Wo soll das Brot herkommen? Predigt zum Erntedankfest

Sat, 03 Oct 2020 13:58:58 +0000 von Charlotte Scheller

zu Markus 8,1-9 von Charlotte Scheller
Liebe Bewohnerinnen und Bewohner, liebe Gemeinde, Wein soll des Menschen Herz erfreuen. Öl sein Gesicht schön machen und leuchten lassen. Brot sein Herz stärken. Könnte es jemand besser mit uns Menschenkindern meinen als unser Gott?
 
Was es heißt, kein Brot zu haben und nichts zum Drauftun, wie es sich anfühlt, nicht satt zu werden, haben viele von Ihnen in der Kriegszeit erfahren. Oder in den ersten Jahren nach dem Krieg. Einige haben Hunger erlebt. Das Gefühl, hungrig schlafen zu gehen und hungrig wieder aufzuwachen. Andere sind halbwegs satt geworden. Aber sie haben trotzdem auf vieles verzichten müssen. Schokolade. Für meine Mutter etwas, das sie als Kind nur vom Hörensagen kannte. Weene man nicht, sang die alte Kinderfrau. Im Ofen sind Klüten, die siehste bloß nicht. Nun weine doch nicht. Im Ofen sind Klöße, die siehst du bloß nicht. Heute werden wir satt und können darüber hinaus vieles genießen. Brot, Käse und Wein, Kaffee und Schokolade. Manchem ist es dennoch nicht selbstverständlich geworden und die meisten von uns können kein Brot wegwerfen. Weil es kostbar ist. Weil es mehr ist als nur Brot. Es ist Leben. 
 
Von Menschen, die hungrig sind und satt werden, erzählt auch unser Predigttext aus dem Markusevangelium. 
 
Zu dieser Zeit war wieder eine große Volksmenge bei Jesus zusammen-gekommen. Da die Menschen nichts zu essen hatten, rief Jesus die Jünger zu sich. Er sagte zu ihnen: „Die Volksmenge tut mir leid. Sie sind nun schon drei Tage bei mir und haben nichts zu essen. Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke, werden sie unterwegs zusammenbrechen – denn einige sind von weit her gekommen.“ 
 
Seine Jünger antworteten ihm: „Wo soll in dieser einsamen Gegend das Brot herkommen, um diese Leute satt zu machen?“  Und er fragte sie: „Wie viele Brote habt ihr?“ Sie antworteten: „Sieben.“ Und er forderte die Volksmenge auf, sich auf dem Boden niederzulassen. Dann nahm er die sieben Brote. Er dankte Gott, brach sie in Stücke und gab sie seinen Jüngern zum Verteilen. Und die Jünger teilten das Brot an die Volksmenge aus. Sie hatten auch noch einige kleine Fische. Jesus sprach das Segensgebet über sie und ließ sie ebenfalls austeilen. Die Menschen aßen und wurden satt. Danach sammelten sie die Reste und füllten damit sieben Körbe. Es waren etwa viertausend Menschen. Jetzt schickte Jesus sie nach Hause. (Markus 8,1-9 BasisBibel-Übersetzung)
 
Warum sind die Leute schon drei Tage bei Jesus? Das wird nicht erzählt. Bloß, dass sie Hunger haben. Tagelang sind sie schon in seiner Nähe. Um zu hören, was er von Gott redet. Um ihm ihr Leid zu klagen oder ihn um Heilung zu bitten für ein Leiden. Um sich die Last einer Schuld abnehmen zu lassen. Oder damit er sie segnet. Ich stelle mir ein großes Treffen vor, wie es im Moment, „coronabedingt“, nicht möglich ist. Einen Kirchentag. Ein Sportfest mit viertausend Zuschauern. Oder ein Lager, Vertriebene, die nicht wissen, wohin, Geflüchtete. Drei Tage ohne Essen – kaum vorstellbar. Und doch kann es so gewesen sein damals, als die Leute um Jesus herum waren. Neunzig Prozent der Bevölkerung des Heiligen Landes sollen gehungert haben zur Zeit Jesu oder Armut gelitten. Wo soll in dieser einsamen Gegend, in dieser leidvollen Zeit etwas zu essen herkommen?

Jesus hat sich zurückziehen wollen an einen einsamen Ort. Aber die Menge der Leute ist ihm gefolgt. Sie sind bedürftig. Sehnen sich nach Aufmerksamkeit. Nach Gottes heilsamer Gegenwart. Jesus weist sie nicht ab. Er spricht mit ihnen. Er denkt nicht an seine eigenen Bedürfnisse. Er hat Mitleid mit den Hungrigen, die bei ihm ihr Heil suchen. Und genau an diesem Mitleid können wir das Besondere an Jesus erkennen. Sie sind nun schon drei Tage bei mir und haben nichts zu essen. Wenn ich sie hungrig nach Hause schicke, werden sie unterwegs zusammenbrechen – denn einige sind von weit her gekommen.“ Mitleid, das hat für uns vielleicht einen herablassenden Klang, aber so ist das nicht gemeint. In der englischen Bibel steht „compassion“, also wenn du wirklich leidest mit einem anderen. Jeder, der schon mal richtig gelitten hat, also jeder und jede hier, weiß, manchmal ist das das Einzige, was hilft. Du bist untröstlich, aber da ist einer, der deine Tränen sieht und sich nicht zurückzieht und dich nicht spüren lässt, dass er selbst viel um die Ohren hat, sondern einfach bei dir bleibt. Beim Aufstehen morgens zum Beispiel, wenn einem alles weh tut. Das Herz. Weil man den liebsten Menschen vermisst und keinen Sinn sieht in dem neuen Tag. Der Rücken. Weil man schon so viel hat tragen müssen und nun müde ist, sogar morgens schon. Die Augen. Weil man sie am liebsten verschließen möchte vor den Herausforderungen des Tages. Oder vor den Nachrichten im Fernsehen. 
 
