Alles, was recht ist. Mittwochsgedanken von Charlotte Scheller

Wed, 27 Oct 2021 18:22:15 +0000 von Charlotte Scheller

zu Matthäus 5,41-42 von Charlotte Scheller
 
„Möchtest du das Öl auf der Hand spüren oder auf der Stirn?“ fragt die Mitarbeiterin. Der Bewohner sieht sie nicht an. Antwortet nicht. Ich fühle mich kurz unbehaglich. Niemand muss das, sage ich verlegen, aber sie bleibt stehen mit dem Olivenöl an ihrer Zeigefingerspitze und schaut ihn ruhig an. „Oben“, kommt es schließlich von ihm, leise und deutlich, und sie streicht ihm das Öl auf die Stirn. „Gott will, dass es dir gutgeht“, sagt sie dazu. 
 
Ein Augenblick des Miteinanders in der Diakonie. Teilhabe nennen die Fachleute das. Die Menschen, die hier wohnen, haben das Recht, maximal selbst über ihr Leben zu bestimmen. Diejenigen, die hier arbeiten, haben die Pflicht, ihnen das, soweit es geht, zu ermöglichen. Auch in unserem Kindergarten wird Teilhabe gelernt. Zum Beispiel indem der Vierjährige ermutigt wird, aus dem Fenster zu schauen und dann selbst zu entscheiden, was er anzieht, wenn er zum Spielen rausgeht in den Regen. Vorausgesetzt, er hat Wechselklamotten im Schrank.
 
Die Teilhabe ist zutiefst im jüdischen Glauben verankert. Zum Kern des jüdischen Lebens gehört Zedaka. Das bedeutet Wohltätigkeit. Ursprünglich heißt Zedaka aber „Gerechtigkeit“. Mit dieser Grundeinstellung ist mehr gemeint als Almosengeben oder Wohltätigsein. Vielleicht sogar Anderes. „Wohltätigkeit“ sagt etwas über den Gebenden aus. Er ist ein großzügiger Mensch. Er kann es sich leisten. Aber „Gerechtigkeit“ sagt etwas über den Empfangenden. Ihm geschieht, was Gott für ihn will. Sie bekommt, was ihr nach Gottes Willen zusteht. Teilhabe. Maximal selbstbestimmtes Leben. Das dem Menschen neben dir zu ermöglichen, ist nicht Zeichen eines edlen Charakters. Es ist auch nichts Freiwilliges. Es ist die Pflicht jedes Glaubenden.
 
In der Heiligen Schrift, im fünften Buch Mose, wird das so begründet: »Wenn unter dir ein Bedürftiger sein wird, irgendeiner deiner Brüder, in einem deiner Tore, in deinem Land, das Er, dein G’tt, dir gibt, verfestige nicht dein Herz. Verschließe nicht deine Hand vor deinem bedürftigen Bruder. Nein, öffnen sollst du – öffne du ihm deine Hand! Leihen sollst du – leihe du ihm genug, woran es ihm mangelt« (5. Mose 15,7–8). 
 
Das passt zum Evangelium des vergangenen Sonntags. Der Jude Jesus sagt, wo es für seine Leute langgeht: „Wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will“ (Mt5,41f). Eine Meile oder zwei. Von der Christophoruskirche bis nach St. Petri, das wäre eine Meile, oder noch weiter bis zum Luisenhof, das wären zwei. Wenn ich mitgehe mit einem anderen Menschen, gehen wir nebeneinander. Haben denselben Weg, dasselbe Ziel. Kann ich ihn nach Hause begleiten, ihm etwas abnehmen von dem Gepäck, das ihm auf der Schulter liegt oder auf der Seele? Kann ich ihr etwas borgen von dem Geld in meinem Portemonnaie, von meiner Zeit, oder ihr meine Stimme und meine Zuversicht ausleihen? 
 
Wenn das so ist, geschieht das nicht aus Großzügigkeit meinerseits. Sondern weil Gott es so will. Weil der Schöpfer des Himmels und der Erde für jedes seiner Menschenkinder ein erfülltes Leben für richtig hält. „Wenn immer wir Wohltaten erweisen“, schreibt der jüdische Gelehrte Dr. William Stern über die Zedaka,„dann gehört das Geld, das wir geben, eigentlich gar nicht uns. Zwar könnte man wohl argumentieren, wir hätten es selbst verdient. Dennoch sollen wir uns nicht einbilden, dass es (...) „meine Kraft und die Stärke meiner Hand“ war, „die mir dieses Vermögen eingebracht hat“. Wenn der Herr uns mit Wohlstand segnet, meint Stern, sollen wir zu seinen „Agenten“ werden und mithelfen, den Plan des Schöpfers zu verwirklichen und den Menschen und der Welt ringsum Nutzen zu bringen. Das geschieht nicht freiwillig, ist keine persönliche Entscheidung, auch keine aus Nächstenliebe, es ist Gottes Gebot. 

In der ARD lief am Montag die Reportage „Schalom und Hallo“. Jüdisches Leben in Deutschland. Der Film lässt uns in ein Altenheim schauen. Die pflegebedürftigen Bewohner/innen haben nach dem zweiten Weltkrieg die jüdische Gemeinde mit aufgebaut. Nun ist es Aufgabe der Pflegekräfte, ihnen zu ermöglichen, am Alltag teilzuhaben. Dazu gehört, dass sie das Gemeindeleben ins Haus holen. Gottesdienste. Lesungen. Musik. Das ist Zedaka. Gerechtigkeit bedeutet, dass die Beziehungen stimmen. Zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mensch und Gott. Wenn wir mit dem Herrn im Himmel leben, stehen wir ihm zur Verfügung. Mit seiner Hilfe, als seine geliebten Kinder tun wir, was wir können, um bedürftigen Mitmenschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Sei es, dass wir ruhig warten, bis wir herausgefunden haben, was der Andere jetzt möchte. Öl auf die Stirn, ein Segenswort oder seine Ruhe. Sei es, dass wir eine unübersichtlich lange Strecke mitgehen.
 
Gott will, dass allen Menschen geholfen wird. Er wird vollenden, was wir beginnen. Halten wir also Ausschau nach dem Mitmenschen, der uns heute braucht, um selbstbestimmt und im Frieden zu leben. Oder nach der Nachbarin, der wir Gelegenheit geben können, ihre Pflicht zu tun. Damit es gerecht zugeht in Gottes Welt.
 
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