht eingreift. Wen wundert's, wenn du versucht bist, dich abzuwenden vom Vater im Himmel. Du bist so oder so allein mit all dem Schweren. Verdammt allein. 
 
Die Jünger verschlafen ihren Einsatz. Jesus bleibt wach und betet. Gott, der Allmächtige, zeigt sich nicht. Oder bloß in Jesus, einem Menschen ohne Macht. Jesus betet, wie Generationen von Männern und Frauen gebetet haben und noch beten. Du bist mein Gott, den ganzen Tag hoffe ich auf dich. Denk an deine Barmherzigkeit und Güte, die seit Ewigkeiten da sind. Sie rufen zu Gott, lehnen sich auf mit ihrem Gebet gegen ein Unheil, ein himmelschreiendes Unrecht, das Land und Leute trifft. Oder gegen ein Leid, das sie ganz allein getroffen hat. Gott im Himmel, denk doch wieder an deine Barmherzigkeit! Die Jünger schlafen, aber wir, die Leserinnen des Evangeliums, sind wach. Männer und Frauen und Kinder, die am Glauben festhalten, überzeugt oder zweifelnd, mit tausend Fragen an Gott. Wir sind Zeugen. Wir sehen, wie Jesus allein bleibt und hinfällt und betet, lass diesen Kelch an mir vorübergehen. Wir sehen, wie er am Ende sein Schicksal annimmt. Eigentlich müssten wir ihn trinken, den Kelch. Selbst die Konsequenzen tragen aus unserer Untreue uns selbst gegenüber. Aus unserer Unaufmerksamkeit für den, der neben uns leidet. Aus unserer Untreue gegen Gott. Aber nun nimmt Jesus den Kelch. Er lässt alles an sich heran, Trauer, tödlichen Kummer, Schmerzen, Alleinsein und Tod. Er erträgt das alles, damit wir nicht allein bleiben. Obwohl wir uns immer wieder tot stellen. Obwohl wir nicht wach bleiben und zu wenig beten und dem Tod viel mehr Macht zutrauen als dem Leben. 
 
Dreimal betet Jesus. Nach dem dritten Mal bittet er die Freunde nicht mehr, wach zu bleiben. Schlaft weiter, sagt er. Ihr versteht es ja doch nicht, höre ich heraus, warum ich mich ergebe, warum ich Ja sage zu dem Leiden, das jetzt kommt. Genau, denk ich, ich versteh es auch nicht, denk ich, warum du leiden musstest, Jesus, und sterben. Warum überhaupt eine leiden muss und sterben und was das alles hier soll. Aber Jesus redet weiter. Siehe, die Stunde ist da. Steht auf, lasst uns gehen! Und jetzt schlafen sie nicht mehr. Sie stehen auf und gehen. Der Verräter kommt und küsst Jesus. Die anderen laufen auseinander. Die Zeit ist gekommen. Jesus wird gefangen genommen und gefoltert und brutal ermordet und begraben. Bloß das ist nicht das Ende, denn keine Macht der Welt kann ihn im Grab halten am Ende der Nacht.
 
Wach bleiben. Wenn die Gedanken in meinem Kopf kreisen, die Schreckensbilder mich nicht loslassen, wenn eine sinnlose Wut mich umtreibt oder die Angst mich fest im Griff hat, dann kann ich mich Gott in die Arme werfen. Kann dem Herrn im Himmel meine Ohnmacht klagen. Kann ihn anflehen, stumm oder mit den alten Worten: Denk an deine Barmherzigkeit. Sei bei denen, um die ich mich sorge. Sei bei mir, wie auch immer mein Weg weitergeht. Lass mich wach bleiben für die Not der Menschen in meiner Nähe und für die, die weit weg sind von mir. Gib mir Mut, aufzustehen gegen das Unrecht, und Ausdauer, um für den Frieden zu beten. 
 
Wach auf, sagt sie zu ihrem Freund, wir sind da. Er fährt aus dem Schlaf hoch. Das Motorengeräusch ist verstummt. Auch der Regen hat aufgehört. Los, gehen wir, sagt sie ruhig. Es ist schon Morgen. Amen.
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