Jesus sagt: „Die Volksmenge tut mir leid“. Die Armen haben sich um Jesus versammelt. Männer, Frauen und Kinder, die nicht mal das Nötigste haben. Wenn er sie nach Hause schickt, haben sie da auch nichts. 
 
Das Mitleid der Jünger hält sich in Grenzen. Sie sind ganz vernünftig. Wo soll in dieser einsamen Gegend das Brot herkommen, um diese Leute satt zu machen? Und Jesus tut jetzt kein Wunder. Er zaubert kein Brot herbei. Er stellt die Gegenfrage: Wie viele Brote habt ihr? Sieben. Sie haben sieben Brote und ein paar Fische. Ein Witz, wenn man bedenkt, dass viertausend Leute da sind. Mehr als dreimal so viele wie in unsere Göttinger Stadthalle gepasst haben vor der Sanierung und vor Corona. Aber Jesus fordert sie auf, Platz zu nehmen. Sie sitzen überall auf dem Boden. Wie in einem Flüchtlings-Treck. Sie sitzen da und Jesus nimmt die Brote. Er dankt Gott für das, was da ist, und bricht die Brote in Stücke und gibt sie den Jüngern. Die verteilen sie an die Leute und alle werden satt. Viertausend sind da. Nicht dreißig oder vierzig. Stellen Sie sich hundert Gottesdienstgemeinden wie diese hier vor.
 
Jetzt könnte man diskutieren, wie das denn gehen konnte. Ob es wirklich ein Wunder war oder ob alle ihre Taschen nach Essbarem durchkämmt haben, zusammengelegt und dann geteilt. Was ja auch schon ein Wunder wäre! Ich glaube allerdings, dass es darum nicht geht. Ja, es geht um Essen in der Geschichte, aber nicht nur. Die Brote und Fische sind ein Bild für Barmherzigkeit. Für ein Mit-Leiden in der Weise, dass sich für beide was ändert. Dabei geht es nicht nur um Essen. Auch um Zuhören. Um Hochachtung vor dem Leben und der Würde des Menschen, mit dem ich es zu tun habe und der etwas braucht. Ein Stück Brot oder ein freundliches Wort. Wie es im Luisenhof dauernd hin- und hergegeben wird. Mindestens viertausend Mal am Tag. 
 
Keiner von uns ist Jesus. Seine Jüngerinnen und Jünger waren nicht immer die mutigsten. Trotzdem beauftragt Jesus sie. Am Abend dieses Tages sollen sie verteilen, was da ist. Sie sollen dableiben, wenn es dunkel wird für einen andern. Sie sollen die Hoffnung weitertragen. Den Glauben, dass Gottes Liebe stärker ist als der Tod. Hoffnung ist auch eine Nahrung. Deshalb erzählen wir die Geschichte weiter von den Viertausend in der Wüste, die Hunger hatten und satt wurden. 
 
Beispiele aus unserer Zeit gibt es viele. Praktikantin Anne Schlüter hat in ihrem Costa-Rica-Vortrag von einer Gemeinde in Kuba erzählt. In den Läden gibt es nichts. Wie hier nach dem Krieg. Die Leute sind arm. Wir machen jetzt Speisung der Viertausend, hat die Gemeindeleitung gesagt. Sie haben einen großen Tisch in die Mitte gestellt. Alle haben mitgebracht, was sie Essbares finden konnten. Ein Stück Brot. Eine Dose Bohnen. Eine Ananas. Jeder hat etwas anderes aufbewahrt. Jede hat was beigesteuert, sei es auch noch so wenig. Kein Festessen, aber sie werden alle satt. Sie halten zusammen im Leiden. Die Gemeinschaft hilft. 
 
Und wenn ich nicht glauben kann, wenn ich selber keine Hoffnung habe, wenn ich all die schönen Geschichten höre und denke: Wo soll hier, in der Einsamkeit, Trost herkommen? Dann bin ich in bester Gesellschaft. Mit Petrus, Johannes, Maria und den anderen Jüngerinnen. Sie denken auch, was wir haben, reicht doch nicht. Was ich gebe, ist bloß ein Tropfen auf dem heißen Stein. Aber das Wenige, was sie bei sich finden können, halten sie Jesus hin. So können wir es auch machen. Etwas hat jeder von uns zu verschenken. Ein Wort. Einen Gedanken. Ein Lächeln. Ein Stück Schokolade. Eine Sehnsucht! Was wir haben, können wir Gott hinhalten. Alle Not in seine Hände legen und jedes kleinste Fünkchen Hoffnung. Aus dem, was wir Gott hinhalten, wird er mehr machen. So viel, dass es uns selbst erfüllt und andere mit uns. 
Quelle: Charlotte Scheller
Anne Schlüter berichtet von ihren Erfahrungen an der Universita Biblica in Costa Rica
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